10. Okt 2022
Demonstrationsbeobachtung / Versammlungsrecht / Antimilitarismus

Polizei.Macht.Eskalation. - Bericht zur Demonstrationsbeobachtung der Aktionstage von „Rheinmetall Entwaffnen“ in Kassel

Anlässlich der Aktionstage des Bündnisses „Rheinmetall Entwaffnen“ war das Komitee für Grundrechte und Demokratie mit vier Demonstrationsbeobachter*innen vor Ort und hat das Protestgeschehen in Kassel vom 1. bis 3. September begleitet. Dieser Bericht fasst die Demonstrationsbeobachtung zusammen und beinhaltet die Vorberichterstattung, die Beobachtungen vor Ort und unser Fazit daraus.

1. Vorwort

[Der vollständige Bericht mit Verweisen und Fußnoten steht unten als PDF zum Download bereit]

Die erste Idee für die Beobachtung kam bereits im Frühjahr 2022 auf –  als durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine breite Debatte in der Öffentlichkeit zur Rolle deutscher Rüstungsindustrie begann und davon auszugehen war, dass die zivilgesellschaftlichen Proteste gegen mehr Investitionen in die Bundeswehr und Waffenproduktion in der Mobilisierung von „Rheinmetall Entwaffnen“ einen Höhepunkt haben könnten. Neben der inhaltlichen Relevanz des Themas trug auch der Umstand zu der Entscheidung bei, dass vergangene Aktionen des Bündnisses durch starke Polizeipräsenz und schwerwiegende Repression im Nachgang begleitet wurden.

Wir haben insgesamt vier Versammlungen und das Protestcamp in der Goetheanlage beobachtet. Eine Herausforderung für die Beobachtung war, dass es zu einigen spontanen und nicht angekündigten Versammlungen gekommen ist, so dass wir bei einigen Situationen zeitverzögert oder gar nicht zugegen waren. Aber dies ist natürlich Teil einer gelebten Ausübung des Versammlungsrechts, welche wir sehr begrüßen.

Während unserer Beobachtungen waren wir mit orangefarbenen Westen gekennzeichnet, auf denen „Demo-Beobachtung“ stand. Zudem trugen wir einen sichtbaren Ausweis mit Grundrechtekomitee-Logo. Wir haben während der Beobachtungen teilweise Fotoaufnahmen von der Polizei gemacht, jedoch keine Filmaufnahmen – weder von Polizist*innen noch von Demoteilnehmer*innen. Weitere Personen, die teilweise während Versammlungen vor Ort waren, gelbe Westen mit der Aufschrift „Demobeobachtung“ trugen und mittels einer Videokamera filmten, waren nicht Teil unserer Beobachtungsgruppe.

Wir haben eindrückliche Tage in Kassel verbracht. Mit unserer Rolle als Demonstrationsbeobachter*innen haben wir die Haltung des Komitees für Grundrechte und Demokratie zum Ausdruck gebracht: Die Versammlungsfreiheit gehört zu den wenigen im Grundgesetz verankerten Möglichkeiten unmittelbarer, gelebter Demokratie. Die Möglichkeit, sich kollektiv öffentlich zu versammeln und dabei die Art der Meinungskundgabe thematisch und formal selbst zu bestimmen ist für unser Demokratieverständnis von zentraler Bedeutung. Dieses Recht gilt es zu schützen und sich aktiv dafür einzusetzen.

Die Demonstrationsbeobachter*innen: Beate Aßmuß, Kai Jes, Michèle Winkler und Tina Keller

2. Im Vorfeld

Bereits im Frühjahr wurde begonnen, für die Aktionstage und das Camp durch das Bündnis „Rheinmetall Entwaffnen“ zu mobilisieren. Es fanden im Verlauf der Monate bundesweit Mobilisierungsveranstaltungen statt. Wenige Wochen vor den Aktionstagen rechneten die Organisator*innen mit einigen hundert Teilnehmer*innen.

Während das Thema der deutschen Aufrüstung und Waffenproduktion/-lieferung seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine immer präsenter wurde, war die Berichterstattung über den sich formierenden Widerstand in Kassel relativ überschaubar. Auch wenige Tage vor Campstart gab es im Gegensatz zu anderen großen linken Mobilisierungen keine abschreckenden Gefahrenprognosen und -warnungen. Es gab kaum Informationen über den geplanten Polizeieinsatz; auch auf Nachfragen bei der zuständigen Polizeidienststelle erhielten wir nur die Standardantwort, dass man gut vorbereitet sei und genug Einheiten hätte, um flexibel auf die Situation reagieren zu können.

Ein wenig Aufregung erzeugte ein Design des Mobilisierungsmaterials, welches sich der Grafikelemente der offiziellen Documenta Fifteen bediente; blieb jedoch ohne rechtliche Folgen. Und auch sonst war die Documenta prägend für die Aktionstage – Kassel war Anziehungsmagnet für viele internationale Besucher*innen; die Stadt belebter als in anderen Jahren.

Wir hatten im Vorfeld mit den Veranstalter*innen der Proteste Kontakt aufgenommen, um unsere Arbeit vorzustellen. Auch haben wir der zuständigen Polizeidirektion postalisch unsere Beobachtung angekündigt.

3. Beobachtungen während der Aktionstage

3.1 Camp in der Goetheanlage

Das Bündnis Rheinmetall Entwaffnen veranstaltete vom 30.08. bis 4.09.2022 ein Camp mit bis zu 500 Teilnehmer*innen unter dem Namen „Krieg beginnt hier! Rheinmetall Entwaffnen!“. Dies fand als angemeldete Versammlung in der Goetheanlage in der Nähe des Fernbahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe statt.

Als Beobachter*innen waren wir innerhalb unseres Beobachtungszeitraums täglich am Camp in der Goetheanlage. In den meisten Situationen fanden wir keine Polizei in direkter Nähe zum Camp-Eingang vor. Allerdings berichtete uns eine der Campveranstalter*innen, dass die Versammlungsbehörde und die Polizei an mehreren Tagen auf dem Gelände gewesen sei. Zudem teilte sie uns mit, dass auch während einiger Nächte Polizeiwägen vorbeifuhren und mittels Seitenscheinwerfern das Camp ausgeleuchtet hätten. Tagsüber konnten wir nur beobachten, wie vereinzelt Polizeifahrzeuge vorbei fuhren. Wenn Campteilnehmer*innen von Demonstrationen ins Camp zurückkehrten, wurden sie teilweise bis zum Eingang begleitet. Am Freitagmorgen, stellten die Beamt*innen eine Art Spalier vor dem Eingang, durch welches die Demonstrierenden hindurch mussten. Soweit wir wissen, fanden keine Personenkontrollen bei der An- oder Abreise vom Camp statt. Ein Hubschrauber kreiste in den frühen Morgenstunden des Freitag und Samstag über dem Camp.

Wir erlebten keine polizeiliche Belagerung des Camps, wie es bei anderen politischen Camps üblich ist. Die Versammlungsfreiheit konnte hier recht problemlos wahrgenommen werden. Diesem Eindruck am Camp selbst stehen die juristischen Auseinandersetzungen um die Campfläche im Vorfeld entgegen.

Die Veranstalter*innen hatten das Camp im März 2022 bei den zuständigen Behörden – in diesem Fall dem Ordnungsamt Kassel/Versammlungsbehörde – angemeldet. Von dort hatten sie zunächst bis Mitte August nichts gehört. Nach einer E-Mail mit Nachfragen seitens der Behörde erging am 23.08.2022 die Auflagenverfügung, in welche der Campzeitraum bestätigt, der Zeitraum des Auf- und Abbaus jedoch stark eingeschränkt wurde. Laut erster Verfügung sollte dieser erst am Tag des Campbeginns starten dürfen – also am 30.08.2022 ab 16 Uhr. Nach einem Anruf durch die Versammlungsanmelderin bei der Behörde erging noch am selben Tag eine geänderte Verfügung, welche den Aufbau früher genehmigte, jedoch weiterhin kürzer veranschlagte als angemeldet – nämlich auf Montag 29.08.2022 ab 8:00 Uhr statt Samstag, 27.08.2022. Auch der Abbauzeitraum wurde auf Sonntag, 05.09. statt auf Montag, 06.09.2022 verkürzt.

Gegen diese und zwei weitere einschränkende Auflagen reichte die Versammlungsleitung per Anwalt am 24.08.2022 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz am Verwaltungsgericht Kassel ein. Neben der Auf- und Abbauzeit, welche mit der Kürzung massiv in die Ausgestaltung der eigentlichen Versammlung eingegriffen hätte, sollte dieser Antrag auch die Auflagen des Vermummungsverbotes im Camp sowie die Auflage unflexibler Beschallungszeiten angreifen.

Das Verwaltungsgericht Kassel bot daraufhin einen Vergleich an, auf den sich letztlich beide Parteien einließen. Dieser sah eine verlängerte Aufbauphase sowie das Streichen der Auflage des Vermummungsverbotes und eine Flexibilisierung der Beschallungszeiten vor. Die Aufbauarbeiten, die dadurch zumindest am Sonntag, 28.08.2022, stattfinden konnten, zogen allerdings Beschwerden der Nachbar*innenschaft nach sich, weil es sich um lautere Arbeiten an einem Feiertag handelte.

Etwa drei Wochen nach der Beobachtung erfuhren wir davon, dass gegen die Anmelderin des Camps ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet wurde. Als Begründungen hierfür werden u.a. das Befahren der Campfläche durch PKW, das Anbringen von Material an städtischem Eigentum (Bänke, Bäume etc.) und das Freilaufen eines Hundes angeführt.

3.2 Donnerstag, 01.09.2022 – Das „Die-In“ vor der Deutschen Bank Filiale Friedrichsplatz

Gegen 15:15 Uhr verließen circa 30 Personen das Camp in der Goetheanlage. Gemeinsam mit ihnen machten wir uns mit der Straßenbahn auf den Weg in die Stadt. An der Haltestelle Friedrichsplatz stiegen alle aus und gingen langsam in Richtung der Straße „Friedrichsplatz“. An der sich dort befindenden Deutsche Bank Filiale legten sich etwa 15 Personen auf den Boden; andere hielten Banner und eine weitere Person hielt eine Rede durch ein Megafon.

Nach wenigen Augenblicken kamen zwei Mitarbeitende der Filiale und sprachen mit den Demonstrierenden. Danach griffen sie zum Telefon und kurze Zeit später erschienen fünf Polizeibeamt*innen der hessischen Polizei. Sie trugen Helme an den Seiten ihrer Uniform. Um 15:40 Uhr, noch während die Mitarbeitenden mit den Beamt*innen darüber diskutierten, wie das weitere Vorgehen sein müsste, standen die Personen vor der Filiale bereits auf und entfernten sich vom Ort des „Die-In“. Bei ihrem Weg durch die Stadt wurden sie von den bereits anwesenden fünf Polizist*innen sowie weiteren vier Beamt*innen, die noch eintrafen, in schneller Geschwindigkeit verfolgt. Nach einer Weile verstreute sich die Gruppe der Demonstrierenden, sodass auch die Polizei ihnen nicht mehr folgte.

3.3 Freitag, 02.09.2022 – Aufzug nach den Blockaden am Morgen

Gegen 4:00 Uhr am Morgen des Freitags, hörten wir zum ersten Mal einen Hubschrauber über Kassel kreisen. Gegen 5:30 Uhr finden wir auf Twitter Informationen über eine bzw. zwei Blockadepunkte im Bereich Wolfhager Straße/Schillerstraße an einem Standort von Krauss-Maffei Wegmann (KMW). Auf diese werden wir in Punkt 4.3 weiter eingehen. Wir machten uns auf den Weg und lasen unterwegs, dass es Polizeigewalt gegeben haben soll und dass sich ein Blockadepunkt aufgrund der Nachricht, dass KMW an diesem Freitag nicht arbeiten würde, bereits auflöste. Gegen 06:45 Uhr trafen wir auf der Wolfhager Straße Höhe Hausnummer 69 ein. Es handelte sich um eines der Zugangstore zu dem Standort von KMW. An diesem schien vorher ein Blockadepunkt gewesen zu sein. Als wir eintrafen, sind dort etwa 200 Demonstrierende und ca. 40 Polizist*innen aus Hessen, die die Gruppe teilweise filmten. Es schien als wären gerade die Demonstrierenden der Schillerstraße zu diesem Tor herübergekommen, um sich gemeinsam auf den Rückweg zum Camp zu machen. Der Demonstrationszug setzte sich sehr schnell Richtung Innenstadt in Bewegung und wurde dabei an allen Seiten von den Beamt*innen und mindestens vier Einsatzwägen begleitet. Zuerst gegen 06:50 Uhr; dann erneut gegen 07:05 Uhr, hörten wir die Durchsagen der Polizei, dass sich die Versammlung in einen Aufzug verwandelt hätte und nach einer verantwortlichen Person gesucht würde, um den weiteren Verlauf miteinander abzusprechen, und „um das Recht auf Demonstration und freie Meinungsäußerung wahrnehmen zu können“. Gleichzeitig liefen Polizist*innen nah an den Demozug und filmten hinein. Die Polizei wurde vom Lautsprecherwagen aufgefordert, sich aus der Demonstration zurückzuziehen. Indes bog die Demonstration in die Untere Königsstraße ein und ging weiter Richtung Fußgänger*innenzone.

Um 7:10 Uhr passierte die Demonstration den Platz Am Stern. Es wurden rote, grüne und gelbe Rauchtöpfe gezündet. Die Situation wurde leicht undurchsichtig, da sowohl die Straße als auch der Fußweg sehr eng sind und auf rechter Seite der Demonstration ca. 30 Polizist*innen an den Block eilten, aus dem der Rauch aufgestiegen ist. Kurz darauf zogen sich die Beamt*innen Helme auf und gingen in den Block – es wurde geschoben und an einem Banner gezogen. Die Demonstration lief weiter bis sie gegen 7:15 Uhr auf dem Königsplatz ankam und dort kurz stoppte. Auf dem Platz standen etwa 20 Polizeifahrzeuge und Gruppen behelmter Polizei. Während sich die Demonstration weiter in Richtung Wilhelmshöher Allee bewegte, hatten wir den Eindruck dass die Beamt*innen nach den Personen suchten, die die Rauchtöpfe gezündet hatten. Es wurde durch eine Einheit „Beweissicherung“ (BeSi) gefilmt und von Erhöhungen in die Demonstration geschaut. Zudem kreiste erneut ein Hubschrauber über uns. Auf der Wilhelmshöher Allee wurde der Demonstrationszug von einem lockeren Spalier begleitet. Auf der linken Seite allerdings waren Polizist*innen inmitten der Menge der Demonstrierenden; ein Beamter lief einmal quer hindurch, was Protest nach sich zog.

Gegen 07:40 Uhr zogen die Polizist*innen ihre Helme ab. Etwa 15 Gehminuten später waren wir an der Berlepschstraße angekommen, die eine der Zuwege zum Camp bildete. Dort stellten sich die Polizei-Einsatzkräfte direkt vor dem Camp-Eingang als Spalier auf, welches die zurückkehrenden Demonstrationsteilnehmer*innen durchschreiten mussten. Die Polizei folgte ihnen nicht aufs Campgelände.

3.4 Freitag, 02.09. - Kundgebung am Struthbachweg / Josef-Fischer-Str.

Am Freitagvormittag um 10 Uhr war eine Kundgebung in einem Park Ecke Struthbachweg / Josef-Fischer-Straße in unmittelbarer Nähe zu Produktionsanlagen von Rheinmetall und einer Panzerteststrecke angemeldet. Ein Tandem von uns reiste ab 09:25 Uhr mit einem Teil der Demonstrierenden vom Camp in der Goetheanlage an. Die zwei anderen Beobachter*innen reisten aus anderer Richtung an und trafen dabei ebenfalls auf Personen, die auf dem Weg zur Kundgebung waren. Die Anreisen verliefen ungestört durch die Polizei, wenn auch teilweise durch Fahrzeuge begleitet. Die Kundgebung begann um 10:10 Uhr – nachdem gegen 10:18 Uhr die letzte größere Gruppe Demonstrierender angereist waren, waren ca. 200 Teilnehmer*innen anwesend. Zudem waren ca. 50 Polizist*innen und neun Polizei-Kleinbusse vor Ort. Es handelte sich auch an diesem Tag ausschließlich um Einsatzkräfte der hessischen Bereitschaftspolizei (BePo), darunter mehrere Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) und Beweissicherungseinheiten (BeSi). Die Beamt*innen standen in Gruppen von 4-5 Personen mit einem gewissen Abstand rund um die Versammlung und über das gesamte Parkareal verteilt. Sie trugen Helme an der Hüfte. Über dem Gelände der Versammlung und von Rheinmetall kreiste erneut ein Helikopter.

Um 10:23 setzte sich die Gruppe Demonstrierender unter Ankündigung in Bewegung in Richtung des Geländes von Rheinmetall, zuvor wurden Papierflieger verteilt. Die Polizist*innen riegelten das Gelände von Rheinmetall entlang einer Buschreihe mit einer Polizeikette ab. Die Protestierenden waren sehr entspannt – ein Polizist forderte über Funk Verstärkung im Park an. In dieser Situation fragten wir einen Polizisten mit auf die Versammlung gerichteter Kamera, ob er gerade filmen würde. Seine Antwort lautete, dass er natürlich nicht filme, sondern nur anlassbezogen und wenn rechtlich möglich. Nach der Papierflieger-Aktion kehrten die Teilnehmer*innen zurück zum Kundgebungsplatz. Es folgten weitere Reden und die Polizei positionierte sich wie zuvor rund um die Versammlung. Am Rande des Geschehens ging eine Gruppe von sieben Teilnehmer*innen auf dem Struthbachweg in Richtung Werkstor von Rheinmetall und wird wurde circa 10 Polizist*innen zurück auf die Wiese geschickt, da die Kundgebung nicht für die Straße angemeldet sei. Im Struthbachweg zählten wir mittlerweile 14 Polizei-Kleinbusse. Parallel dazu beobachteten wir, wie eine Person mit Schlauchtuch von einem Polizisten angesprochen wurde, ihre Vermummung abzulegen. Um 11:00 Uhr gingen nahezu alle Teilnehmer*innen als Demonstrationszug über den Struthbachweg in Richtung Werkstor von Rheinmetall. Auf Höhe der Hausnummer 43, und damit ca. 200 m vom Werkstor entfernt, war die Straße durch eine Kette aus Polizist*innen abgeriegelt. Es erfolgte u.a. eine ‚Die-In Performance‘ zwischen geparkten Polizei-Kleinbussen auf der linken Seite und einer Buschreihe auf der rechten Seite.

Um 11:10 Uhr wurde die Versammlung von den Protestierenden für beendet erklärt und die Teilnehmer*innen dazu aufgerufen, sich bei der Abreise gut im Blick zu behalten, weil befürchtet wurde, dass die Polizei Einzelpersonen  herausgreifen würde wollen. Wenige Minuten später erfolgte dann die Durchsage per Megafon, dass ein Teilnehmer von der Polizei festgenommen wurde.

Auf dem Weg zur Haltestelle „Wiener Straße“ drang die Information durch, dass sich der Festgehaltene bei einem Polizeifahrzeug auf der Holländischen Straße, etwa 100 Meter oberhalb der Haltestelle, befinden soll. Daraufhin drehte um 11:23 Uhr der Großteil der eigentlich Abreisenden um in diese Richtung. Als wir um 11:25 Uhr an dem besagten Polizeiwagen ankamen, erkannten wir erst in dem Moment, dass es sich um einen Gefangenentransporter handelte. Dieser stand auf der rechten Spur stadteinwärts und blockierte damit die rechte Fahrspur einer zweispurigen Straße. Auf der linken Spur in Richtung Innenstadt lief der Verkehr weiter. Die Fahrtspuren des Gegenverkehrs waren durch zwei Tramlinienschienen (in beide Richtungen) getrennt von der Seite, auf der wir uns befanden. Eine Gruppe Demonstrierender stellte sich direkt vor den Gefangenentransporter. Eine Durchsage der Polizei forderte, die Fahrspur freizugeben, da Autos an ihrer Fahrt behindert würden, obwohl die rechte Fahrspur noch frei war, auch der Gefangenentransporter ist so durch die Polizei abgeschirmt, dass er sofort auf die rechte Fahrspur ausweichen könnte.

Die Situation wurde kurz unübersichtlich, da Polizist*innen sich Handschuhe anzogen und versuchten, diese Personen wegzuschieben. Daraufhin setzte sich eine weitere Gruppe von ca. 20 Personen auf die Straße und blockierte nun beide Spuren stadteinwärts, so dass der Verkehr zum Erliegen kam. Erneut schubste die Polizei direkt und ohne vorherige Ankündigung – sie versuchte, eine Fahrbahn freizumachen. Um 11:27 Uhr gab es einen lauten Tumult und eine Person e rabiat aus der Gruppe Demonstrierender gezogen. Eine weitere Person saß am Boden und hatte offensichtlich Schmerzen am Auge. Sie war umringt von Polizei. Ein Demo-Sanitäter* wurde zu ihr durchgelassen. Die Person, die herausgezogen wurde, wurde auf die gegenüberliegende Straßenseite gebracht, wo weitere Polizeiwagen standen. Eine Gruppe von Demonstrierenden war ebenfalls dort und forderte lautstark die Freilassung der Person. Einige weitere Personen standen direkt am Fahrzeug; andere auf dem Fußweg. Ein Polizist versuchte, am Fahrzeug stehende solidarische Personen zu vertreiben. Eine Durchsage der Polizei argumentierte, dass es wegen des fließenden Verkehrs gefährlich sei, dort zu stehen. Im selben Augenblick schob ein Polizist eine Person allerdings in Richtung Verkehr und gefährdete sie damit, weil in dem Moment tatsächlich gerade ein Auto vorbei rollte. Die Person und weitere Umstehende waren schockiert und aufgebracht. Es folgte ein Wortgefecht.

Wie wir erfuhren, wurde der festgehaltenen Person Beleidigung vorgeworfen, sie erhielt einen Platzverweis nach Personalienangabe. Sie berichtete uns im Nachgang, dass sie gesehen hatte, wie eine Person während der Schubserei von einem Polizisten an den Haaren von den Gleisen gezogen wurde.

Während sich diese Person in der Maßnahme auf der rechten Seite der Fahrbahn befand, stand auf der linken Seite der Verkehr still. Auch die Straßenbahnen fuhren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Es waren Einsatzkräfte der hessischen Bereitschaftspolizei, darunter auch BFE, vor Ort und die Beamt*innen wirkten hektisch und aggressiv. Um 11:32 Uhr wurde eine weitere Person in den Gefangenentransporter gebracht – uns ist nicht klar, in welcher Situation sie festgenommen wurde. Immer wieder versuchten Beamt*innen, die Protestierenden von einer der beiden Spuren zu schieben. Um 11:34 Uhr hörten wir eine Durchsage durch den Lautsprecherwagen der Polizei. Es wurde aufgefordert, die Fahrbahn zu verlassen, weil es zu gefährlich sei im Verkehr zu sitzen. Nur wenige Augenblicke später setzten die Einsatzkräfte ihre Helme auf und gingen erneut auf die sitzenden Menschen los – versuchten sie wegzuschieben, -zu schubsen und -zu zerren. Daraufhin fuhr der Gefangenentransporter ein Stück vorwärts und wurde direkt von einer weiteren Gruppe gestoppt, die sich ebenfalls auf beide Fahrbahnen stadteinwärts setzte. Die Polizei war rabiat und schob, schubste, zerrte, drückte und schrie laut. Die Polizei filmte in die Demonstrierenden. Um 11:38 Uhr setzte der Gefangenentransporter ein Stück zurück und fuhr dann quer über die Straßenbahnschienen auf die Fahrbahn stadtauswärts. Dabei setzte er kurz auf den Schienen auf und riss zwei Steine aus. Schließlich gelang ihm die Abfahrt. Zu dieser Zeit waren insgesamt 13 Polizei-Kleinbusse vor Ort.

In der Folge löste sich die Situation langsam auf; die Teilnehmer*innen liefen zur Haltestelle „Wiener Straße“ und fuhren in mehreren Straßenbahnen zurück Richtung Camp. Um 12:04 Uhr fuhren wir mit den noch verbliebenen ehemaligen Versammlungsteilnehmer*innen mit der Straßenbahn 1 Richtung Camp. Die sechs Einsatzfahrzeuge  begleiteten die Straßenbahn mit Blaulicht quer durch die Kasseler Innenstadt bis zur  Haltestelle „Berlepschstraße“ in Nähe des Camps; bogen aber nicht mit ein, sondern fuhren weiter stadtauswärts bzw. ein Fahrzeug hielt und wartete, bis alle Personen durch die Berlepschstraße in Richtung Camp verschwunden waren.

3.5 Freitag, 02.09.2022 Spontane Abenddemonstration in Gedenken an Malte C.

Am Freitagabend wurde kurzfristig eine Gedenkdemonstration für den an dem Tag nach einem gewalttätigen Angriff in Münster verstorbenen trans Mann Malte abgehalten. Diese wurde durch die Organisator*innen des Camps angemeldet und lief vom Camp in Richtung Innenstadt die Friedrich-Ebert-Straße entlang. Wir erhielten erst kurzfristig Kenntnis darüber und konnten daher nicht die gesamte Demonstration beobachten. Wir stießen erst gegen 22:15 Uhr auf Höhe der Haltestelle Annastraße dazu. Die Demonstration ging noch bis zur nächsten Haltestelle Karthäuserstraße weiter, hielt dort noch eine kurze Schlusskundgebung ab und löste sich dann gegen 22:35 Uhr auf.

Der Demonstrationszug wurde vorn und hinten von jeweils einem bzw. zwei Streifenwagen begleitet. Sonst waren keine Polizeieinheiten dabei. Der Demozug konnte ohne Probleme laufen.

Laut einer Teilnehmerin wurden während der Demonstration von Beginn an mehrere Rauchtöpfe gezündet und die Polizei regulierte dies nicht. Wir selbst haben während unseres Beobachtungszeitraums keine Rauchtöpfe gesehen.

Auffällig war,dass diese Demonstration mit  Ruhe und Selbstbestimmtheit abgehalten werden konnte, ohne dass Polizei eingriff. Sie führte zwar durch eine belebte Straße mit vielen Restaurants und Bars, aber da sie auf der Straße ging und die Passant*innen auf dem Bürgersteig, hatten alle genügend Platz. Die Polizei begnügte sich damit, den Verkehr zu regeln.  Das Auftreten der anwesenden Beamt*innen bezeichnete eine Demonstrationsteilnehmerin als kooperativ.

Wir blieben am Ort der Schlusskundgebung, bis ein Großteil der Teilnehmer*innen zu Fuß losgegangen oder mit der Tram weggefahren war, liefen dann noch eine kurze Strecke Richtung Innenstadt. Da aber nichts Auffälliges mehr zu sehen war und keine Polizei irgendwo stand, sind wir recht bald umgekehrt und nach Hause gegangen.

3.6 Samstag, 03.09.2022 Demonstration „Gegen Aufrüstung und Militarisierung“

Auch der Samstag begann um 06:00 Uhr mit dem Geräusch von Hubschraubern, die über dem Camp und die Werke der Rüstungsunternehmen kreisten und auch von unserer Unterkunft aus zu hören waren.

Die Demonstration an diesem Samstag sollte der Abschluss der Aktionstage sein und um 13:00 Uhr am Hauptbahnhof starten und über eine Route an den Werksanlagen an der Wolfhager Straße vorbei zum Opernplatz gehen. Dort sollte eine Abschlusskundgebung erfolgen.

Wir hatten uns für diesen Tag erneut in zwei Tandems aufgeteilt, wobei ein Tandem wieder mit Personen aus dem Camp anreiste und ein zweites die Anreisen aus anderer Richtung beobachtete. Zu diesem Zweck waren wir auch am Bahnhof Wilhelmshöhe anwesend, wo aber kein verstärktes Aufkommen zu beobachten war. Einzig ein Polizeiwagen der Bundespolizei war vor Ort. Auch die Anreise vom Camp ausgehend war entspannt. Es machten sich gegen 12:25 Uhr etwa 100 bis 150 Personen auf den Weg. Dabei wurden sie nicht von Polizei begleitet.

Die Szenerie am Hauptbahnhof, dem Startpunkt der Demo, stellte sich deutlich anders dar. Erneut kreiste ein Hubschrauber über uns. Rund um den Bahnhof standen in mehreren Seitenstraßen (u.a. Kölnische Straße, Kurfürstenstraße und Werner-Hilpert-Straße) einige Polizeifahrzeuge – in der Summe etwa 20. Auf dem Bahnhofsvorplatz standen Grüppchen von Beamt*innen; auch vor jeder Eingangstür zum Bahnhof – insgesamt zählten wir etwa 80 Beamt*innen. Es handelte sich dabei um Bereitschaftspolizei (BePo), genauso wie Beweissicherungseinheiten (BeSi) und Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE). Auch an den Gleisen standen vereinzelte Polizeiwagen. Uns fiel auf wie viele BFE im Verhältnis da waren. Alle Beamt*innen trugen ihre Helme seitlich festgeschnallt mit sich.

Zunächst waren wenige Demonstrierende vor Ort. Sie schmückten den Lautsprecherwagen und bereiteten die Kundgebung vor. Es gab eine lautstarke Debatte zwischen Teilnehmer*innen und Polizei, weil diese das Mitnehmen von „Bubble-Bällen“ (aufblasbare große Bälle) mit der Begründung es handle sich um Schutzbewaffnung untersagten. Gegen 12:47 Uhr kam ein Demonstrationszug von etwa 70 Personen mit lautem Sprechgesang aus Richtung Innenstadt angelaufen. Während die Kundgebung begann, beobachteten wir immer mehr anreisende Polizei – sowohl BePos als auch BFE. Einige von ihnen gingen auf den Bahnhofsvorplatz, andere blieben auf einer vorgelagerten Verkehrsinsel stehen. Wir konnten sehen, wie eine Beamtin dort eine Stabkamera zur Hand nahm und aus größerer Entfernung die Auftaktkundgebung filmte. Wir beobachteten, dass einzelne Teilnehmer*innen von Polizist*innen auf Vermummungen in Form von Schlauchtüchern über der Maske angesprochen wurden.

Nach der Verlesung der Auflagen, startete die Demonstration gegen 13:45 Uhr. Nach Angaben der Veranstalter*innen im Nachgang, waren etwa 1000 Demonstrierende vor Ort. Vor der Demonstration fuhren einige Polizeiwagen; der Demonstrationszug wurde zudem von mehreren Gruppen aus 4-5 Polizist*innen in einem Abstand von 2 Metern zu den Demonstrierenden begleitet; hinter dem Zug fuhren in zwei Reihen insgesamt 13 Polizeifahrzeuge. Wir hörten einem Gespräch von Beamt*innen zu, bei welchem einer zum anderen sagte „den holen wir uns“.

Um kurz nach 14:00 Uhr erreichte der Demonstrationszug die Straßenzüge, in denen am Vortag die Blockaden stattgefunden haben und das Polizeiaufkommen in Höhe Schillerstraße nahm massiv zu. Einige Beamt*innen zogen sich Handschuhe mit Knöchelverstärkung an. Hier beobachteten wir auch erneut das Filmen seitens der Polizei – sie standen dazu erhöht auf einem Sockel einer Toreinfahrt und wirkten von lautstarken Protesten gegen das Filmen unbeeindruckt. Ähnliche Situationen gab es im Verlauf der Demonstration immer wieder Die Teilnehmenden forderten von der Polizei ein, eine Erklärung für das ständige Filmen zu erhalten und dieses einzustellen. Die Polizei gab mal mehr, mal weniger Auskunft; berief sich aber in einer Situation darauf, dass sie nach StPO filmen würden.

Um 14:15 Uhr begann die Zwischenkundgebung auf der Wolfhager Straße unmittelbar vor dem Werksgelände von Krauss-Maffei Wegmann. Das Zufahrtstor wurde von einem Polizeiwagen und mehreren Polizist*innen geschützt.

Auch wir erkundigten uns nach dem Filmen der Polizei. Um 14:20 Uhr fiel uns ein Polizeifahrzeug direkt neben der Zwischenkundgebung auf, aus dessen Dachluke heraus ein Polizeibeamter die Kundgebung filmte. Wir sprachen eine daneben stehende Einheit an und fragten nach dem Grund des Filmens. Diese verwies auf den Fahrer des Wagens, welchem gegenüber wir daraufhin durch das offene Fenster unsere Frage wiederholten. Die Antwort des Fahrers nach Abstimmung mit dem hinter ihm stehenden Filmenden, lautete: „Wir filmen nicht. Wir haben nur das Display ausgeklappt, damit wir filmen können, wenn etwas passiert.“ Wir fragten, ob dies bei Demonstrationen so normal sei. Er sagte „Ja, eigentlich schon“. Diese Aussage des Nicht-Filmens zu glauben, ordnen wir als Lüge ein, da wir sehen konnten, wie der filmende Polizist seine Kamera und das Display immer wieder justierte, wie er die Kamera drehte und Knöpfe drückte. Zudem ist schon die auf die Demonstration gerichtete Kamera (auch ohne zu filmen) ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit gewesen, da die Teilnehmer*innen davon ausgehen mussten, dass die auf sie gerichtete Kamera filmt. Nicht umsonst müssen deshalb stationäre Kameras während Versammlungen verhüllt bzw. sichtbar kenntlich gemacht werden, dass sie ausgeschaltet / abgedreht sind.

Kurz bevor die Zwischenkundgebung um 14:30 Uhr beendet wurde und die Teilnehmer*innen weiterzogen, kam vom Lautsprecherwagen der Demonstration sowohl die Ansage, dass die Demonstration gefilmt und fotografiert werde als auch dass dass die Gefahr bestünde, dass die Polizei einzelne Personen rausziehen werde und daher gut aufeinander geachtet werden solle.

Die Demonstration lief weiter in Richtung Untere Königstraße. Gegen 14:40 Uhr kamen Fahrzeuge der BFE angefahren; ein Beamter sprang heraus und lief vom hinteren linken Teil der Demonstration einmal durch die Protestierenden auf die rechte Seite. Dies führte zu einem kurzen Tumult bei einer bis dahin sehr entspannten Demonstration. Beim Einbiegen auf die Untere Königstraße wurde gegen 14:54 Uhr Pyrotechnik und ein Rauchtopf gezündet. Die ersten Polizist*innen setzten ihre Helme auf und drängten nah an die Demonstration – gleich mehrere Kameras waren auf die Demonstrierenden gerichtet und versuchten auch, durch das Steigen auf Bänke von oben in den Demonstrationszug zu filmen und filmten Schuhe unter den Bannern hindurch. Um 15:00 Uhr erfolgte eine Durchsage der Polizei: „Unterlassen Sie das Abbrennen von Rauchtöpfen und Pyrotechnik. Das ist verboten. Wir schützen Ihre friedliche Demo und wollen doch alle gesund nach Hause kommen.“ Es folgte noch eine zweite Durchsage infolge des Abbrennens eines weiteren Rauchtopfes.

Unmittelbar nach dieser eher netten Durchsage, trugen nun alle Beamt*innen Helme und gingen unvermittelt für mehrere Minuten in den Block, aus dem der Rauchtopf gezündet wurde und welcher Seitentransparente trug. Dabei prügelten sie mit Schlagstöcken auf die Demonstrierenden hinter den Transparenten ein; teilweise stellten sich Ordner*innen mit erhobenen Händen zwischen die Polizei und die Teilnehmenden, vielfach schirmten Demonstrant*innen die Demonstration zur Polizei ab. Die Demonstration hatte mittlerweile gestoppt. Die Beamt*innen zogen an einem Banner und entwendeten mehrere Fahnen und ein Pappschild. Es war unklar, ob sie Gegenstände sichern oder Personen herausziehen wollten.

Es erfolgten immer wieder Durchsagen vom Lautsprecherwagen der Demonstration, der das Polizeivorgehen verurteilte  und  die Polizei das Spalier auflösen solle, damit Passant*innen sehen könnten, welche Anliegen durch die Demonstration vorgetragen werden würden. Während die Demonstration in Richtung Opernplatz weiterzog, kamen immer mehr BFE-Einheiten. Sie liefen eng an der Demonstration im Spalier; vor allem an dem Block, den sie bereits angegriffen hatten. Einige von ihnen trugen verstärkte Ausrüstung mit Kinn- und Knieschutz. Aber auch neben dem ersten Teil des Zuges vor dem Lautsprecherwagen liefen behelmte Polizist*innen.

Um 15:23 Uhr erreichte die Demonstration den Opernplatz und die Abschlusskundgebung begann wenige Minuten später. Überall auf dem Platz standen Polizist*innen; in jeder davon abgehenden Straße standen behelmte Einheiten; auch auf den Straßenbahnschienen, direkt vor dem Platz standen Einheiten. Dort hatte sich auch der Lautsprecherwagen der Demonstration zunächst aufgestellt. Auf dem Friedrichsplatz direkt gegenüber standen ca. 10 Polizeifahrzeuge der BFE. Wir konnten beobachten, wie an verschiedenen Stellen Fotoabgleiche gemacht wurden; einige BFE liefen um die Kundgebung und schauten suchend hinein. Teilweise nahmen die Polizist*innen ihre Helme ab. Weiterhin wurde in die Kundgebung gefilmt, insbesondere von einer mittig stehenden Statue (Louis-Spohr-Denkmal) aus mit Stabkamera. Die Kundgebung war durch Seitentransparente geschützt; die Seite zu den Schienen allerdings war offen. Die ersten Personen verließen um kurz nach 16 Uhr den Opernplatz.

Gegen 16:15 Uhr verließen weitere Grüppchen die Abschlusskundgebung; die Transparente wurden langsam eingerollt und vom Lautsprecherwagen, der mittlerweile auf den Opernplatz gefahren war, erfolgte die Ansage, dass Musik nur noch so lange gespielt würde, bis eine gemeinsame Abreise mit der Straßenbahn möglich sei. Die Situation stellte sich als ruhig dar, die Veranstaltung war im Begriff sich aufzulösen.

Um 16:24 Uhr wurde eine Person von mehreren Polizist*innen aus der Menge gezerrt und hinter die auf dem Friedrichsplatz geparkten Polizeiwagen geschleppt. Eine Kette von Polizist*innen stellte sich abschirmend davor. Rund 40 Demonstrierende gingen der Situation nach und protestierten laut gegen die Maßnahmen. Sie werden von den Beamt*innen weg geschubst. Ein Banner wurde als Schutz hochgezogen und direkt von den Polizist*innen heruntergerissen. Wie auch schon in anderen Momenten in den vergangenen Tagen hörten wir, wie die Demonstrierenden von den Polizist*innen gedutzt und angeschrien wurden. Wir erfragten den Grund der Maßnahme und erhielten als Antwort, dass es  eine private Angelegenheit der Beschuldigten sei, ob Menschen von dem Vorwurf erfahren sollten  und die Beamt*innen uns daher keine Auskunft geben könnten; auf Nachfrage bestätigten sie jedoch, dass die Person den Vorwurf kenne.

Die verbliebenen Demonstrierenden auf dem Opernplatz hatten sich wieder als enge Gruppe gesammelt und schützten sich mit Transparenten. Viele BFE standen ganz eng an dieser Gruppe. Sie suchten eine Person. Wir hörten einen zum anderen sagen: „Er steht direkt hinterm Transpi.“ Eine Minute später: „ist wieder weg“. Wir sahen drei Polizist*innen mit blauen „Communicator“-Westen, die vorbei an der Situation in Richtung ihres Lautsprecherwagens liefen. Dabei kommunizierten sie nicht zwischen Demonstration und Polizei, sondern unterhielten sich am Wagen mit anderen Beamt*innen und kamen damit ihrer Aufgabe aus unserer Perspektive nicht nach.

Gegen 16:23 Uhr spürten wir eine gewisse Unruhe bei fünf Beamt*innen in unserer Nähe. Sie liefen vom Opernplatz in Richtung Schienen, rannten wenige Augenblicke später los und bogen links in die Königsgalerie ein. Zunächst konnten wir nicht erkennen, wen sie verfolgten. In der Galerie teilten sie sich auf, zwei nach links zum Aufzug, die anderen nach rechts zur Treppe. Auf der Treppe rannte ein junger männlich gelesener Mensch mit Wasserflasche herunter, die Beamt*innen hinterher. Wir hörten die Polizist*innen und folgten in den Zugang zum Parkhaus. Vor der Parkhaustür hatten sie den jungen Menschen gestellt. Er trug bereits Handschellen. Es standen noch zwei junge Menschen dort, die den Ermittlungsausschuss (EA) anriefen. Es kamen zwei Stadtpolizisten dazu. Die Polizist*innen, die ihn verfolgt hatten, waren kooperativ, als wir den Namen und das Geburtsdatum für den EA wissen wollten. Sie sagten uns, der Vorwurf laute, dass er gestern einer Polizistin den Helm entwendet und sie tätlich angegriffen haben soll. Sie durchsuchten ihn, sorgfältig und „behutsam“. Sie fotografierten ihn. Ein Polizist verglich ihn mit einem Handyfoto. Er musste eine weiße FFP2-Maske aufziehen und wurde erneut fotografiert. Es hieß, er solle in die Gefangenensammelstelle im Polizeipräsidium Grüner Weg gebracht werden. Später wird uns von den zwei Stadtpolizist*innen, die vor Ort waren, die Information gegeben, dass die Person aus der Maßnahme entlassen worden sei, weil sich der Verdacht nicht bestätigt habe.

Um 16:36 Uhr wurde eine weitere Person aus der Gruppe auf dem Opernplatz herausgezogen und festgenommen. Sie schien sehr überrascht und hielt sofort die Hände nach oben. Sie wurde von mehreren Beamt*innen gepackt und beim Versuch, sie hinter die Polizeiwagen zu bringen, gegen eines dieser Fahrzeuge geschmettert. Anschließend wurde sie in einen Hauseingang gedrückt und ihr wurden Handschellen angelegt. Die Person war umringt von 4 Polizist*innen; eine weitere Gruppe stand vor dem Hauseingang und schirmte diesen ab. Die Taschen der festgenommenen Person wurden durchsucht und sie wurde nach ihrem Ausweis gefragt. Wir hatten den Eindruck, dass sie den nicht dabei hatte und auch ihre Identität nicht angeben wollte. Wir hörten, wie ihr der Vorwurf benannt wurde: „Vermummung während einer Demonstration“. Sie musste ihre Schuhe ausziehen; es wurden Gegenstände von ihr in einem Plastikbeutel sichergestellt; es wurden Fotos angefertigt – teilweise musste sie sich dafür einen Schlauchschal und eine FFP2-Maske anziehen. Um 16:53 Uhr traf auch die Kriminalpolizei ein und versuchte über eine Beamtin in Zivil die festgenommene Person dazu zu bewegen, ihre Personalien anzugeben. Diese Beamtin wendete sich auch an umstehende Unterstützer*innen mit der Ansprache, die beschuldigte Person doch zur Vernunft zu bringen.

Um 16:58 Uhr wurde die erste festgenommene Person freigelassen. Die zweite Person befand sich weiterhin in der Maßnahme. Wir erfuhren später, dass sie erst am Abend freigelassen wurde. Es sind einige Unterstützer*innen vor Ort. Der gesamte Rest der Versammlung ist abgereist, nachdem sich die Situation auf dem Opernplatz beruhigt hatte und sich gegen 16:45 Uhr auch die BFE von dem Platz zurückgezogen haben. Damit beenden wir unsere Beobachtung.

4. Weitere Aktionen

Während des Campzeitraumes haben einige Aktionen stattgefunden, von denen wir nur gehört haben und bei denen wir nicht anwesend waren, um zu beobachten. Wir haben für den vorliegenden Bericht drei Aktionen exemplarisch ausgewählt, um einen vollständigeren Eindruck der Aktionstage zu geben, wobei die unter 4.3 gelistete Situation noch den größten Bezug zu unseren eigenen Beobachtungen hat, da wir unmittelbar nach den Blockaden zu den Protestierenden gestoßen sind und deren Demonstration folgend begleitet haben (siehe 3.4).

4.1 Gedenken an die unbekannten Deserteure am Donnerstag, 01.09.2022

Der 1. September markiert den Deutschen Anti-Kriegstag. Im Rahmen von „Rheinmetall entwaffnen“ wurden zwei Aktionen in Gedenken an die unbekannten Deserteure durchgeführt. Zum einen wurden an einem Kriegerdenkmal an der Karlsaue verschiedene Plakate angebracht, die u.a. auf einzelne Deserteure aufmerksam machten und deren Lebensgeschichte beschrieben. Zum anderen wurde in unmittelbarer Nähe zum Rathaus eine Gedenktafe angebracht.

4.2 Kundgebung am Obelisk am Donnerstag, 01.09.2022

Initiiert vom Kasseler Friedensforum fand am Nachmittag eine Demonstration am Obelisken statt, an welcher laut Angaben auf Twitter 250 Personen teilnahmen.

4.3 Blockaden an den Toreinfahrten von Krauss-Maffei Wegmann am Freitag, 2.09.2022

Am Morgen, des 2.09.2022 fanden an einem Standort von Krauss-Maffei Wegmann Blockaden der zwei Zugangstore statt: eine auf der Schillerstraße; eine weitere auf der Wolfhager Straße. Wie bereits berichtet, kamen wir erst um 6:45 Uhr zu der Situation dazu, als beide Blockaden bereits nicht mehr bestanden, sondern sich bereits als Demonstrationszug zusammengeschlossen hatten. Wir möchten in diesem Bericht dennoch einen kurzen Blick auf die Geschehnisse werfen, so wie sie sich uns aus Informationen des Bündnisses „Rheinmetall entwaffnen“, aus Informationen der Polizei, aus einer Stellungnahme der „Demo-Sanitäter*innen“ und einigen Berichten von Demoteilnehmer*innen darstellen.

Es scheint keine Unstimmigkeit in der Berichterstattung darüber zu geben, dass Polizei Schlagstöcke und Pfefferspray gegen die Demonstrierenden eingesetzt hat. Strittig jedoch ist, ob dies gegenüber friedlichen Blockaden geschehen ist oder ob dies geschehen ist, weil sich Polizeibeamte durch die Protestierenden so bedroht und angegriffen fühlten, dass sie sich verteidigen mussten. In ihrer Pressemitteilung am Morgen berichtete die Polizei über Angriffe aus der Demonstration. Das Protestbündnis hingegen spricht  von friedlichen Sitzblockaden bzw. Blockadeversuchen. Sie veröffentlichten noch am Freitagvormittag ein Video auf Twitter, welches u.a. Teile des Polizeieinsatzes dokumentieren.

Auch das Ausmaß der Polizeigewalt wird unterschiedlich bewertet. Die Struktur der „Demo-Sanitäter*innen Gruppe Süd-West e.V“ hat sich am 2.09.2022 auf ihrer Website zu den Verletzungen von Demonstrierenden im Zuge des Polizeieinsatzes wie folgt geäußert (in Auszügen):

„Im Verlauf der Blockadeaktionen am Freitagmorgen kam es dabei zu einem massiven Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken durch anwesende Polizeikräfte gegen Versammlungsteilnehmer*innen. In der Folge mussten insgesamt 87 Personen (80x Pfefferspray, 7x chirurgisch) behandelt werden. Wir bedanken uns an dieser Stelle neben den anderen Demosanitäter*innen vor allem bei den Versammlungsteilnehmer*innen, die die Behandlung tatkräftig unterstützt haben, indem sie Verletzte betreut oder weiteres Wasser für die Augenspülung besorgt haben. Im Zuge der Polizeimaßnahmen wurde auch ein Sanitäter der Sanitätsgruppe Süd-West e.V. durch Pfefferspray verletzt während er sich in einer Patient*innenbehandlung befand. Unsere Sanitätskräfte sind durch leuchtende Einsatzkleidung klar gekennzeichnet und von anderen Personen unterscheidbar.“

Auf Nachfragen bei der Polizei erfuhren wir keine Anzahl der eingesetzten Beamt*innen. Wir bekamen bestätigt, dass im gesamten Verlauf aller Tage ausschließlich hessische Einsatzkräfte und Bundespolizei vor Ort waren. Bezüglich der Verletztenzahlen, sprach die Polizei von acht leicht verletzten Polizist*innen aufgrund „tätlicher Angriffe auf Einsatzkräfte an einer Absperrung und dem darauf folgenden Pfefferspray-Einsatz“ am Freitagmorgen. Eine Zahl von verletzten Demonstrierenden läge ihnen nicht vor, obwohl sie sich bei der Rettungsleitstelle erkundigt haben wollen. Eine Demonstrationsteilnehmerin beschreibt die Situation im Nachgang wie folgt:

„Beide Blockaden waren Materialblockaden, die eine (Sitzblockade) mit einer Reihe zusammengeketteter Fahrräder, die andere mit aufgehäuften Baustellenzaunteilen. Pfefferspray und Schläge wurden eingesetzt, um die Blockierenden vom Tor zu drängen und so scheinbar den reibungslosen Arbeitsablauf zu sichern. Außerdem wurden mehrere Polizistinnen von ihrer Position der das Tor schützenden Polizeikette weggedrückt.“

Ein Journalist beschreibt auf seinem Twitteraccount, er sei trotz Presseausweis von der Polizei weggezerrt worden. Ein weiterer Teilnehmer der morgendlichen Blockaden kam am Nachmittag gezielt auf uns als Beobachter*innen zu und bittet uns, seinen Bericht mit aufzunehmen, was wir hiermit tun. Da wir bei den Situationen nicht selbst anwesend waren, kennzeichnen wir es als direkte Rede und so, wie wir es mündlich von ihm erhalten haben:

„Es betrifft einen Polizist mit der Kennnummer HE 42337. Bereits am Morgen am Tor war er Wortführer und hat Menschen sowohl verbal angegriffen, als auch Pfefferspray eingesetzt. Bei einem Gespräch mit einem Demonstrierenden hat er gesagt „Ich hasse sie …“ und auf Nachfrage gesagt „Ich hasse die Kommunikation mit Ihnen“. Außerdem hat er uns gegenüber gesagt „ohne Kamera würden wir euch weghauen“. Daraufhin wurde er von Kolleg*innen weggezogen mit dem Kommentar „wegen dir müssen wir das ausbaden“. Auch später bei der Demonstration zurück zum Camp ist er unmittelbar an der Demo gelaufen und hat ein wenig geschubst. Von ihm wurde eine Frau ins Gesicht gefasst und weggeschoben.“

5. Angaben zu polizeilichen Maßnahmen

Der Ermittlungsausschuss (EA) der Roten-Hilfe Kassel war als Struktur während der gesamten Campzeit erreichbar. Er berichtete von zahlreichen polizeilichen Maßnahmen, die vor allem seit Freitagmorgen, 2.09.22, durch Betroffene und Beobachter*innen gemeldet worden sind: 31Identitätsfeststellungen, 9 Platzverweise, 12 Erkennungsdienstliche Behandlungen, 8
Ingewahrsamnahmen und eine darauf folgende Überstellung in eine Inobhutnahme-Einrichtung
einer minderjährigen Person, sowie Beschlagnahmungen verschiedener Gegenstände. Die Aktivist*innen wären u.a. mit den Vorwürfen Vermummung, Widerstand, Raub eines Polizeischlagstocks, Beleidigung, und tätlicher Angriff konfrontiert gewesen.

Von der Pressestelle des Polizeipräsidiums Nordhessen haben wir auf Nachfrage folgende Antwort per Mail erhalten:  „Im Rahmen der Versammlungslagen im Kontext der Proteste gegen Rüstungsproduktionen sind durch die Polizei von 21 Personen die Identitäten festgestellt worden. Es gab sieben freiheitsentziehende oder -beschränkende Maßnahmen. Alle Personen sind nach Abschluss der erforderlichen polizeilichen Maßnahmen wieder auf freien Fuß gesetzt worden.“

6. Fazit

In unserem Fazit nach den Tagen der Beobachtung wollen wir vor allem auf drei Aspekte eingehen. Zum einen das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen, welches wir als ausschlaggebendes Moment für Eskalationen erlebt haben. Zum zweiten werden wir auf das Verhalten der Polizei bei Blockaden eingehen. Und zum anderen möchten wir unsere grundsätzliche Kritik am Vermummungsverbot in den Kontext der Demonstrationen in Kassel setzen.

Gleichwohl wollen wir auch positiv anmerken, dass wir – anders als bei anderen politischen Protesten - , in Kassel keine systematischen Anreisekontrollen zu Demonstrationen beobachten konnten.

Über die Beobachtungstage hinweg zeigte sich ein sehr stark variierendes Bild der Polizeiarbeit, das sich anscheinend unabhängig vom Verhalten der Versammlungsteilnehmer*innen manifestierte: auf der einen Seite konnten wir beobachten, wie eine kurzfristig einberufene Demonstrationen durch die Innenstadt nahezu unbehelligt von polizeilichen Eingriffen abgehalten werden konnte. In anderen Versammlungssituationen – insbesondere bei Versammlungen, die schon länger im Vorfeld angemeldet waren – missachtete die Polizei von Beginn an rechtliche Vorgaben, eskalierte Situationen und wendete in ruhigen Momenten unangekündigte und brutale Gewalt gegen Versammlungsteilnehmer*innen an.

Im Zusammenhang mit Polizei(groß)einsätzen kann beobachtet werden, dass es einen direkten Zusammenhang gibt, zwischen der Art und Weise wie die Polizei auftritt und im Verlauf stattfindenden Eskalationen: dass es sich nahezu wie eine selbst erfüllende Prophezeiung darstellt. In Kassel verfestigte sich dieser Eindruck.

In Momenten wie dem Freitagabend, als eine große Gruppe – ebenfalls teilweise Schlauchschal und Maske tragend und Rauchtopf-zündend – durch ein belebtes Stadtviertel demonstrierte, regelte die Polizei lediglich mit wenigen Einsatzkräften den Verkehr. Auch waren diese Einsatzkräfte nicht behelmt. Die Demonstration konnte mit ihrem selbst gewählten Ausdruck, ohne Zwischenfälle oder physische Gewalt und in friedlicher Koexistenz mit den Abend genießenden Anwohner*innen und Barbesucher*innen durch die Innenstadt ziehen. Dass ein solches Setting von sich aus nicht zu Eskalation führt, sondern innerhalb des Versammlungsrechts einen politischen Willen zum Ausdruck bringen kann, hätte annehmen lassen können, dass sich die Einsatzplanung für den kommenden Demonstrationstag daran orientiert.

Am Samstag bei der Demonstration „Gegen Aufrüstung und Militarisierung“ jedoch, fiel die starke Präsenz von martialisch ausgestatteten Polizeieinheiten auf. Es war von Beginn an eine große Anzahl an BFE-Einheiten vor Ort, die auf das Festnehmen von Personen spezialisiert sind. Wie an anderen Demonstrationstagen auch, kreiste ein Hubschrauber über der Demonstration – das mag für die Einsatzleitung die Übersicht vereinfachen; für die Teilnehmenden und auch Anwohnenden kann es jedoch ein Gefühl der Dramatik und Bedrohung herbeiführen. Die Versammlung wurde von Beginn an anlasslos von verschiedenen Einheiten mit unzähligen Handkameras abgefilmt, auch wenn dies auf unsere Nachfragen hin mehrfach verneint wurde. Vermutlich als Reaktion auf das Abbrennen einzelner Rauchtöpfe eskalierte die Polizei inmitten der Fußgänger*innenzone und schlug mit rund 15 behelmten Beamt*innen mittels Schlagstöcken auf Demonstrierende ein. Das Abbrennen von Rauchtöpfen stellt eine Ordnungswidrigkeit dar und befugt die Polizei zwar rein rechtlich zum Einschreiten. Es muss jedoch in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, ob das Verfolgen von Ordnungswidrigkeiten Grund genug und verhältnismäßig ist, eine friedlich laufende Demonstration so massiv zu stören und Verletzungen sowie Traumatisierungen von Demonstrationsteilnehmer*innen und auch Passant*innen in Kauf zu nehmen. Es hätte seitens der Polizei aufgrund der Erfahrungen aus den Vortagen gut davon ausgegangen werden können, dass keine unmittelbare Gefahr für Menschen und Sachen bestand. Wir werten es eher so, dass bereits mit der Entscheidung für den Einsatz bestimmter Einheiten, polizeiseitig festgelegt war, wie die Polizeiarbeit verlaufen sollte.

Nachdem die Abschlusskundgebung beendet war und die Teilnehmenden abreisten, wurden zwei Personen brutal festgenommen, einer von ihnen gegen einen Polizeiwagen geschubst, ein weiterer durch eine Einkaufspassage gejagt. Es kann unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten keine Begründung für ein solch gewaltvolles Vorgehen in aus unserer Sicht vollkommen übersichtlichen Situationen geben. Es erhärtet sich hingegen der Eindruck, dass die vielen BFE-Einheiten zum Schluss auch das machen mussten, zu was sie ausgebildet sind, wenn sie denn schon einmal da sind: Personen festnehmen. In Hessen gibt es vier BFE Einheiten, von denen eine in Kassel angegliedert ist. Die erste von ihnen wurde „in Frankfurt 1987 anlässlich der gewalttätigen Demonstrationen gegen die sogenannte „Startbahn 18 West“ gegründet“ und damit als Reaktion auf linke Proteste.[Unbekannt14] 

Im zweiten Punkt unseres Fazits soll das Verhalten der Polizei in einer sich spontan entwickelten Blockadesituation bewertet werden. Da wir am Freitagmorgen nicht bei den Blockaden an den Zufahrtstoren von Krauss-Maffei Wegmann dabei gewesen sind, können wir diese nicht mit in unser Fazit einbeziehen obgleich wir die Polizeigewalt, von der uns berichtet wurde, kritisieren. Wir konzentrieren uns daher auf die Situation am Freitagmittag, im Anschluss an die Kundgebung am Park Struthbachweg/Joseph-Fischer-Straße.

Als rund 30 Personen spontan eine Sitzblockade als Protest gegen die Festnahme eines Teilnehmers einrichteten, gingen die Beamt*innen unvermittelt mit körperlicher Gewalt vor. Während die Durchsagen der Polizeisprecher*innen noch freundlich auf mögliche Gefahren durch den laufenden Verkehr hinwiesen, behelmten sich die Polizist*innen bereits und gingen aggressiv auf die vor ihnen sitzenden Demonstrierenden los, um diese rabiat schubsend und zerrend auseinander zu treiben. Nach geltendem Recht hätte es einer Ansprache und eines Platzverweises bedurft, bevor die Beamt*innen hätten Gewalt anwenden dürfen. Aber selbst dann wäre das Schubsen kein verhältnismäßiges Verhalten gewesen, sondern das Wegtragen nach dreimaliger Aufforderung, sich aus der unangemeldeten Versammlung zu entfernen. Weder das Abfahren des Gefangenentransportes noch das ungestörte Fließen des Straßenverkehrs kann in unserer Bewertung Grund genug für eine „Gefahr im Verzug“ sein, welche es erlauben würde zu solchen gewaltvollen Mitteln zu greifen, anstatt eine Situation durch Kommunikation und Ruhe zu deeskalieren.

Zum Schluss wollen wir an dieser Stelle das Vermummungsverbot als solches noch einmal in Frage stellen und in diese Position in die Geschehnisse in Kassel einordnen. Wir beziehen uns dabei auch auf unsere Stellungnahme, die wir gemeinsam mit dem Republikanischen Anwält*innenverein (RAV und der Vereinigung demokratischer Jurist*innen (VDJ) im Zuge der Verschärfung des Versammlungsgesetzes NRW veröffentlicht haben. Das Vermummungsverbot wurde 1985 durch den Bundestag beschlossen und als § 17a ins bundesdeutsche Versammlungsgesetz aufgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war Vermummung auf Demonstrationen unbeschränkt möglich. Vier Jahre später wurde es bzgl. des Strafmaßes noch einmal verschärft – auch das im Zuge der Proteste rund um die Startbahn West.

Wie bereits bei zahlreichen Demonstrationen vorher – und von uns bei den Protesten gegen den G7 Gipfel in diesem Jahr beobachtet – wurde ebenfalls in Kassel das Vermummungsverbot herangezogen, um Personen aus friedlichen Demonstrationen heraus festzunehmen und  um Videoaufnahmen zu rechtfertigen – eben weil das Verstoßen gegen das Vermummungsverbot eine Straftat darstellt und bei Verdacht auf Straftaten gefilmt werden darf. Seit Einführung des Vermummungsverbotes werden vor allem zwei Aspekte scharf kritisiert. Zum einen, dass alle Personen unter Generalverdacht gestellt werden, Straftaten begehen zu wollen, nur weil sie sich vermummen und damit ihre Identität nicht offenlegen wollen. Dabei steht es allen Personen zu, sich „ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln zu können“ (GG Art.8). In unserem Verständnis bedeutet das, dass jede Person das Recht darauf hat, anonym an Demonstrationen teilnehmen zu können, wenn er*sie sich friedlich verhält. Das bloße Vermummen als nicht-friedlich einzustufen, erschließt sich uns nicht. Zum anderen ist genau das auch der Punkt, warum Menschen sich vermummen wollen – wenn nicht sogar müssen. Demonstrationen werden massenhaft abgefilmt – von Polizei, Mitdemonstrierenden und Gegenprotestierenden. Gerade im Bereich antifaschistischer Arbeit kann das zu einem Sicherheitsproblem für die Demonstrierenden werden. Sie vermummen sich also gerade nicht, um Straftaten zu begehen, sondern um sich gegen Angriffe zu schützen.

Das Vermummungsverbot dient der Polizei seit nunmehr fast vier Jahrzehnten als Mittel, um repressiv in friedlich verlaufende Versammlungen einzugreifen. Erwartungsgemäß, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung, werden damit Demonstrationen gewöhnlich gewaltsam eskaliert: Vermummung rechtfertigt das Abfilmen der Versammlung – das Abfilmen provoziert die Vermummung als Schutzmechanismus -  Vermummung rechtfertigt gewaltsames Eingreifen in die Versammlung zur Strafverfolgung - und so weiter ... Einschüchterung und Provokation durch unverhältnismäßig massive und militarisierte Polizeiaufgebote, permanentes Abfilmen und Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmer*innen oder größere Gruppen mit der Begründung, Verstöße gegen das Vermummungsverbot zu ahnden, sind nach unserer Einschätzung Teil einer polizeilichen Strategie zur gewaltsamen Eskalation, Kriminalisierung und Delegitimierung bestimmter Formen von politischen Protesten insgesamt. Insofern stellen sie einen nicht zu rechtfertigenden Angriff gegen das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit dar.

Polizei.Macht.Eskalation.

 

Autor*in: Tina Keller

Weitere Informationen