20. Mai 2009

60 Jahre Grundgesetz (1949 - 2009) - kein Grund zum Feiern!

Die herkömmlichen Formeln und Formen von Politik und Ökonomie sind verbraucht Hat es die Bundesrepublik Deutschland nach höllendüsterem Ausgang von Nationalsozialismus und II. Weltkrieg nicht weit gebracht? In diesem Mai feiert sie das sechzigjährige Bestehen des Grundgesetzes und damit sich selbst. Gefeiert wird von den Angehörigen der "politischen Klasse" und den Vertretern der etablierten Interessen, die sie vor allem vertritt. Wo aber bleiben die Millionen, die in Suppenküchen karg speisen? Wo diejenigen, die sich die Forderungen und die knappe Förderung von Hartz-IV-Profilern untertänig gefallen lassen müssen? Wo befinden sich diejenigen, die die armierten Wohlstandsgrenzen trotz Not und Verfolgung nicht passieren dürfen? Wo darben die Abgeschobenen? Wo werden sie gefoltert?

Über diese "Verdammten der Erde" moderner Kapitalherrschaft sprechen auch wir in dieser Erklärung nicht. Wir skandalisieren den Zufriedenheitsglanz in den Augen derer, die sich mit dem Verfassungsjubiläum selbst feiern. Sie haben die Chance nicht genutzt, die ihnen die weltpolitische und weltkapitalistische Lage nach 1949 bot, um radikal aus der deutschen Vergangenheit zu lernen. "Nie wieder" hätte auf der Wand dieser Republik stehen sollen: Nie wieder Kriege führen oder vorbeugend dafür rüsten. Nie wieder den Beleidigten, Verfolgten, von Armut erschlagenen Menschen Asyl verweigern. Nie wieder einen Wohlstand erwirtschaften, der vor allem auf Kosten der Eigentumslosen unten in der BRD und außerhalb der BRD profitabel eingeheimst wird. Daraus ist nichts geworden. Die politisch emanzipativen Interessen waren viel zu schwach ausgebildet. Statt die materiellen Voraussetzungen für eine wirkliche demokratische Teilhabe, für Selbstbewusstsein und Handlungsvermögen der Bevölkerung zu schaffen, wurde die liberale Demokratie wie ein inhaltsleeres Muster übernommen. Die herkömmlichen Formen und Formeln von Politik und Ökonomie sind heute erstarrt. Sie taugen weder für gesellschaftliche Veränderungen im Innern, noch sind sie dazu geeignet, jene Katastrophen zu vermeiden, die aus dem Wettbewerb um knappe Ressourcen weltweit zu entstehen drohen. Deshalb müssen wirtschaftlich und politisch andere Wege eingeschlagen werden. Neue Wege gehen muss auch und gerade die BRD: mit radikalen Reformen, Schritt für Schritt, vergangenheitserfahren. Dafür braucht es, eine kritische, selbstbewusste und öffentlich streitbare Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft, die sich tatsächlich für eine in Freiheit und Gleichheit verfasste BRD einsetzt. Fünf kritische Porträts der grundgesetzlich bedeutsamsten Institutionen Eine gesamtgesellschaftliche Verfassungsreform wird nur in Gang kommen, wenn sie außerhalb der etablierten Politik und ihrer herrschenden Interessen immer erneut politisch herausgefordert wird. Die folgenden kritischen Porträts sollen dies am Exempel der politischen Verfassung illustrieren. 1. Das Volk. "Das Volk" ist kein kollektives Subjekt. Es besteht aus einer Ansammlung territorial zugeordneter Menschen. Schon im 18. Jahrhundert, in den ersten Konzeptionen repräsentativer Demokratie wird der Bevölkerung aufgegeben, die Herrschaft repräsentativer Funktionseliten zu legitimieren. Repräsentative Demokratie ist "Herrschaft auf Zeit" (Theodor Heuss), eine periodische Zirkulation politischer Eliten, deren Takt durch Wahlen geschlagen wird. In der Frühmoderne waren Repräsentanten und Repräsentierte - beschränkt auf die männlichen Besitzbürger - quantitativ und qualitativ mit gemeinsamen sozialen Interessen verbunden. Im 19. und 20. Jahrhundert erkämpften sich auch Besitzlose und Frauen das Wahlrecht. Mit der industriellen Entwicklung und der Entstehung von "Massengesellschaften" hat das Kernverhältnis repräsentativer Demokratie jedoch seine Proportionen verloren. Es wird trotzdem angenommen, Menschen könnten sich ohne weitere materielle Voraussetzungen und Bildung demokratisch verhalten. Theoretiker und Praktiker repräsentativer Demokratie legen allein darauf Wert, dass die Leute wählen. Ergebnis: Von der Perspektive der Repräsentierten aus gesehen findet Repräsentation nicht mehr statt. Sie werden nicht in die Lage versetzt, zu verstehen, was politisch geschieht. Sie haben nicht Zeit und Gelegenheit, sich zu beteiligen. Sie werden in medial inszenierten Wahlspektakeln an die Wahlurnen geworben. Die unpolitisch gehaltene Bevölkerung vereinzelter Wählerinnen und Wähler ist als wahlentscheidende Summenformel ohne politische Form. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 20 II Satz 1 GG), stellt eine Leerformel dar, die Repräsentierte und Repräsentanten täuscht. Deshalb sind "verfassungspatriotische" Bodenübungen und die verfassungsschützerisch überwachte fdGO-Formel so wichtig. Täuschung gelingt kollektiv dann, wenn sie zur Selbstverständlichkeit wird: der entmachtete Souverän. 2. Das Parlament oder der Bundestag. Gemäß der Lehre und der symbolisch aufwändigen Praxis repräsentativer Demokratie stellt die legislative Körperschaft die Institution der Institutionen dar. Das "Hohe Haus"! Es soll Demokratie gegenwärtig machen und mit den von ihm verabschiedeten Gesetzen das politische Geschehen definieren. Gemäß rechtsstaatlichem Verständnis wird alles, was politisch geschieht, in rechtliche Formen geprägt. Das Parlament hat dafür zu sorgen, dass die politische Exekutive ihre rechts- und gesetzgebundenen Aufgaben ordentlich erledigt. Demokratie könnte nicht gegenwärtig werden, würde sie nicht durch den Ort und das Tun des Parlaments zur agierenden Öffentlichkeit. Soweit die Lehre. Das zentrale Vermittlungsorgan geht jedoch seiner funktionalen Qualitäten verlustig. Das geschieht unbeschadet der Kompetenz seiner einzelnen Mitglieder. Wie die Repräsentierten politisch unbeteiligt "unten" darben, so agieren die Repräsentanten der Bevölkerung ent- und abgehoben in demokratisch dünner Luft. Re-Präsentation als Aktualisierung des "Volks" durch die Abgeordneten kann nicht stattfinden. Sie ist nicht für einen Flächenstaat und eine Massendemokratie "programmiert". Ohne tatsächliche Machtausübung der Bevölkerung bleibt den Repräsentanten nur die Exekutive als Gegenüber. Sie und nicht das Parlament gibt den Ausschlag. Sie ist zu einer unübersichtlichen politischen Produktionsstätte geworden. Auf ihren bürokratischen Vorder- und Hinterbühnen kann am ehesten die informelle Expertokratie der Interessengruppen agieren. Gesetzentwürfe über Gesetzentwürfe, Maß- und Stellungnahmen, Umsetzung von Gesetzen. Innenpolitik, Außenpolitik, Globalpolitik, Politik als Ökonomie und Ökonomie als Politik - unentwirrbar verwachsen. Das Parlament mit seinen atomisierten Abgeordneten, herrschaftsopportunistischem Fraktionszwang unterworfen, wird systematisch überfordert. Es vermag keine seiner drei zentralen Funktionen auszuüben - repräsentativdemokratische Normierung; Öffentlichkeit; Kontrolle. Das Zentralorgan repräsentativer Demokratie ist zu einem legitimatorischen Medientheater geworden. Im Kontext der global und technologisch nicht fassbaren Größenordnungen und Geschwindigkeiten hat die legislative Gewalt ihre Wirksamkeit verloren. Die schöne Verfassungsmär von der Gewaltenteilung bildet die gegenwärtige Wirklichkeit nicht mehr ab. Die Ausdrücke: "parlamentarische" oder "repräsentative Demokratie" sind ohne Substanz. 3. Die Parteien. Anders als die meisten Verfassungen hat das Grundgesetz die Parteien in Art. 21 privilegiert. Die "Erfindung" von Parteien erfolgte stufenweise im 19. Jahrhundert. Die ersten "Massenparteien" sind im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge der "Fundamentaldemokratisierung" entstanden (Karl Mannheim). Die expansive und intensive Durchkapitalisierung und Durchstaatung haben "Massengesellschaften" und "Massenpolitik konkurrierender Interessengruppen" hervorgebracht. Sobald Wahlen bedeutsamere Funktionen erhielten, organisierten sich politische Parteien im "Rechts-Links-Spektrum". Ihrer bedurfte es, um die "Massen" der Bevölkerung in Richtung Wahlen zu artikulieren, zu aggregieren und repräsentativ in die Parlamente zu vermitteln. Parteien wurden als "Transmissionsriemen" in beide Richtungen verstanden. Von bevölkerungsunten in die politisch entscheidenden Zentren. Von den entscheidenden Zentren "hinunter" zu den parteilich organisierten Basiseinrichtungen. Wahlen und Parlamente machten Parteien zu dynamischen kollektiven Akteuren repräsentativer Demokratie. Für die Parteien heute gilt jedoch, dass ihre Funktionen ausgeblichen sind. Sie wirken einseitig "von oben". Sie sind apparativ erstarrt. Sie sind zu abgehobenen Organen des politischen Akzeptanz- und Vermittlungsmanagements geworden. Von der nie kräftigen "innerparteilichen Demokratie" zu schweigen, täuschen die Parteien als Karrierebündel und Machtorgane etablierter Interessen über die Struktur- und Funktionskrise repräsentativer Demokratie hinweg. 4. Die zweite Gewalt des liberalen Verfassungsstaats, die Exekutive. Haben die skizzierten Entwicklungen die Macht der politischen Exekutive ausgedehnt und in ihren Mitteln angereichert? Bedenkt man Expansion und Etablierung kapitalistischer Ökonomie und ihre globalisierende Verdichtung, Entstehung und Funktionsgewinn dessen, was "Massengesellschaft" genannt worden ist, die Zunahme und Durchdringung staatlicher Politik im Sinne der "Durchstaatung" und Verrechtlichung sowie intensiver und spezialistischer werdende internationale, nicht zuletzt die unionseuropäische Verflechtung, dann gilt auch für die politische Exekutive repräsentativer Demokratie: Sie ist überfordert. Das große Versprechen des Verfassungsstaats der Neuzeit lautet(e): Verantwortliches und das heißt zugleich kontrollierbares Regieren. Wo aber befindet sich tatsächlich die Macht im Sinne von "Machen-Können", wo die Mittel, die das behauptete "verantwortliche Handeln" möglich werden lassen? Geradezu komisch erscheinen hier die multi-exekutiven Ankündigungen beim jüngsten 20er Gipfel und ähnlichen medial inszenierten Staubwirbeln, man werde das Vertrauen ins Finanzkapital wiederherstellen. Man werde "das Kapital" in staatlichen Griff nehmen und die Milliardenwellen der monetär hin- und herflutenden Kapitalströme tropfengenau kontrollieren. Die "demokratisch" gewählten Regierungen können jedoch inmitten der sich jagenden Fülle ihrer "an und für sich" gestellten Aufgaben nur vorfabrizierte inhaltsarme Antworten geben. Lächeln und Süßholz raspeln. Bedeutungsschwer wenig sagen. Verfassungsreformen wären darum überfällig. Die herrschaftsdicht verflochtenen Interessen lassen sie nicht zu. Statt filigraner Lügengespinste wäre zuerst offen über die Struktur- und Funktionsdefizite der Politik zu reden. Und ebenso über die nicht geringeren Defizite der nie verantwortlich verfassten Ökonomie. Gegenüber dem 18. und 19. Jahrhundert besitzen die "politics and policies", die economics and economies of scale kaum noch vergleichbare Proportionen. Nicht erst die jüngste Krise des Finanzkapitals macht offenkundig, dass die eingeübten Formen von "Markt" und "(liberalem) Staat" außer Kontrolle geraten sind und geraten mussten. Die Behauptung verantwortlichen Handelns wird zur "systemischen" Lüge. Darum geht Politik auf in einer Fülle von Inszenierungen. Es bleibt der interessenharte Kern fortwährender Profitmaximierung. 5. Die dritte Gewalt, die Judikative. Bezogen auf die repräsentative Demokratie, wie sie das Grundgesetz normiert hat, wie sie als "lebendige Verfassung" praktiziert wird, müssen zwei Hinweise genügen. Einer in Sachen Rechtsstaat; einer in Sachen Verwirklichung der Grundrechte mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts. a) Rechtsstaat. Er wird im Grundgesetz schon durch seine Form verlangt. Art. 1 III GG verheißt die "unmittelbare Geltung" der Grund- und Menschenrechte. Art. 19 IV GG enthält die "Rechtswegegarantie". Im Säulenartikel (Art. 20 GG) wird normiert: "(II) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (III) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden." Vor allem der IX. Abschnitt des GG, die Rechtsprechung Art. 92 - 104 GG, ist einschlägig: Hervorzuheben sind die "Unabhängigkeit" der Richter, das Verbot von Ausnahmegerichten; die Abschaffung der Todesstrafe; die Geltung altrömischer Rechtsprinzipien à la keine Strafe ohne vorgängige Norm, keine Doppelbestrafung, Anspruch auf rechtliches Gehör und in Art. 104 GG wichtige Kautelen in Sachen Freiheitsentziehung. Der rechtlichen Bindung herrschaftlicher Zu- und Eingriffe galt ein Jahrhunderte langer Kampf bürgerlicher Gruppen gegen Herrschaften, die nicht dem Zwang unterlagen, sich förmlich zu legitimieren. Rechtsstaat bedeutete zunächst: nur aufgrund eines förmlich zustande gekommenen Gesetzes darf in bürgerliche Verhältnisse und Rechte eingegriffen werden. Das Eigentumsrecht bildet den Springquell der Rechte. Seit dem Grundgesetz wird ein zusätzlicher Bezug verlangt. Alle Gesetze müssen den Grundrechten konform verabschiedet und verwirklicht werden. Zum Argument der Rechtsform ist das Argument der Rechtsqualität hinzugetreten. Das Rechtsstaatsargument droht meist den qualitativen Bezug auf die Grundrechte zu unterschlagen. Die Form des Rechtsstaats und ihr Doppelbezug geraten durch Faktoren in Gefahr, die die repräsentative Demokratie insgesamt bedrohen. Die Fülle der Entscheidungen, Maßnahmen, organisierenden Prinzipien, Verträge usw., die rechtlich verschlaucht werden, haben ein labyrinthisches Knäuel und ein daraus entstehendes inhaltlich interpretatorisches Gewirr zur Folge. Das bürgerlich Wichtigste an der Form des Rechts, nämlich die Rechtssicherheit geht verloren. Je mehr die Gesetze zunehmen, je umfangreicher sie werden, desto mehr werden sie zu Fällen und Fallen der Rechtsklugheit. Über sie verfügen die Juristen der herrschenden Interessengruppen am meisten. Ein veränderter staatlicher Regelungsbedarf richtet Gesetze zunehmend in die Zukunft. An den Technologie-, Sicherheits-, Gesundheits- und Sozialgesetzen ist die "präventive Kehre" des Rechts zu belegen. Die Normierungen verlieren ihre vergleichsweise präzise Sprache. Genauigkeit kann nur bei prinzipiell bekanntem Problemverhalten annäherungsweise erreicht werden. Die Zahl von unbestimmten Rechtsbegriffen, von Generalklauseln, von vagen Normierungen nimmt zu. Sie muss zunehmen, wenn unbekannte Noch-Nicht-Zustände und in ihrer Realisierung offene Ziele vorweg normiert werden. Viele Gesetze werden darum zu Ermächtigungsgesetzen zuständiger öffentlicher und privater Verwaltungen. Sie allein können Formeln und Formen zu gegebener Zeit nach ihren politischen und institutionellen Interessen auslegen. Bürgerliche Rechtssicherheit geht verloren. b) Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechte. Das Grundgesetz kennt eine neue Institution der Judikative, ein oberstes Nebengericht neben den anderen Rechtsprechungsorganen: das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Nur der Grundrechtsbeitrag des Bundesverfassungsgerichts sei hier pointiert: Zum ersten leistet das BVerfG mit seinen Entscheidungen wichtige Hilfen bei der Auslegung von Grundrechten. Art. 5 I GG (Meinungsfreiheit) ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Aber auch in diesen gelungenen Fällen folgt das Bundesverfassungsgericht gemäß der herrschenden Meinung einem individualistischen, das heißt a-sozialen Verständnis der Grund- und Menschenrechte. Dieses wird außerdem nicht mit der nötigen Konsequenz versehen, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Grundrechte (mit-)bestimmen können müssen. Gälte die Verbindung grundrechtliche Normen und demokratische Formen strikt, dann könnte auf eine Fülle von einzelnen Gesetzen verzichtet werden. Wie andere Einrichtungen berücksichtigt das BVerfG die sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen human angemessen verstandener Grund- und Menschenrechte unzureichend. Zum zweiten: das BVerfG hat in den letzten Jahrzehnten mit dazu beigetragen, Grundrechte den veränderten Zeitumständen gemäß neu oder zusätzlich zu fassen. Dazu zählen seine Auslegungen von Art. 2 I und II GG (Persönlichkeitsrechte/Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit). Am 15. Dezember 1983 interpretierte es in seinem "Volkszählungsurteil", dem Recht auf Integrität zu Zeiten einer werdenden "Informationsgesellschaft" und eines darum nötigen aktiven Verständnisses von Information (Information als handelnder Eingriff) korrespondiere ein "informationelles Selbstbestimmungsrecht" jeder Bürgerin und jedes Bürgers. Am 27. Februar 2008, in seinem Urteil zur geplanten staatlichen online Infiltration von PCs und ihren Informationen, weitete das BVerfG den Begriff der freien Entfaltung der Persönlichkeit aus (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I). Er umfasse "das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Zu einem konsequenten Verbot der Online-Durchsuchung konnte sich das Gericht jedoch nicht durchringen. Zum dritten: Die Annahme, "Karlsruhe" gebühre so etwas wie - grundrechtlich bezogen - ein päpstlicher Charakter, ist nicht nur deswegen irrtümlich, weil der Gesetzgeber das letzte Wort hat. Besagte Annahme verschöbe auch die interpretatorischen Kompetenzen. Letztlich interpretieren Bürgerinnen und Bürger, was sie von ihren Grund- und Menschenrechten halten. Hinzu kommt, dass "Karlsruhe" in der Mehrheit seiner Entscheidungen den herrschenden Interessen folgt. Ein grund- und menschenrechtlich bedrückendes Beispiel stellt die Entscheidung des BVerfG (vom 14. Mai 1996) in Sachen Asylgrundrechtsänderung von Art. 16 II GG zu Art. 16 a GG dar. Herrschaftsopportun gaben Verfassungsrichterinnen und -richter der pervertierenden Verfassungsänderung von 1993 ihren Segen. Wenigstens den Mitgliedern des Gerichts, das Grundrechte schützen soll, hätte auffallen müssen: Schon die sprachliche Form des neuen Art. 16 a GG ist einem Grundrecht nicht angemessen. Wer sollte das zum Abwehrinstrument verkapselte Grundrecht verstehen außer Experten? (vgl. ähnlich der schier zu Tode veränderte Art. 13 GG, das Grundrecht auf Integrität der eigenen Wohnung). Zum vierten: Wie immer das BVerfG entscheiden mag, materielle, das heißt hier vor allem institutionelle Konsequenzen kann es nicht ziehen. Das gilt gerade für Urteile, die grundrechtsangemessen ausfielen, denen aber die regierenden Instanzen nicht folgen wollen. (vgl. das legislativ und exekutiv folgenlose Urteil des BVerfG von 1972 zum "Numerus clausus"). Diese Folgenlosigkeit von Entscheidungen, zuweilen ein Vorzug argumentativer Stimmigkeit, lässt das Gericht zu einer wichtigen, aber randständigen Einrichtung werden. Die Forderung des Tages lautet heute, morgen und übermorgen: Eine Verfassungsreform von Politik und Ökonomie mit einem balancierten, in sich pluralen Konzept ist überfällig. Eine solche grundsätzliche Reform - das zeigen unsere fünf kritischen Porträts - ist in den herrschenden politischen Formen nicht möglich. Sie erfordert ein grundsätzlich anderes, demokratisches Denken und Handeln von unten und in den sozialen Bewegungen, plural und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassend. Damit ein anderes in Freiheit und Gleichheit konstituiertes Deutschland überhaupt möglich werden könnte. Köln, im Mai 2009 Heiner Busch, Corinna Genschel, Wolf-Dieter Narr, Dirk Vogelskamp