Acht Thesen über die Schwierigkeit, allzu einfache Wahrheiten über den Krieg im Nahen Osten zu vermeiden

Die folgenden Thesen sind vor dem Hintergrund laufender Auseinandersetzungen innerhalb der Friedensbewegung und während einer israelisch-palästinensischen Jugendbegegnungsfreizeit geschrieben, die im Rahmen des Projekts ‚Ferien vom Krieg’ des Komitees für Grundrechte und Demokratie organisiert wurde (s. www.ferien-vom-krieg.de). Sie zielen darauf, gegen aus meiner Sicht hoch problematische Formen der Kritik an der israelischen Kriegsführung und Politik Stellung zu beziehen, die sich nicht mit einer gleichzeitigen Kritik der antiisraelischen und auch antisemitischen Ideologie und Praxis der Hisbollah sowie der Terrorattentate und Raketenangriffe verbinden. Denn eine solche Kritik unterläuft die aus meiner Sicht zwingende Forderung, dass für eine friedenspolitische Positionierung zumindest gleiche Distanz gegenüber allen am aktuellen Konflikt beteiligten Seiten sowie eine hohe Sensibilität für antisemitische Tendenzen und Latenzen geboten ist.

1. Es gibt keine einfachen Wahrheiten, denn: a. Der Nahostkonflikt hat komplexe historische Voraussetzungen und an ihm sind in einer komplexer Konstellation direkte und indirekte Akteure beteiligt, die je eigene Interessen verfolgen und je eigene Positionen und Ideologien zum Einsatz bringen. Eine angemessene Analyse kann weder innere Konflikte innerhalb der israelischen Politik und Gesellschaft, noch innerhalb des sog. „arabischen Lagers“ ausblenden und hat auch in Rechnung zu stellen, dass die Interessen arabischer Staaten und palästinensische Interessen keineswegs identisch waren und sind. b. Auseinandersetzungen über die Ursachen und Verlaufsformen werden in Deutschland auf der Grundlage heterogener, nicht notwendig konkurrierender, aber de facto wiederkehrend zu gegensätzlichen Positionierungen führenden Perspektiven geführt: einer im Kern antiimperialistischen bzw. gegen eine Globalisierung unter kapitalistischen Vorzeichen gerichteten Perspektive einerseits, einer anti-antisemitischen, der Auseinandersetzung mit dem Holocaust verpflichteten Perspektive andererseits. Jede dieser Perspektiven impliziert je spezifische Aufmerksamkeit und Sensibilitäten.

2. Die Grenze zwischen einer legitimen Kritik israelischer Politik und einer Israelkritik, in der sich antisemitische Überzeugungen als vermeintlich rationale Argumente artikulieren, ist keineswegs einfach festzulegen. Gegenüber Tendenzen zu diesbezüglichen Grenzüberschreitungen ist kritische Aufmerksamkeit unverzichtbar. Meines Erachtens stellt jede Infragestellung des Existenzrechtes des Staates Israels ebenso eine solche Grenzüberschreitung dar wie Argumentationen, die Israel vereinseitigend für das Scheitern von Friedensverhandlungen verantwortlich machen. Der Vorwurf einer illegitimen, da vereinseitigenden Kritik ist meines Erachtens auch dann begründet, wenn die militärische Bedrohung Israels durch den Iran und Syrien nicht als ein Rahmen mitgedacht wird, in dem der aktuelle Konflikt situiert ist.

3. Israel ist, anders als gelegentlich aus Friedensbewegungskreisen zu hören ist, nicht schlicht ein ‚Flugzeugträger der USA’. Über die israelische Politik wird in Israel in kontroversen Auseinandersetzungen entschieden.1 Die US-Regierung verfolgt eigene Interessen und ist auf die Zustimmung unterschiedlicher Wählergruppen angewiesen, nicht zuletzt auf die der starken christlich-fundamentalistischen Gruppen. Wer aber glaubt, dass die eine „jüdische Lobby“ unmittelbar und direkt die Regierungspolitik gegenüber Israel bestimmt, sitzt einem offenkundigen antisemitischen Vorurteil auf.

4. Die Hisbollah und Teile der Hamas wenden sich erklärtermaßen gegen eine Zwei-Staaten-Lösung und bestreiten das Existenzrecht eines israelisch-jüdischen Staates. Es werden unterschiedliche Visionen formuliert, die von einem palästinensischen Staat mit einer geduldeten jüdischen Minderheit bis zur Vertreibung aller Juden aus Palästina reichen. Der ideologische Kontext umfasst nicht „nur“ antiisraelische sowie antizionistische, sondern auch explizit antisemitische Strömungen. Letztere sind keineswegs einfach als eine problematische Reaktion auf den Nahost-Konflikt verständlich, sondern sie instrumentalisieren den Nahost-Konflikt als Legitimationsgrundlage für tradierte ideologische Muster (s. dazu u.a. Wetzel 2004).

5. Der gegenwärtige arabische bzw. islamistische Antisemitismus ist keine nachträgliche Reaktion auf den Nahost-Konflikt, sondern reicht historisch weiter zurück und weist u.a. ideologische Verbindungen zum nationalsozialistischen Antisemitismus auf (s. dazu Holz 2005: 15ff.).

6. Wer als Deutsche/r über Israel und Palästina redet, kann keine vermeintlich neutrale Position für sich in Anspruch nehmen. Denn jede Thematisierung des eigenen Verhältnisses zu Israel ist immer auch eine indirekte Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Argumentationen, die dies ausblenden, verdrängen einen Hintergrund, ohne den auch die emotionalen Aufladungen der Kontroversen nicht verständlich sind. Solche emotionalen Aufladungen sind nicht vermeidbar, es kann nur versucht werden, sie so weit als möglich reflexiv einzuholen.

7. Aus dem Wissen um die Geschichte der Judenvernichtung können keine eindeutigen und direkten Folgerungen für die eigene Positionierung zum aktuellen Konflikt abgeleitet werden. Meines Erachtens markieren die Anerkennung des Existenzrechtes des israelischen Staates und die Ablehnung aller Formen des Antisemitismus gleichwohl einen nicht zu überschreitenden Rahmen legitim zu führender Diskussionen in einer deutschen Perspektive. Von der Friedensbewegung ist zu erwarten, dass sie diesen Rahmen in einschlägigen Erklärungen auch explizit formuliert.

8. Mit Friedensappellen an die Hisbollah, die Hamas sowie die israelische Regierung wird die Friedensbewegung wenig erreichen. Aussichtsreicher ist es, Projekte und Gruppierungen in Israel und in Palästina zu unterstützen, die auf Konfliktdeeskalation und nicht-militärische Lösungen hinarbeiten.

Albert Scherr

Literatur Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Hamburg Wetzel, Juliane (2004): Antisemitismus und Holocaustleugnung als Denkmuster radikaler islamistischer Gruppierungen. In: BMI (Hg.), Extremismus in Deutschland. Berlin, S. 253-272 1 Informativ hierzu ist die englischsprachige Internetseite www.haaretz.com