Alles auf eine Karte?

 

 

Wolfgang Linder hat für das Komitee für Grundrechte und Demokratie am 10.02.2012 an dem öffentlichen Fachgespräch der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag zur elektronischen Gesundheitskarte teilgenommen.  Das Thema lautete >>“Alles auf eine Karte?“ – Sicherheit für Gesundheitsdaten?<<

 

Das Thesenpapier von Wolfgang Linder veröffentlichen wir nachfolgend:

 

 

 

 

 

 

These 1

Die Entwicklung einer zentralistisch organisierten Telematik-Infrastruktur (TI) für das Gesundheitswesen verlangt nicht nur einen immensen finanziellen Aufwand, sondern führt auch  – und bezweckt dies geradezu – zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens.

 

Beginnend 1997 mit der Roland-Berger-Studie zur Telematik im Gesundheitswesen, fortgeführt 2000 mit der Strategie der Bundesregierung zum eGovernement und kontinuierlich bis heute fortgesetzt, wird das Ziel angestrebt, zum einen den Absatz der deutschen IT-Industrie und deren Export zu fördern und zum anderen das Gesundheitswesen den Regeln der Betriebswirtschaft zu unterwerfen. Dabei geht man von zwei Prämissen aus:

 

 

 

1. Die Ausgaben für Gesundheit wachsen überproportional, sie müssen daher – u.a. durch Einsatz von IT-Technologie - begrenzt/gesenkt werden. Die Strategie, die Finanzierungsgrundlage durch die Bürgerversicherung zu verbreitern, wird dabei, wohl angesichts mächtiger Gegeninteressen, ausgeblendet. Dass Technikeinsatz die Kosten senkt, wird eher behauptet als belegt.

 

 

 

2. Was technisch und ökonomisch sinnvoll oder möglich ist, dient auch der Gesundheit der Bevölkerung. Dass die Technisierung der Gesundheitsversorgung und ihre Strukturierung nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien Nachteile mit sich bringen könnten, wird ausgeblendet.

 

These 2

Die elektronische Gesundheitskarte wird als ein Vehikel „verkauft“, mit dessen Hilfe Ärzte und Kliniken untereinander besser und sichererer kommunizieren können. Die digitale Vernetzung von Ärzten und Kliniken zwecks Punkt-zu-Punkt-Kommunikation wird jedoch bereits jetzt in vielen Netzwerken praktiziert bzw. aufgebaut. Hier bedarf es der Koordinierung,  Unterstützung und Förderung vor allem regionaler Strukturen. Statt dessen wird eine gigantische, technisch anfällige und kostspielige zentralistische TI durchgedrückt, die sich nicht an den Bedarfen von Anwendern und Patienten, sondern an den oben in der These 1 aufgeführten fiskalen und ökonomischen Interessen orientiert.

 

Am Beispiel des Projekts „elektronische Gesundheitskarte“ wird die Dominanz der Industriepolitik über die Gesundheitspolitik am deutlichsten. Es dient realiter als Deckmantel zum Aufbau zentralistischen TI-Struktur. Nicht die Anwender, geschweige denn die betroffenen/angeblich begünstigten Patienten artikulieren ihre Bedarfe, sondern per legislativer Mehrheit, per Lobbyarbeit, per admininstrativem Zwang und per Androhung finanzieller Sanktionen wird das Projekt - selbst gegen wiederholte Voten des Deutschen Ärztetages -  „top-down“ vorangetrieben. Der Britische Gesundheitsdienst hat gerade ein inhaltlich und vom Verfahren her vergleichbares Projekt zum Aufbau elektronischer Patientenakten gestoppt (heise online vom 23.09.11). In Österreich ist es hingegen durchgesetzt worden, Chaos im Gesundheitswesen ist die Folge.

 

These 3

Das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ soll seinen krönenden Abschluss dadurch erhalten, dass sämtliche medizinischen Behandlungsdokumentationen möglichst vieler Bürger auf zentralen Servern gespeichert werden.

 

Laut dem unwidersprochen gebliebenen von der Gematik in Auftrag gegebenen Gutachten von Booz-Allen-Hamilton werden sich die Aufwendungen für das Projekt erst dann amortisieren können, wenn die Funktion der elektronischen Patientenakte realisiert worden ist. Unabhängig von der Umsetzung der derzeit zwecks Persönlichkeitsschutz gesetzlich geforderten technischen Vorkehrungen und Verbote aber würde dadurch ein auf die Dauer nur schwer zu beherrschendes Gefährdungspotenzial geschaffen.

 

These 4

Der daraus resultierende Druck, die zentralistische TI-Struktur auch mit der anspruchsvollsten Funktion der elektronischen Patientenakte aufzubauen und möglichst viele Ärzte und Patienten einzubeziehen, lässt zusätzlich befürchten, dass notfalls rechtliche Hürden, vor allem die gesetzlichen Garantien für die Selbstbestimmung von Ärzten und Patienten, für das ärztliche Berufsgeheimnis und für den Datenschutz, abgeräumt werden.

 

Die  wiederholten Gesetzesänderungen, die sämtlich dazu dienten, das Projekt elektronische Gesundheitskarte mit zentralistischer TI-Struktur durchzusetzen, lassen das schlimmste befürchten: Sämtliche Änderungen wurden jeweils ohne jede öffentliche oder parlamentarische Diskussion im Eilverfahren durchgesetzt, so

 

  • das Versichertenstammdatenmanagement einschließlich der Öffnung der ärztlichen Behandlungsdokumentationen ins Internet,
  • die Aufweichung der Vorgabe, vor der Implementierung von Anwendungen deren Funktionieren in mehreren Stufen zu testen (Praxis und Tests sollen jetzt parallel laufen können!?) und
  • die Androhung gegenüber den inzwischen zunehmend „abtrünnigen“ gesetzlichen Krankenkassen (sogar diese!), sie würden finanzielle Einbußen erleiden, wenn sie nicht bis Ende 2011 10% und bis Ende 2012 70 % ihrer Versicherten mit der Karte ausstatten.

 

Man bedenke: Das Projekt steht erst ganz am Anfang. Sollten diese Beispiele bei den künftig zu erwartenden Schwierigkeiten und Widerständen Schule machen, wird man noch andere Zwangsmittel, und auch gegen Ärzte und Versicherte einsetzen.

 

These 5

Bereits die erste in Angriff genommene freiwillige medizinische Anwendung, der Notfalldatensatz, stößt auf erbitterten Widerstand der Hausärzte, die bei seiner Realisierung die Hauptlast tragen dürften.

 

Der Umfang des sog. Notfalldatensatzes soll weit über das hinausgehen, was der Wortsinn eigentlich hergibt. Zudem ist er nicht strikt definiert. Es soll Sache der Ärzte, hier in der Praxis der Hausärzte, sein, zu entscheiden, welche Daten aufgenommen werden. Man könnte den Notfalldatensatz besser als elektronische Patientenakte in Kurzform bezeichnen, für die ein Langtextfeld zur Verfügung steht. Getestet werden soll bei bereits laufender Praxis.

 

These 6

Trotz all dieser politischen Entscheidungen einer willfährigen parlamentarischen Mehrheit ist der Erfolg des Projekts noch nicht gesichert.

 

Erst die Realisierung der sog. freiwilligen Anwendungen, d.h. wenn eine übergroße Mehrzahl von Ärzten und Patienten von deren Vorteilen überzeugt sein werden bzw. das Gesetz so geändert worden ist, dass die freiwilligen Anwendungen zwangsweise realisiert werden, kann über den Erfolg des Projekts entschieden werden. Ohnehin werden die Komplexität des Projekts, seine immensen Kosten und der Widerstreit der unterschiedlichen Interessen hohe Hürden darstellen.

 

These 7

Auch die angebliche Gefahr, dass Kartenprojekte mit wesentlich weniger  Datenschutz ihm  zuvorkommen könnten, kann das E-Card-Projekt der Gematik nicht rechtfertigen.

Derartige Projekte sind bislang auf wenig Interesse gestoßen. Google Health ist zum 01.01.2012 eingestellt worden An der elektronischen Patientenakte der BEK waren 2007 noch 3000 Versicherte beteiligt, Anfang 2010 nur noch 800.

 

 

Wolfgang Linder

(ehemaliger stellvertretender Datenschutzbeauftragter in Bremen und AG Gesundheit)

 

 

Auf der Homepage von Kathrin Vogler können die Video-Mitschnitte von der Veranstaltung angesehen werden:

 

 

www.kathrin-vogler.de/themen/gesundheit/elektronische_gesundheitskarte/details_egk/zurueck/elektronische-gesundheitskarte/artikel/alles-auf-eine-karte-die-linke-lud-zu-einer-heissen-diskussion-ueber-die-e-card-und-digit/