16. Nov. 2003

Auf dem Weg in den Atomstaat

Der Transport von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager in Gorleben ist auch in diesem Jahr wieder mit polizeilichen (Gewalt)Mitteln durchgesetzt worden. Jedoch betont die Polizei durchgängig in ihrer Presseerklärung zum ersten mal seit Beginn der Castor-Transporte (1995), dass der Widerstand gegen diesen Transport sympathisch, friedlich und fair war. Kann nun auch der Widerstand zu dem Schluss kommen, dass die Polizei den Grundrechten gemäß mit den Protesten umgegangen ist? Können die Bürgerrechtsbewegungen aufatmen, weil endlich der Protest zugelassen wird und der Transport trotzdem möglich ist? Sind Robert Jungks Warnungen vor dem Atomstaat obsolet geworden?

von Elke Steven

Robert Jungk warnte vor den Folgen der Nutzung der Atomenergie, da diese Technik immanent dahin tendiert, die Demokratie zu zerstören. Einschränkung der persönlichen Freiheit, Repressionen, Ängste und gegenseitige Bespitzelung seien damit zwangsläufig verbunden. "... ein Land, dasseine Atomindustrie ausbaut, wählt damit den «starken Staat» in Permanenz".

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat die vielfältigen Proteste gegen den Castortransport und den polizeilichen Umgang damit in der Zeit vom 8. November bis zur Einlagerung im Zwischenlager in den frühen Morgenstunden des 12. Novembers 2003 mit 13 DemonstrationsbeobachterInnen begleitet. Entgegen manchem Anschein des Schutzes des Demonstrationsrechts durch die Polizei und einer polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit, die den Protest lobend vereinnahmt, kommen wir zu dem Schluss, dass die Gefahr für die Demokratie eher größer geworden ist. Spür- und sichtbar geworden ist, dass wir uns auf dem Weg in den Überwachungsstaat, ja denPolizeistaat befinden. Ein grundlegendes Kennzeichen des Polizeistaats, so fragwürdig uns dieser Begriff auch immer wieder scheint, ist die fehlende Rechtssicherheit für den Bürger und die Bürgerin.

Staatliche Überwachung aller Lebensäußerungen in dieser Region ermöglichen die Kontrolle über jegliches Geschehen. In diesem Rahmen ist dann auch ein großzügiges Gewährenlassen möglich. Dies aber hat nichts mehr mit dem staatsfreien souveränen Protest von Bürgern und Bürgerinnen zu tun. So können wir einerseits feststellen, dass die polizeilichen Eingriffe in die Bewegungsfreiheit der Bürger und Bürgerinnen und in das Demonstrationsrecht zum Teil geringer ausfielen als wir dies in den Jahren zuvor beobachtet haben.

  • Die Auftaktkundgebung am Samstag, den 8.11.2003, konnte in Splietau in unmittelbarer Nähe der Transportstrecken stattfinden. Traktoren konnten an dieser Demonstration teilnehmen und konnten im Anschluss über eine der möglichen Transportstrecken nach Gusborn zu einer Kunstaktion fahren.
  • Trotz Versammlungsverbot per Allgemeinverfügung wurden Demonstrationen auf der Straßentransportstrecke oft nicht umgehend aufgelöst.
  • Zu Ingewahrsamnahmen kam es erst während der Aktionen zur unmittelbaren Behinderung des Transports.
  • Traktoren, die auf dem Feld standen und seit Samstag nicht bewegt worden waren, wurden Montag abend nicht beschädigt, sondern beschlagnahmt und eingezäunt.
  • Auch beim Schienentransport wurde nicht unbedingt auf der Einhaltung der 50m-Grenze bestanden. In Hitzacker standen Demonstrierende fast unmittelbar neben dem Bahngleis, als der Transport vorbei rollte.
  • Konflikten um Dinge, die nicht unmittelbar mit der Durchsetzung des Transports zu tun hatten, ging die Polizei meistens aus dem Weg. Immer wieder konnten wir ein deeskalierendes Verhalten beobachten.

Allerdings sind diese Vorgehensweisen nur möglich auf der Grundlage einer weitgehenden Überwachung und von fast unbeschränkten Eingriffsmöglichkeiten.

  • Das tatsächliche Verhalten der Polizei machte deutlich, dass die Allgemeinverfügung nicht rechtsmäßig war. Die darin prognostizierte Gewalt, die ein solches großräumiges und zeitlich ausgedehntes Versammlungsverbot rechtfertigen sollte, entsprach weder den Tatsachen, noch glaubte die Polizei selbst an ihre Prognose. Damit entfiel die Rechtsgrundlage, die ihr ein jederzeitiges Eingreifen und Durchsetzen des Verbots ermöglichte.
  • Eine Demonstration eine Stunde nach Ankunft des Castortransportes am Verladekran wurde ebenfalls mit der Prognose von Gewalt verboten. In der gerichtlichen Bestätigung des Verbots war von der Gefahr eines "polizeilichen Notstands" die Rede. Die Rede von polizeilichem Notstand ist angesichts der tatsächlichen Verhältnisse eines friedlichen Protestes absurd. Hinzu kommt, dass die Zahlenverhältnisse eine solche Prognose grotesk erscheinen lassen. Knapp 13.000 Polizei - und BGS-Beamte standen nach Einschätzung der Polizei einer Zahl von 3.000 bis 4.000 Demonstrierenden gegenüber. Darüber hinaus machte das polizeiliche Verhalten aber auch hier deutlich, dass sie eine solche Prognose selbst nur taktisch einsetztenund nicht ernst meinten. Demonstrierende konnten bei Ankunft des Castortransportes am Verladekran in unmittelbarer Nähe ihren Protest zum Ausdruck bringen. Auch danach war es immer wieder möglich, auf die Straßentransportstrecke zu gelangen.
  • Zum Schutz der Eigentumsrechte der Betreibergesellschaft auf diesen Transport wurden die Eigentumsrechte der Bürger und Bürgerinnen immer wieder missachtet, ja mit Füßen getreten. Die Traktoren, die seit Samstag als "Kunstwerk" bei den Kunst-Gräbern zum Gedenken an den Bundestagsbeschluss zum sogenannten Atomkonsens bei Gusborn standen, wurden ohne jeden konkreten Verdacht oder Anlass beschlagnahmt und stillgelegt. Das Grundstück, auf dem sie standen, wurde ebenfalls beschlagnahmt und zu polizeilichen Zwecken der Materiallagerung genutzt. Privatgrundstücke an der Strecke wurden von der Polizei - etwa für den Kessel der mobilen Ingewahrsamnahme bei Grippel - in Beschlag genommen. Zäune wurden dabei mutwilllig zerstört.
  • Unabhängig von der Qualität der Räumung in Grippel in den frühen Morgenstunden des 12.11.2003, kurz vor Beginn des Straßentransportes, ist die Art, wie hier Druck auf die Demonstrierenden ausgeübt wurde, die Straße zu verlassen, widerrechtlich. Den Blockierenden wurde angedroht, wenn sie nicht freiwillig die Straße verließen, würden die härtesten Möglichkeiten körperlicher Gewalt zur Räumung eingesetzt. Wasserwerfer standen drohend um die Blockade. Schlagstockeinsatz war abzusehen. Dass dies unverhältnismäßige Mittel zur Räumung einer Sitzblockade sind, bedarf keiner weiteren Diskussion. Diese Mittel wurden auch nicht eingesetzt. Jedoch setzt die Drohung die Bürger und Bürgerinnen unter einen unverhältnismäßigen Druck, um ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen. Dass diese "Nötigung" erfolglos war, ist der Besonnenheit der oft sehr jungen Demonstrierenden zu verdanken.
  • Bei einigen Räumungen von Blockaden beschränkte sich die Polizei im wesentlichen darauf, die DemonstrantInnen wegzutragen. Dennoch kam es auch in diesen Fällen immer wieder zum Einsatz körperlicher Gewalt durch Polizeibeamte. Extrem gewaltsam verlief dagegen ein Teil der Räumung der gewaltfreien Sitzblockade in Rohstorf. Hier weigerte sich eine bayerische Polizeieinheit (USK Nürnberg), die Sitzblockierenden wegzutragen, und drohte öffentlich denen, die ihren Protest nicht freiwillig beenden wollten, mit Gewalt. Tatsächlich wandten diese Polizeibeamten hier vielfach in unnötiger und damit unverhältnismäßiger Weise schmerzhafte Hebelgriffe an. Viele Demonstrierende wurden verletzt.
  • Die Einkesselungen kurz vor Beginn des Straßentransportes sind ebenfalls als kurzfristige Ingewahrsamnahmen zu verstehen, die pauschal alle Anwesenden betrafen. In Laase wurde gar ein ganzer Ort "in Gewahrsam" genommen und am Fortbewegen gehindert.
  • Das erst kürzlich ergangene Gerichtsurteil zur Notwendigkeit der individuellen Prüfung von Ingewahrsamnahmen und zur sofortigen richterlichen Überprüfung wurde in vielen Fällen nicht eingehalten. Einige Personen waren 14 bis 19 Stunden in Gewahrsam.
  • Der Einsatz von verdeckten Ermittlern/ Spitzeln wird immer selbstverständlicher genutzt. Ein Teil derjenigen, die aus der Blockade in Rohstorf in Gewahrsam genommen worden waren, wurde mit der Begründung über Stunden in der Gefangenensammelstelle festgehalten, dass ein Spitzel der Polizei bei den Vorbesprechungen der Gruppe gehört hätte, dass sie sich erneut auf die Transportstrecke begeben wollten. Eine individuelle Zurechnung wurde nicht überprüft. Anwälte und Betroffene fanden selbst kein rechtliches Gehör.
  • Schon in den vergangenen Jahren schob die Polizei einen absurden Terrorismus-Verdacht vor, um Telefone der Atomkraft-GegnerInnen zu überwachen. Auch in diesem Jahr berichtete die Bürgerinitiative Umweltschutz von Hinweisen auf Telefonüberwachungen.

So bleibt festzustellen, dass die Polizei sich - illegitimerer Weise - fast unbegrenzte Eingriffsbefugnisse und Überwachungsmöglichkeiten schaffte. Auf dieser Grundlage konnte sie Proteste großzügig genehmigen - oder auch nicht. Dies aber hat nichts mehr mit dem Versammlungsrecht der Bürger und Bürgerinnen zu tun wie es das Grundgesetz vorsieht und wie erst recht das Bundesverfassungsgericht es im Brokdorf-Beschluss ausgelegt hat. Bürger und Bürgerinnen haben das Recht sich zu versammeln. Dieses Recht darf nur in Ausnahmesituationen eingeschränkt werden - abgeschafft werden darf es in einer Demokratie nicht.

gez. Elke Steven