17. Mai 2021© dpa
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Auf die Schwächsten zielen: Kriminalisierung von Flucht

 Nach dem langen Sommer der Migration im Jahr 2015 verstärkte die Europäische Union ihren „Kampf gegen Migrant*innenschmuggel“. Öffentlich richtet er sich gegen organisierte Schleusernetzwerke und wird als humanitäre Schutzmaßnahme für Menschen auf der Flucht deklariert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Schutzsuchende werden drakonisch bestraft und weggesperrt. Laut Griechischem Justizministerium umfasste die Zahl von wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ Inhaftierten am Stichtag 1. Januar 2019 1.905 Personen. Obgleich die Überfahrten von der Türkei nach Griechenland seit dem „Erdogan-Deal“ im März 2016 drastisch abgenommen haben, verdoppelten sich im gleichen Zeitraum die Festnahmen wegen des Vorwurfs der Schleuserei.

KURZER PROZESS MIT WEHRLOSEN

Flüchtende, die bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland das Schlauchboot steuern, werden von griechischer Polizei, Küstenwache und Frontex automatisch als Schleuser betrachtet. Die Identifizierung folgt einem Raster: Die Beschuldigten sind ausnahmslos männlich, entweder türkische Staatsbürger oder werden dafür gehalten, oder ihre Nationalität unterscheidet sich vom Rest der Gruppe. Interviews mit Beschuldigten zeigen, dass diese meist aus einer Notsituation heraus handeln: Als Gegenleistung für die anders nicht erhältliche Überfahrt oder durch Waffengewalt werden sie zum Steuern des Bootes gezwungen, während jene, die das Boot organisieren, an Land bleiben.

Die Beschuldigten werden in Griechenland systematisch zu mehreren Jahrzehnten Haft verurteilt. Häufig kommen Geldstrafen von mehreren 100.000 Euro hinzu. Als „Menschenschmuggler“ diffamiert, erhalten die „Steuermänner“ zudem keinerlei Solidarität oder Unterstützung. Zwei junge Männer aus Afghanistan wurden im März 2020 auf Lesbos zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt, einem syrischen Mann drohen 52 Jahre Haft. Neben den astronomisch hohen Strafen ist die Verfolgung von „Schleuserei“ in Griechenland durch weitere Grundrechtsverletzungen gekennzeichnet, wie eine aktuelle Studie * zeigt. Informationen werden bei Ankunft oft mit Gewalt von den Beschuldigten und Mit reisenden erpresst.

Häufig wird weder der Grund der Verhaftung mitgeteilt, noch eine vorgeschriebene Übersetzung bereitgestellt. Die Inhaftierung im Polizeigewahrsam dauert oft viele Monate, die gerichtliche Anhörung dagegen durchschnittlich 38 Minuten. Eine rechtliche Vertretung wird erst zur Verhandlung zugelassen und gewöhnlich werden ausschließlich Mitglieder von Küstenwache und Polizei als Zeug*innen gehört.

IM NAMEN DER HUMANITÄT?

Die Schuld an den Tausenden Toten im Mittelmeer wird besonders von konservativer Seite gern im Schleuserwesen gesucht, statt in der Abschottungspolitik der EU-Staaten. Die militarisierte EU-Grenzpolitik hält in kolonialer Tradition ein auf Ungleichheit beruhendes System aufrecht, das Menschen aus dem Globalen Süden systematisch ausschließt und ihre Bewegungsfreiheit illegalisiert. Für einen Asylantrag in der EU bedarf es aber des physischen Grenzübertritts auf europäisches Territorium. Da dies auf legalem Weg verunmöglicht wird – humanitäre Visa sind praktisch nicht existent – sind Menschen auf die Hilfe von Schleuser*innen angewiesen.

Eine UN-Resolution von 1993 unterscheidet das Schleusen von Menschen unmissverständlich von Menschenhandel: Menschenhandel als ausbeuterische Praxis, wie Zwangsprostitution oder moderne Sklaverei, das Schleusen dagegen als Ermöglichung des Grenzübertritts anderer zum persönlichen Gewinn. Letzteres erfolgt normalerweise mit Einwilligung der Migrant*innen. EU-Verordnungen führten inzwischen beide Straftatbestände zusammen und ermöglichen den Mitgliedsstaaten mit unscharfen Formulierungen umfangreiche Interpretationsspielräume und Sanktionen.

Die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht als vermeintliche Steuermänner ist nicht auf die Ägäis beschränkt. Auch in Italien endet die Flucht über das Mittelmeer für viele von ihnen im Gefängnis. Dort sind zwar die Strafen geringer, doch die Kriminalisierung verläuft nach dem gleichen Schema. Während Menschen auf der Flucht gesellschaftlich ausgegrenzt und kriminalisiert werden, bleiben organisierte Strukturen unbehelligt: Der ehemalige Warlord und Kommandant der so genannten Libyschen Küstenwache Al Bija mit engen Beziehungen in die italienische Politik war 2020 in Libyen als Kopf eines Schmugglerrings festgenommen worden. Er kam nun frei, da die Anklagepunkte gegen ihn nicht ausreichten.

Zum Weiterlesen: Bordermonitoring.eu e.V. (Hrsg.), Stigmatisiert, kriminalisiert, inhaftiert. Der Kampf gegen vermeintliche „Schleuser“ auf den griechischen Hotspot-Inseln (2020)

Autor*in: Britta Rabe