24. Nov. 2022
(Anti-)Rassismus / Abolitionismus / Demokratie / Polizeigewalt / Rechtsstaatlichkeit / Soziale Menschenrechte

Bodycams: Wunsch und Wirklichkeit

Am 8. August 2022 tötete die Polizei in Dortmund den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé durch Schüsse aus einer Maschinenpistole, nachdem sie ihn schon mit Pfefferspray und Taser angegriffen hatten. Der Junge saß - vermutlich mit suizidalen Absichten - im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung und hielt sich ein Messer vor den Bauch. Anstatt Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung anzubieten, entschieden sich die Polizist*innen innerhalb von nicht einmal 30 Minuten für tödliche Gewalt. Mouhameds Tod löste in Dortmund und darüber hinaus große Bestürzung und Wut aus. Es gibt anhaltende Proteste und ein sehr aktives Solidaritätsbündnis, das auch den Kontakt zu Mouhameds Familie im Senegal hält. Durch den Druck aus der Zivilgesellschaft scheinen ausnahmsweise ernsthafte Ermittlungen geführt zu werden1. Der leitende Staatsanwalt und sogar der Innenminister von NRW sahen sich gezwungen, öffentlich Kritik an den beteiligten Polizist*innen zu üben – eine absolute Seltenheit.

Im Rahmen der Proteste und medialen Diskussion erhielt ein Aspekt überraschend große Aufmerksamkeit: der Fakt, dass alle zwölf bei dem Einsatz anwesenden Polizist*innen ihre Bodycams ausgeschaltet ließen. Dies sorgte in den Sozialen Medien für Empörung und bestimmte tagelang die Schlagzeilen zum Fall. Die Polizei führte unterschiedliche Begründungen an: zunächst hieß es, in der Stresssituation hätten alle Beamt*innen vergessen, die Bodycams einzuschalten. Kurz darauf wartete das Innenministerium mit der Begründung auf, das Filmen suizidaler Handlungen falle unter „höchstpersönliche Lebenssachverhalte“ und sei der Polizei nicht gestattet.

Der Öffentlichkeit scheint weitgehend unbekannt zu sein, dass die Einführung von Bodycams in Deutschland nie dafür gedacht war, polizeiliches Handeln überprüfbar zu machen – dass die Polizist*innen in Dortmund also schlicht im Rahmen der geltenden Gesetze handelten. Bodycams sollen vorrangig zum Schutz der Polizei dienen. Beamt*innen bestimmen daher selbst über deren Nutzung und zu welchem Zeitpunkt sie Aufnahmen machen.2 Die Verantwortung für das Löschen von Aufnahmen liegt ebenfalls in der Hand der Beamt*innen und ihrer Vorgesetzten. Das hatte NRW-Innenminister Reul noch 2019 vom Landtag bestätigen lassen, nun will er allerdings eine Trage- und Aufzeichnungspflicht prüfen.3

Dabei wird die Ausstattung der Polizei mit Bodycams unter wissentlicher Ausblendung bekannter Studienergebnisse voran getrieben. Der Schutz von Polizeibeamt*innen durch Bodycams wird mit einer vermeintlich deeskalierenden Wirkung auf das polizeiliche Gegenüber begründet. Ein Forschungsbericht von 2016 über den Bodycam-Einsatz in den USA und England kam jedoch zum Ergebnis, dass Polizist*innen mit Bodycam häufiger angegriffen würden. Auch eine 2019 veröffentlichte Evaluationsstudie zum Bodycam-Einsatz in NRW bestätigte die deeskalative Wirkung nicht, sondern offenbarte ein erhöhtes Risiko von Angriffen auf die Polizei.4 Zudem scheinen Bodycams auch Polizist*innen nicht dazu zu animieren, weniger Gewalt anzuwenden. Ein US-amerikanische Studie von 2016 verzeichnete gar einen Anstieg tödlicher Polizeischüsse5, wenn Bodycams getragen wurden. Diese Studienlage findet bisher keinen Eingang in den politischen und öffentlichen Diskurs.

Wie in den USA zielen die Erwartungen der Öffentlichkeit an Bodycams hier darauf ab, Fehlverhalten zu dokumentieren und die Rechenschaftspflicht der Polizei zu erhöhen. Doch auch das ist zu kurzsichtig: In einigen Fällen haben Bodycam-Aufnahmen zwar polizeiliches Fehlverhalten ans Licht gebracht, das sonst nicht aufgefallen wäre. Doch das heißt nicht, dass die Polizei systematischer zur Verantwortung gezogen würde. Videoaufnahmen beeinflussen nicht, wieviele Menschen von der US-Polizei getötet werden, die Zahl stieg in den letzten Jahren sogar weiter an6. Auch in den USA bleiben Bodycams häufig aus, werden unmittelbar vor (tödlichem) Gewalteinsatz ausgeschaltet oder kompromittierende Aufzeichnungen bleiben unter Verschluss. Während es jedoch in einigen Staaten der USA Gesetze gibt, die die Polizei zwingen, Aufzeichnungen zu veröffentlichen oder an Journalist*innen zu übergeben, wäre es in Deutschland nahezu unmöglich, an Aufnahmen zu gelangen, auch für Opfer und Anwält*innen. Der Großteil aller Ermittlungen gegen die Polizei – auch bei Todesfällen – wird innerhalb kürzester Zeit eingestellt. Videoaufnahmen, die von Polizist*innen erstellt werden und in Polizeibesitz verbleiben, werden an dieser Praxis nichts ändern. Ganz im Gegenteil: sie generieren eine große Menge an Überwachungsdaten, die bedeutende Eingriffe in die Grundrechte der gefilmten Personen darstellen, ganz überwiegend zur Strafverfolgung genutzt werden oder nur dann herangezogen werden, wenn sie die Polizei entlasten.7

Videoaufnahmen sind wichtig, um das riesige Problem tödlicher Polizeigewalt zu dokumentieren und ins Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins zu rücken. Der Wunsch nach Aufklärung, Konsequenzen und systemischer Veränderung ist verständlich und richtig. Doch sollte die Verfügungsgewalt über die Technik und die Bilder nicht der Polizei überlassen werden, sondern vielmehr als zivilgesellschaftlicher Auftrag verstanden werden. So, wie es KOP Berlin in ihrer aktuellen Kampagne fordern: Go film the police! Filmt die Polizei!

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1https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/toedliche-polizeischuesse-dortmund-100.html und https://www.ruhrnachrichten.de/dortmund/dortmund-gutachten-zu-tod-von-mouhamed-d-durchgesickert-w1805012-2000661818/

2www.lexsoft.de/cgi-bin/lexsoft/justizportal_nrw.cgi

3https://www.wz.de/nrw/nach-toedlichen-schuessen-in-dortmund-nrw-innenministerium-prueft-bodycam-pflicht_aid-76473497?

4www.hspv.nrw.de/fileadmin/user_upload/190429_Bodycam_NRW_Abschlussbericht.pdf

5https://www.semanticscholar.org/paper/Armed-with-Technology%3A-The-Impact-on-Fatal-by-the-Pang-Pavlou/8c1596d340e12be693713f4ad36512881b2bb606

6www.statista.com/statistics/585152/people-shot-to-death-by-us-police-by-race/

7www.aclu-wa.org/story/%C2%A0will-body-cameras-help-end-police-violence%C2%A0