Das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung

Das Menschenrecht auf Bildung gehört zum sozialen und kulturellen Fundament einer lebendigen Demokratie.

Bildung meint die Befähigung zu einer selbstbestimmten Lebensführung, zu moralischer Urteilsfähigkeit und Mitmenschlichkeit.

Thesen und Forderungen für die Situation in Deutschland

(Manifest der Gustav Heinemann-Initiative, der Humanistische Union und

des Komitees für Grundrechte und Demokratie,

verantwortlich für die GHI: Jutta Roitsch-Wittkowsky, Dr. Dieter Wunder,

für die HU: Ingeborg Rürup, für das Komitee: Prof. Dr. Albert Scherr)

 

Einleitung

Das Menschenrecht auf Bildung gehört zum sozialen und kulturellen Fundament einer lebendigen Demokratie.

Bildung meint die Befähigung zu einer selbstbestimmten Lebensführung, zu moralischer Urteilsfähigkeit und Mitmenschlichkeit. Bildung ermöglicht ein angemessenes Verständnis der gesellschaftlichen Lebensbedingungen, eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Macht- und Herrschaftsverhältnissen, Traditionen, Werten und Normen der Gesellschaft. Eine demokratische Einwanderungsgesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland benötigt Menschen, für die Menschenrechte, die Anerkennung anderer Menschen, Gerechtigkeit, Friedenssicherung und nachhaltige Entwicklung prägende Werte sind.

Bildung ist ein wesentlicher Baustein für die berufliche Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Zwar gewährleistet Bildung nicht die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit – dies ist Aufgabe von Politik und Wirtschaft, Bildung ist aber der Schlüssel beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Bildung erleichtert Menschen, an der Gestaltung und Entwicklung des Arbeitslebens selbstständig mitzuwirken.

Kinder und Jugendliche können erwarten, dass Bildung um ihrer Zukunft willen Priorität hat; Politik ist aber in der Gefahr, dies zu verweigern. Aktuell geht es in der Bildungspolitik um eine Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern sowie um Korrekturen am Schulwesen durch Tests und Qualitätsstandards. Eine angemessene öffentliche Debatte über Strukturen und Ziele der Bildung fehlt. Der Diskurs wird meist ökonomistisch verkürzt. Die internationalen Bildungsstudien richten ihr Interesse weitgehend und einengend auf arbeitsmarktrelevante Schlüsselkompetenzen. Ausgeblendet bleibt die Frage, was politisch und pädagogisch erforderlich ist, um die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und jungen Menschen umfassend zu unterstützen. Ausgeblendet bleibt ferner, wie politisches Interesse, politische Kompetenz sowie menschenrechtliche Sensibilität gefördert werden können. Die einzige internationale Vergleichstudie zur politischen Bildung – die Civic Education Study aus dem Jahr 2001 – kommt für Deutschland zu sehr negativen, wenn auch bisher kaum beachteten Ergebnissen.

Dennoch sind die neueren Bildungsstudien außerordentlich bedeutsam: sie belegen, dass das Menschenrecht auf Bildung in Deutschland nicht eingelöst wird. Das Bildungs- und Schulsystem selektiert Kinder und Jugendliche nach Geschlecht, Behinderung, Religion, nationaler und ethnischer Zuordnung, vor allem aber nach sozialer Herkunft. Dem dienen einen Vielzahl von Maßnahmen wie die Verteilung an weiterführende Schulen, Abschlüsse, organisatorische Maßnahmen wie Sitzenbleiben und Überweisung an andere Schulformen. 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen, einer Schulform, die andere Industrienationen nicht kennen, sind Kinder aus ausländischen Arbeiterfamilien; in den Gymnasien befinden sich in ähnlich hohen Prozentsätzen Kinder der „Oberen Dienstklasse“, also der akademisch Gebildeten, der höheren Kader des Öffentlichen Dienstes und der unternehmerisch wie wirtschaftlich starken Schichten.

In keinem vergleichbaren demokratischen Land ist die Klassenstruktur im Bildungssystem so ausgeprägt wie in Deutschland. Dieser Zustand ist aus bürger- und menschenrechtlicher Sicht ein Skandal und nicht hinnehmbar. Der Umbau des deutschen Bildungssystems ist daher dringend. Er muss sich am Menschenrecht auf Bildung für jedes Kind und jeden Jugendlichen sowie am Ziel der Chancengleichheit orientieren.

Das Recht auf Bildung gilt auch für Erwachsene als das Recht auf lebenslanges Lernen; es kollidiert derzeit für die meisten Menschen mit Zwängen des Arbeitsmarktes. Zur Verwirklichung des Rechts auf Bildung für Erwachsene ist, insbesondere angesichts der Finanzierungsnotwendigkeiten, an einem gesellschaftlichen Konsens zu arbeiten.

 

1 Das Recht von Kindern und Jugendlichen

Das Recht auf Bildung ist primär ein Recht von Kindern und Jugendlichen. Es ist eines der grundlegenden Kinderrechte und gehört zum Erwachsenwerden. Es ist in der UN-Kinderrechtskonvention Art. 28 und 29 niedergelegt sowie durch die Grundgesetzartikel 1, 2, 3 und 12 gesichert. Seine Verwirklichung entscheidet maßgeblich über die Zukunft junger Menschen.

Kinder haben einen eigenständigen Anspruch, das Recht auf Bildung wahrzunehmen. Sie müssen altersgemäß selbstständig Entscheidungen treffen können, selbstverantwortliches Lernen und die Mitgestaltung der Lernumgebung sind Teil des Rechts auf Bildung. Zum Schutze ihrer Entwicklung sind Einschränkungen der Selbstständigkeit vertretbar, wenn eigene Entscheidungen ihnen zum Nachteil gereichen können.

Erwachsene müssen gewährleisten, dass alle Kinder und Jugendliche ausreichende Bildungschancen erhalten; sie tragen Verantwortung dafür, ihre Neugier und Lernmotivation zu unterstützen.

Das Erziehungsrecht von Eltern ist Grundlage des Rechts auf Bildung. Die Erziehungsfähigkeit nicht weniger Eltern ist jedoch durch vielfältige Ursachen (eigener Bildungsstand; Arbeitslosigkeit oder Arbeitsstress; Armut und Integrationsschwierigkeiten; Lebensverhältnisse, die ein verantwortliches Erziehungsverhalten erschweren; Desinteresse an der Zukunft der Kinder) beeinträchtigt; zudem wirken sich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, wenn sie Menschen keine positiven Lebensperspektiven geben, auf das Bildungsverhalten negativ aus.

Die Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und der Kinder- und Jugendhilfe haben einen Bildungsauftrag; sie müssen diesen wahrnehmen, sich vernetzen und Familien, Eltern, Kinder und Jugendliche beraten und ermutigen, Bildungsmöglichkeiten zu ergreifen. Auch gesellschaftliche Großorganisationen wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften haben die Aufgabe, die Chancen aller Menschen zur Wahrnehmung des Rechts auf Bildung zu verbessern.

Die Gewährleistung des Rechts auf Bildung ist aber auch Angelegenheit der gesamten Gesellschaft. Diese hat die Verpflichtung, ein attraktives Bildungsangebot bereitzustellen, so dass alle Kinder und Jugendlichen vom 4. bis zum 18. Lebensjahr ihr Recht auf Bildung nutzen können.

Im einzelnen sind vielfältige Wege für die Verwirklichung des Rechtes auf Bildung einzuschlagen:

- Lehrpersonen haben die Förderung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere Benachteiligten, als ihre zentrale Aufgabe anzusehen. Dementsprechend haben sie Eltern zu beraten.

- Bildungseinrichtungen haben, institutionell abgesichert, immer wieder zu prüfen, ob sie allen Kindern und Jugendlichen gerecht werden.

- Die Möglichkeiten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (insbesondere § 9, 11-13), Kindern und Jugendlichen in ihren Bildungsbemühungen zu helfen, sind voll und ganz zu nutzen.

- Jede Kommune muss die Förderung von Kindern und Jugendlichen als ihre eigene Aufgabe verstehen; sie benötigt Handlungsmöglichkeiten, z. B. durch Mitsprache in der Schule.

- Bund, Länder und Kommunen sowie gesellschaftliche Großorganisationen haben die Pflicht, durch regelmäßige öffentlichkeitswirksame Aktionen ein positives Klima zur Bildungsbeteiligung und zur Wertschätzung von Bildung zu schaffen. Die Kultusministerien wie die Bildungseinrichtungen haben für qualifizierte Bildung zu werben.

- Die Bestellung eines Kinder-/Jugendanwaltes, der von sich aus zugunsten des Bildungsrechts von Kindern und Jugendlichen tätig werden kann, ist zu prüfen.

- Organisationen des Bildungswesens, insbesondere Elternvertretungen, zivilgesellschaftliche Akteure wie der Kinderschutzbund und Ausländerbeiräte, aber auch Lehrerorganisationen, erhalten ein Klagerecht, so dass sie über gerichtliche Entscheidungen die für Schule Verantwortlichen (staatliche oder private Träger) zwingen können, die Gewährleistung des Rechts auf Bildung evaluieren zu lassen und Maßnahmen durchzusetzen, den jeweils erreichbaren Stand des Rechts auf Bildung zu sichern.

 

2 Der Kindergarten

Eltern haben die Verantwortung für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder. Sie sind zu ermutigen, diese Aufgabe nachdrücklich wahrzunehmen. Im Kindergarten, teilweise schon in der Krippe, übernimmt die Gesellschaft einen Teil der Verantwortung für die Erziehung und Bildung von Kindern. Alle vorliegenden Untersuchungen bestätigen, dass Weichenstellungen bereits in und mit diesen Institutionen erfolgen. Der Kindergarten hat für die Einlösung des Menschenrechts auf Bildung eine zentrale Bedeutung. Er legt für jedes einzelne Kind das Fundament, mit dem sich seine Fähigkeit zum sozialen Zusammenleben ausprägt und auf dem die weiteren Bildungsbausteine aufbauen. Mit dem 6. Lebensjahr beginnt für alle Kinder, im Kindergarten oder in einer der Grundschule vorgelagerten einjährigen Vorschule, die Bildungspflicht.

Wenn Kinder mit Migrationshintergrund keinen Kindergarten besuchen, entstehen Benachteiligungen, vor allem in der Ausbildung ihrer sprachlichen Fähigkeiten, die sie während der gesamten Schulzeit nicht mehr aufholen. Für Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen gilt Vergleichbares. Die Eltern beider Gruppen sind dafür zu gewinnen, dass sie ihre Kinder in den Kindergarten schicken; der Besuch muss kostenlos sein.

Der Bildungsauftrag gehört zum Kern der Aufgaben des Kindergartens und muss nachprüfbar erfüllt werden. Über die unterschiedlichen Trägerstrukturen (Kirchen, Kommunen oder private Vereine) hinweg ist ein verbindlicher sozialer und bildungspolitischer Rahmen für den Kindergarten zu schaffen, der insbesondere die Entwicklung der sprachlichen Kompetenzen und die individuelle Förderung im Hinblick auf persönliche Stärken und Schwächen sichert.

Kindergarten und Schule gehören in der politischen Verantwortung zusammen; bei der Neuregelung ist darauf zu achten, dass die pädagogische Eigenständigkeit des Kindergartens wie der Schule gesichert wird. Für den Übergang zur Grundschule ist eine enge Kooperation zwischen Kindergarten und Schule erforderlich.

 

3 Die 10jährige Allgemeinbildende Schule

Die frühe Selektion im deutschen Schulsystem verstößt gegen das Menschenrecht auf Bildung; sie setzt vorgefertigte Bilder über junge Menschen voraus und verhindert ein anreicherndes Lernmilieu; individuelle Förderung wird so kaum ermöglicht.

Eine Grundschule mag noch so kinderfreundlich und reformfreudig sein, sie wird derzeit gezwungen, Kinder bereits im Alter von zehn/zwölf Jahren auf die weiterführenden Schulformen zu verteilen und ihre Arbeit darauf einzustellen; faktisch ist die ethnische und soziale Herkunft maßgebend. In den weiterführenden Schulen wird die Pädagogik wesentlich von der Möglichkeit bestimmt, angeblich leistungshomogene Klassen zu schaffen. Die Folgen für die Jugendlichen sind: Zurückstellen, Sitzenbleiben, Abschieben von „höheren“ Schulformen in „niedere“. Dieses Verhalten entspringt einem Denken, dass die Delegation von Problemen an jeweils andere Einrichtungen für selbstverständlich hält. Die Pisa-Untersuchungen sowie IGLU belegen die Verletzung der Menschenrechte von Jugendlichen durch die Zwei-, Drei- oder Mehrgliedrigkeit in der Sekundarstufe I.

Eine menschenrechtliche Sicht verlangt, die Schule vom Druck der Selektion und der Hierarchisierung der Bildungswege zu befreien. Die Logik des Homogenisierens von Kindern und Jugendlichen muss durchbrochen werden. Die Erfahrung von Vielfalt ist hingegen als entscheidender Anstoß für Bildungsprozesse anzuerkennen. Alle Beteiligten, insbesondere Lehrpersonen und Eltern, aber auch Politiker, müssen daher umdenken.

Wir verlangen einen zehnjährigen Bildungsgang, beginnend mit dem 6. Lebensjahr im Kindergarten oder der Vorschule. Die Pflichtschulzeit soll neun Jahre - vom 7. bis 16. Lebensjahr - umfassen; sie wird am besten in einer gemeinsamen Schule absolviert, die aus der Reform der heutigen Grundschule und Gesamtschule hervorgeht. Aufgabe des zehnjährigen Bildungsganges ist es, alle Kinder und Jugendlichen nach ihren individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu fördern, auf die Vielfalt von Kindern und Jugendlichen einzugehen sowie soziales und demokratisches Zusammenleben einzuüben. Die Förderung von Migrantenkindern ist ein Schwerpunkt. Die internationalen Untersuchungen zeigen, dass anderen Ländern die Förderung von Benachteiligten besser gelingt als Deutschland.

 

4 Schulisches Lernen

Zentrale Aufgabe der Schule ist es, junge Menschen individuell zu fördern, ihre sozialen Kompetenzen zu entfalten und demokratisches Verhalten aufzubauen. Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten für alle Kinder, insbesondere die mit Migrantenhintergrund, ist eine Basisaufgabe; die Notwendigkeit dieser Aufgabe hat PISA für die deutsche Schule erneut belegt.

Wenn dem Staat, wie in deutscher Tradition üblich, die Gestaltung des Bildungssystems zusteht, besteht die Gefahr, dass dieser aus sehr unterschiedlichen Gründen – Finanzen, Einheitlichkeit wegen besserer Handhabbarkeit, obrigkeitlicher Glaube das Richtige zu wissen usw. - die Gegenstände des Bildungsprozesses im einzelnen festlegt. Damit wird der Vielfalt von Menschen unrecht getan. Die Schule passt junge Menschen an ihre institutionellen Strukturen wie z. B. altershomogene Klassen an, nivelliert Unterschiede, macht junge Menschen überhaupt erst zu Schülern und verkürzt so ihr Menschsein. Die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ist aber kein Hindernis für Bildung und Erziehung, sondern Chance für besseres Lernen. Das Recht auf Bildung wird nur verwirklicht, wenn die Vielfalt von menschlichen Möglichkeiten gefördert wird. Dafür bedarf es geeigneter Instrumente zur Diagnostik sozial und individuell bedingter Lernschwierigkeiten und Lernpotentiale; die inhaltlichen Angebote der Schule und auch die Wege des Lernens müssen hinreichend unterschiedlich sein, um jedem Individuum gerecht werden zu können; solche Förderung von Unterschiedlichkeit beruht auf einem gemeinsamen Fundament für alle Schülerinnen und Schüler. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, braucht eine Schule Eigenverantwortlichkeit.

Eine Ganztagsschule kann den Anforderungen dieses Lernens besser entsprechen als eine Vormittagsschule; sie sollte daher zur Normalform der Schule werden, um alle Kinder und Jugendliche mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten zu fördern. Idealerweise rhythmisiert eine Ganztagsschule den Tagesablauf. Sie darf nicht als Betreuungsschule oder gar als Verlängerung der Vormittagsschule konzipiert werden. Die gegenwärtige Diskussion über die Ganztagsschule verkürzt die Konzeption auf arbeitsmarkt- oder familienpolitische Aspekte und tut damit den Interessen von Kindern und Jugendlichen Unrecht. Die Ganztagsschule bietet die Chance, Schule neu zu denken, nicht nur als Lernort, sondern auch als alltäglichen Lebensort für Kinder und Jugendliche. Eine Ganztagsschule kann sehr unterschiedliche Ausprägungen erhalten: zusätzliche Fördermöglichkeiten zur Behebung von Schwächen oder zur Ausbildung von Stärken können im Vordergrund stehen, aber auch neue curriculare Schwerpunkte oder die Öffnung der Schule hin zur Umwelt mit sozialen, betrieblichen und ökologischen Praktika. Schule muss jungen Menschen Erfahrungen in der Mitgestaltung ihrer Lebenswelt vermitteln; sie muss demokratische Prinzipien und Menschenrechte alltäglich erfahrbar machen. Dies ist die beste politische Bildung.

 

5 Außerschulische Jugendbildung.

Jugendhäuser und Jugendbildungsstätten leisten einen eigenständigen, im Kinder- und Jugendhilfegesetz festgelegten Beitrag zur Bildung. Sie sind keine bloße Ergänzung der Schule, sondern bedeutsame Orte der Selbstbildung und Selbstorganisation in Gruppen von Gleichaltrigen, die der politischen und kulturellen Bildung sowie der Persönlichkeitsentwicklung dienen. Die im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankerten Kinder- und Jugendhilfeausschüsse sind wichtige Orte der kommunalen Meinungsbildung; in sie sind Kinder und Jugendliche in geeigneter Weise einzubeziehen, etablierte verbandliche Repräsentationsstrukturen reichen nicht aus.

Jugendarbeit darf nicht weiterhin überwiegend eine Instanz der sozialpolitischen Versorgung von Randgruppen und der Kriminalprävention zu sein. Sie muss ihrem gesetzlich festgeschriebenen sozialen, kulturellen und politischen Bildungsauftrag für alle Jugendlichen auch tatsächlich gerecht werden. Sie braucht dazu eine angemessene Ausstattung und eine geeignete Qualifizierung von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendarbeit ist in Achtung der unterschiedlichen Aufgaben und Herangehensweisen zu intensivieren.

 

6 Bildung und Berufsbildung

Im Grundgesetz ist das Recht gewährleistet, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Für das Menschenrecht auf Bildung folgt aus diesem Grundrecht, dass ein Jugendlicher die Möglichkeit haben muss, frei einen Beruf zu wählen, auch gegen zeitgeistige Trends, die sich gegenwärtig vor allem zuungunsten nichtakademischer Berufe auswirken. Es darf keinen „Königsweg“ der Bildung mehr geben.

Alle Ausbildungswege nach dem Ende der Allgemeinbildenden Schule müssen gesellschaftlich anerkannt und gleichberechtigt sein. Die Jugendlichen sollen sich frei entscheiden können, ob sie eine Berufausbildung im dualen System wählen, eine vollschulische Ausbildung in Berufsakademien oder Berufsfachschulen wahrnehmen oder eine schulische Oberstufe mit Abitur absolvieren. Die Prüfungen und Abschlüsse am Ende der verschiedenen Ausbildungswege öffnen den jungen Männern und Frauen den Zugang zu Weiterbildung wie Studium.

 

7 Bildungsberatung

Die Nutzung des Rechts auf Bildung macht es erforderlich, dass alle Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern sich rechtzeitig hinreichend über unterschiedliche Bildungsmöglichkeiten (Wahl von Fächern, Wahl von Schulen, Wahl der beruflichen Bildung etc.) und ihre Folgen unterrichten. Anknüpfend an bestehende Einrichtungen wie Schulpsychologische Dienste und Arbeitsämter müssen Länder und Kommunen ein Netzwerk der Bildungsinformation und Bildungsberatung aufbauen, das wohnortnah erreichbar ist, staatlich gewährleistet wird und kostenlos wahrgenommen werden kann. Der Zugang zu einem solchen Netzwerk über das Internet reicht nicht aus; es bedarf ortsnaher Beratungsmöglichkeiten, auch durch Personen mit sozialpädagogischen und psychologischen Kompetenzen. Ein besonderer Schwerpunkt ist auf die Beratung von Eltern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu legen

 

8 Finanzierung von Bildung

Die Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung kostet Geld. Das deutsche System der sozialen Sicherung, das von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege und Rente her konzipiert ist, ist insbesondere angesichts der Alterung der deutschen Gesellschaft um ein Zukunftskonzept für Kinder und Jugendliche zu ergänzen. Das bisherige System der Bildungsfinanzierung, bei der für den Kindergarten und die Grundschule am wenigsten, die gymnasiale Oberstufe und die Universität am meisten ausgegeben wird, muss zugunsten von Kindergarten und Grundschule verändert werden. Zur Finanzierung von Ausbildung, Studium und Berufsstart sind tragbare und vor allem verlässliche Konzepte zu entwickeln. Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf eine eigenständige Finanzierungsmöglichkeit ihrer Bildungswege. Ein gesellschaftlicher Klärungsprozess ist notwendig, ob individuelle Ausbildungskonten oder eine Art Ausbildungsversicherung (Kinderfonds), in die der Staat bei der Geburt eines Kindes für eine spätere Berufsausbildung einzahlt, zu empfehlen sind; erforderlich ist auch der Ausbau eines echten Stipendiensystems, das die Mehrheit der Studierenden nutzen kann. Je unsicherer die Perspektiven der Jugendlichen sind, eine bezahlte Erwerbsarbeit kontinuierlich über mehrere Jahrzehnte hinweg zu bekommen, um so wichtiger sind individuelle Sicherheiten und Starthilfen für eine eigenständige Lebensgestaltung.

 

9 Neubewertung der pädagogischen Berufe

Die Einlösung des Menschenrechts auf Bildung und die Forderung nach einer Kultur der Anerkennung für jedes Kind machen es unerlässlich, die pädagogischen Berufe neu zu beurteilen und ihre Hierarchisierung zu überwinden; die Tätigkeiten vom Kindergarten bis zu den Oberstufen hin sind gleich zu werten. Alle pädagogischen Berufe brauchen eine akademische Ausbildung; sie sollen für Frauen wie für Männer attraktiv sein; geeignete Personen müssen auch ohne Abitur durch Vorbereitungskurse und hochschuleigene Auswahlverfahren Zugang finden können. Die pädagogischen Berufe müssen gesellschaftlich anerkannt und von der Bezahlung her einheitlichen Prinzipien unterliegen. Die Gehaltsstufe A 12 sollte die einheitliche Ausgangsbesoldung für alle akademischen Berufe im öffentlichen Dienst sein.

Die Ungleichwertigkeit der jeweiligen Bildungsabschlüsse von Fachhochschulen und Universitäten ist überholt. Die Hochschulen haben sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass das Studium wissenschaftlicher Theorien und Forschungsergebnisse als Qualifikation für pädagogische Berufe ausreicht; sie müssen konsequent ihren Ausbildungsauftrag für die pädagogischen Berufe anerkennen, ihnen sind Werkstatt-Schulen (Laborschulen, schools of education) und Werkstatt-Kindergärten zuzuordnen, mit denen die Verbindung von Theorie und Praxis ermöglicht werden kann.

 

10 Verantwortung der Gesellschaft

Angesichts der dramatisch zurückgehenden Geburtenzahlen muss die alternde Gesellschaft der Bundesrepublik insgesamt für die Einlösung des Menschenrechts auf Bildung für alle Kinder und Jugendliche verantwortlich sein. Das bezieht sich nicht nur auf die Fragen der Bildungsfinanzierung, sondern auch auf die Verantwortung für das Bildungs- und Ausbildungssystem; eine solche breitere Verantwortung ist ein vielversprechender Weg zur gesellschaftlichen Integration von Alten und Jungen, von Arbeitnehmern und Unternehmern, von Frauen und Männern, Einheimischen und Einwanderern. Daher muss die Verfasstheit des Bildungssystems neu gestaltet werden: die Kommunen und das gesellschaftliche Leben in der Kommune sind zu stärken. Bürgerschaftliches Engagement als wesentliches Element einer lebendigen Demokratie ist auf Kindergärten und Schulen eines Stadtteils auszuweiten. Die Kommunen sind verpflichtet, regelmäßig Kindergärten und Schulen zu evaluieren und Bildungsberichte öffentlich vorzulegen. Nur so können die Menschen, die zu mehr Teilhabe und Übernahme von Verantwortung bereit sind, Veränderungen und Entwicklungen tatsächlich kontrollieren. Wir schlagen einen kommunalen Bildungsbeirat vor, der sich aus Bewohnerinnen und Bewohnern einer Kommune oder eines Stadtteils zusammensetzt und der näher zu bestimmende Kompetenzen erhält. Diese Ehrenämter haben allen in einer Kommune lebenden Menschen, auch denen mit Migrationshintergrund, tatsächlich offen zu stehen.

 

 

 

Das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung und seine Verwirklichung ist für die Bürgergesellschaft eine Herausforderung. Wir nehmen sie an.

 

15. 6.03