09. Feb. 2004 © pxhere
Anti-Atom / Demonstrationsbeobachtung / Versammlungsrecht

Das Versammlungsrecht - kein hohes Gut für den niedersächsischen Landtag

Der niedersächsische Landtag ließ sich vom Ministerium für Inneres und Sport mit einer oberflächlichen, nur scheinbar differenzierten Abwehr aller Kritik am Umgang mit dem Demonstrationsrecht während der Castortransporte ins Wendland abspeisen.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat im September 2003 auf der Grundlage der Demonstrationsbeobachtungen im Herbst 2001 und 2002 und angesichts des seinerzeit bevorstehenden Transportes von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager in Gorleben im November 2003 eine Petition an den niedersächsischen Landtag gerichtet.

Das Grundrechtekomitee ersuchte den Landtag, sich mit den Vorgängen anlässlich der Castor-Transporte im November 2001 und 2002 zu beschäftigen und darauf hinzuwirken, das zukünftig das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewährt bleibe. Das Grundrechtekomitee dokumentierte in seiner Petition einige der grundlegenden und wiederkehrenden Verletzungen der Grundrechte aus Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) in Verbindung mit Art. 5 GG (Meinungsfreiheit). Bürger und Bürgerinnen leben in der ganzen Region um Gorleben während der Castor-Transporttage in einem Ausnahmezustand.

Während desselben haben weder die Rechte auf körperliche Unversehrtheit noch die auf Freizügigkeit, gar auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gültigkeit. Dies mussten wir während unserer Demonstrationsbeobachtung im November 2003 erneut feststellen. Trotz vielfältiger offensichtlicher Grundrechtsverletzungen, die von Bürgern und Bürgerinnen, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie wie auch von RechtsanwältInnen dokumentiert worden sind, antwortet das niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport in einer achtseitigen Stellungnahme nur formal und bürokratisch.

Es geht über alle Argumente und Schilderungen lapidar hinweg. Ohne hinreichende grundrechtliche Argumentation behauptet das Ministerium die Angemessenheit aller polizeilichen Maßnahmen. Diese hätten strikt im "Rahmen der Rechtsordnung" stattgefunden. Der niedersächsische Landtag segnete diese Stellungnahme in seiner Sitzung am 23.1.2004 schnell, bürokratiesklavisch und bürgerfeindlich ab.

Auf einige Punkte soll hier noch einmal eingegangen werden: Alljährlich werden Demonstrationen für mehrere Tage und in einem "Verbotskorridor" mit pauschalen "Belegen" für zu erwartende Gewalttätigkeiten verboten.

Schon diese Allgemeinverfügungen machen deutlich, dass die Bürger und Bürgerinnen generell unter Verdacht gestellt werden. Ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wird einseitig zugunsten der Sicherung des Transportes, also des Eigentumsschutzes der Betreiberfirma, eingeschränkt. Angemeldete Versammlungen werden dann allenfalls - mit kaum zumutbaren - Auflagen bestätigt.

Der Alltag während der Castortransporte im Wendland macht jedoch jedes Jahr deutlicher, dass die Einschränkungen des Versammlungsrechts, jedoch auch die Einschränkung des Rechtes auf Freizügigkeit und auf körperliche Unversehrtheit, weit über das von der Allgemeinverfügung bestimmte Maß ausgehebelt werden. Will die Polizei den Transport durchsetzen, so ist nicht der gerichtlich vom Bundesverfassungsgericht bestätigte (Verbotskorridor( von Bedeutung. Vielmehr wurden im November 2003 ganze Dörfer in Gewahrsam genommen.

Die Teilnehmer am Kulturmarathon (einer Kulturveranstaltung in einem "Musenpalast"), der weit außerhalb dieses Korridors stattfand, wurden eingekesselt und eine ganze Nacht im Ort festgehalten. Anwohner und Anwohnerinnen zweier Dörfern entlang der Transportstrecke durften während einer Nacht entweder nicht in ihre Häuser oder diese nicht mehr verlassen. Bürger und Bürgerinnen konnten Dörfer entlang der Transportstrecke nicht mehr verlassen, um nach Hause zu fahren. Über tausend BürgerInnen wurden nächtlich über Stunden bei Minustemperaturen in Gewahrsam genommen und auf einem Feld eingekesselt.

In dem Verbotskorridor war nicht nur das Recht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt, sondern waren gleich alle Grundrechte ausgesetzt. Privateigentum der Anwohner wurde polizeilich zerstört. Personen wurden durch polizeiliche Hebelgriffe unnötig verletzt. Den pauschalen Verdacht gegen alle Bürger und Bürgerinnen und ein entsprechendes Vorgehen der Polizei rechtfertigt der Innenminister in seiner Stellungnahme zur Petition. Dort liest man, "... weil es keine praktikablen Kriterien gab, anhand derer etwa zwischen einem normalen Nachbarbesuch oder einer als Nachbarbesuch deklarierten Teilnahme an einer verbotenen Versammlung hätte unterschieden werden können", sei das Vorgehen gerechtfertigt.

Man stelle sich vor, die Polizei könnte demnächst nicht mehr zwischen einem normalen bürgerlichen Verhalten und einem als solchen getarnten terroristischen Verhalten unterscheiden. Zugestanden wird, dass für die Polizei "vielfach nicht ohne weiteres erkennbar" gewesen sei, ob Personen sich "tatsächlich auf dem Heimweg" befunden hätten.

Wenn aber die Polizei nicht unterscheiden kann, dann rechtfertigt diese Unfähigkeit nach dieser innenministeriellen Argumentation pauschal polizeiliche Grundrechtsverletzungen. Dann ist jede Bürgerin verdächtig und kann jeder Bürger seiner Rechte beraubt werden. Dann steht eben ein ganzer Landkreis unter polizeilicher Kontrolle. Dem "juristisch" im Sinne eines schier unbegrenzten Ermessens derPolizei kundigen Innenminister scheinen die zentralen verfassungsrechtlichen Prinzipien aller Grundrechtauslegung, das der Verhältnismässigkeit und das der sorgsamen Güterabwägung, in der die Vermutung für die Grundrechte spricht, unbekannt zu sein. Welch` trefflichen "rechtsstaatlichen" Minister und ihre Ämter!

In unserer Petition beklagten wir vor allem den Einsatz von Hunden und Pferden gegen Demonstrierende, wie er im November 2001 in menschenunwürdigem Maß stattgefundenhat. Uns liegen Informationen vor, dass ca. 50 Personen durch Hundebisse verletzt wurden. Auch dieser Vorwurf wird pauschal abgetan. Entgegen aller Vernunft wird die Behauptung aufgestellt, die Hunde seien von den Demonstrierenden mit Tritten und Schlägen angegriffen worden. Ansonsten sei dies ein "zugelassenes Hilfsmittel der körperlichen Gewalt". Der Einsatz sei strikt im "Rahmen der gesetzlichen Vorschriften durch besonders ausgebildete Polizeivollzugsbeamte" erfolgt.

Die Verletzungen haben jedenfalls die Menschen und nicht die Hunde davongetragen. Auch über die Ingewahrsamnahmen der vielen Bürger und Bürgerinnen über viele Stunden wird nur formal festgestellt, sie seien unerlässlich gewesen. Ein solch gravierender Eingriff in die Rechte der Bürger und Bürgerinnen wird trotz festgestellter "Massengewahrsamnahmen" als unerlässlich behauptet. Angesichts dessen in einem anderen Absatz von einer "verhältnismäßig geringfügigen Beschränkung der Versammlungsfreiheit" zu sprechen, ist nur einem grundrechtsblinden Innenministerium möglich.

Im November 2001 gerieten zwei unserer DemonstrationsbeobachterInnen weit außerhalb der Verbotszone mit ca. 80 Personen von morgens 7.20 Uhr bis in die Abendstunden (18.30 Uhr) in Gewahrsam. In der Antwort des Innenministers ist im Zusammenhang mit dieser Situation die Rede von "zwei Personen zusammen mit weiteren Personen", bei denen eben "Erkenntnisse" vorlagen, dass es "Absprachen" gegeben hätte, zu den Gleisen zu gehen, sie "zu besetzen und zu beschädigen".

Das mindeste, was ein einigermassen auch nur parlamentarisch verantwortliches Ministerium tun müsste, wäre, jedenfalls hinterher, diese "Erkenntnisse" aufzudecken und sie im Verhältnis zur polizeilichen Maßnahme abzuwägen. Auch Platzverweise erfolgten nach der üblichen Chuzpe der Exekutive "strikt rechtsstaatlich". Ein solcher Rechtsstaatsbegriff vorgrundrechtlicher Art hätte selbst autoritäre Beamte des Zweiten deutschen Kaiserreichs vor durchgreifendem Neid erblassen lassen.

Gemäß dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz können Platzverweise "zur Verhütung einer Straftat" ausgesprochen werden. Dies wird korrekt wiedergegeben und zeigt, dass nicht einmal die Absicht, an einer Sitzblockade teilzunehmen, für einen solch gravierenden Eingriff ausreichte. Der Minister hält es jedoch nicht für nötig, die "Erkenntnis" zu belegen, dass 460 Personen mit Hilfe von Aufenthaltsverfügungen an Straftaten (und an welchen?) gehindert werden konnten.

Die Verbotsverfügungen selbst begründeten dies in vielen Fällen mit der aussagekräftigen Kategorie "Sonstiges". Diesem jegliche Rechtssicherheit verhöhnenden Behaupten wollte der Minister nichts hinzufügen. Eine Antwort darauf, inwiefern die Mitnahme eines Schlafsacks Anhaltspunkt für eine zu begehende Straftat sein kann, erhielten wir nicht.

Auch die Datenerhebung erfolgte, im üblichen strammen Behauptungsstil, "rechtsstaatlich korrekt". Unsere Kritik müsste bereits bei den grundrechtswidrigen Einschränkungen der informationellen Selbstbestimmung einsetzen, die in den letzten Jahren gesetzlich abgesegnet worden sind. Die Rechtfertigung aber, dass "keine Totalerhebung und Katalogisierung der einzelnen Personen" stattgefunden habe, mutet schon eher wie ein orwellscher Zungenschlag an.

Im übrigen, so wird verwiesen, hätten betroffene Personen die Möglichkeit, "im Einzelfall gegen belastende Maßnahmen im Wege des Rechtsschutzes vorzugehen". Das Ministerium versichert, es werde mit "sehr viel Aufwand" nach "Optimierungsmöglichkeiten" gesucht. Solche "Optimierungsmöglichkeiten" werden offenkundig bei der Einschränkung der Bürgerrechte gesucht. Grundrechtsverletzungen sollen schein-differenzierter, sprich rabulistisch begründet werden.

Ingewahrsamnahmen sollen durch Verzögerungen an geeigneter Stelle möglichst ohne richterlicheKontrolle verlängert werden. Gesucht wird von diesem Ministerium gewiss nicht nach Möglichkeiten, den elementaren Schutz der Grundrechte zu gewährleisten. Das wäre grundgesetzgemäss die erste und vornehmste Aufgabe eines Ministeriums, das zugleich, wenn auch nur auf Landesebene für die Verfassung zuständig ist.

Eine letzte Bemerkung muss sich leider an die Adresse des Petitionsausschusses und des Landtags und seiner dort versammelten Parteien richten. Die Art, wie der Petitionsausschuss Petitionen der Bürokratie weitergibt, deretwegen sich die Petenten an ihn wenden, die Art, wie dann Petitionsausschuss und Landtagsplenum die innenministerlich verantwortete bürokratische Antwort erneut vermitteln, ohne als Einrichtung der repräsentativen Demokratie schamrot zu werden, spottet fast jeder Beschreibung.

Petitionsausschuss und Landtagsplenum sind im Rahmen der Gewaltenteilung dazu da, die Exekutive vor allem mit dem Maßstab der Grundrechte zu kontrollieren und als Repräsentanten der Bevölkerung für deren Rechte zuerst einzutreten. Angesichts eines solchen Petitionsausschusses, der das älteste aller Rechte, die Petition zur Farce macht, und eines solchen Landtags wäre es wohl kostengünstiger diese Einrichtungen zu sparen. Dann wissen Bürgerinnen und Bürger wenigstens sofort, an wen sie sich halten müssen, wenngleich grundrechtlich rechtsstaatlich fast nie halten können.

Gez. Elke Steven