05. Juni 2018
Menschenrechte / Recht auf Asyl

Ein Blick zurück im Zorn

Die Demontage des Asylgrundrechts im Jahr 1993, euphemistisch „Asylkompromiss“ genannt, gehört in den Zusammenhang der diversen Etappen, mit der Asyl- und Schutzsuchende sowie Immigranten und Immigrantinnen in der Bundesrepublik Deutschland entrechtet wurden. Sie markiert eine Zäsur.

„Optimismus ist nur ein Mangel an Information.“  (Heiner Müller)

Ein Kommenar von Dirk Vogelskamp

Die Demontage des Asylgrundrechts im Jahr 1993, euphemistisch „Asylkompromiss“ genannt, gehört in den Zusammenhang der diversen Etappen, mit der Asyl- und Schutzsuchende sowie Immigranten und Immigrantinnen in der Bundesrepublik Deutschland entrechtet wurden. Sie markiert eine Zäsur. Die bundesdeutsche Asyl- und Migrationspolitik ist Teil der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Rassismus und Gewalt geworden. Es hat sich herausgestellt, dass das rassistische Gewaltniveau in der BRD immer dann anstieg, wenn medial inszenierte asyl- oder migrationspolitische Wahlkampagnen, öffentlich inszenierte Debatten oder Parlamentsentscheidungen breite Aufmerksamkeit schufen (Änderung des Asylgrundrechts 1992/1993; doppelte Staatsbürgerschaft 1998/1999; Einwanderungsdebatte 2001-2004, die allzeit leicht entflammbare Integrationsdebatte, aktuell die sogenannte „Flüchtlingskrise“). Rassistisch und ausländerfeindlich motivierte Gewalt bezieht sich auf den parlamentarischen Diskurs. Das gehört zum Grundwissen der Politik.

Allein im Jahr 1992 hatte es 2.285 „rechtsextremistisch“ motivierte Gewalttaten gegeben, bei denen 17 Menschen starben. Insofern hat sich das Parlament in seiner 2/3 Mehrheit mit der faktischen Aufhebung des Grundrechts auf Asyl im Mai 1993 zum Erfüllungsgehilfen dieser rassistischen Gewalt gemacht. Es hat sie ermutigt und bestätigt. Denn schon früh versuchten Politik und Rechtsprechung das vorbehaltlose und schrankenlose Asylgrundrecht einzuschränken. Der unbestimmte Rechtsbegriff „politisch Verfolgte“ wurde weithin durch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, nicht durch den Gesetzgeber gefüllt (Richterrecht). So kam es zu absurden Entscheidungen: Folter (in der Türkei) wurde als kulturübliche Strafpraxis qualifiziert, die keinen Rechtsanspruch auf Asyl nach sich zog. Auch im politischen Raum wurden bereits in den 1980er Jahren verschieden Versuche unternommen, den Anspruch auf Asyl einzuschränken, beispielsweise durch das Asylverfahrensgesetz aus dem Jahr 1982. Drei zentrale Ziele wurden bei den verschiedenen gesetzgeberischen Aktivitäten verfolgt, die noch heute als dringend durch die politische Klasse markiert werden: a) Beschleunigung der Verfahren, Rechtswegeverkürzung; b) Zugangserschwernis – Visaregime; c) Verschlechterung der sozialen Situation der Flüchtlinge zwecks Abschreckung. Bereits Mitte der 1980er Jahre favorisierten Vertreter*innen politischer Parteien, das bereits durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung deformierte Grundrecht auf Asyl massiv einzuschränken oder gänzlich abzuschaffen.

Zusammengefasst: Die Grundrechtsänderung 1993 markiert insofern einen vorläufigen Endpunkt in dem politischen Bemühen, das schrankenlose Grundrecht auf Asyl, das einen Rechtsanspruch auf Asyl über die Normen des Völkerrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus formulierte, einzuschränken. Damit wurde die Singularität der Aufnahme des Asylgrundrechts in die bundesdeutsche Verfassung aufgegeben. Der Gesetzgeber entledigte sich eines Grundrechts, das in noch zeitlich naher Erinnerung an die Millionen Verfolgten während der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffen worden war. Die zentrale Norm politisch Verfolgte genießen Asylrecht (Art. 16a Abs. 1 GG) wird zur Ausnahme. Aus dem Flüchtling als Rechtssubjekt wurde ein Objekt staatlicher Flüchtlingsverwaltung mit weitreichenden Folgen und humanen Kosten. Die Entscheidung wurde 1996 durch das Bundesverfassungsgericht opportunistisch bestätigt. Entsprechend seiner Aufgabe, hätte es die Verfassung hingegen schützen müssen.

Das allzu bekannte Schüren von Ressentiments

Die politischen Schlagworte, die die Debatte um die Asylrechtsdemontage damals begleiteten, lauteten: „Asylmissbrauch durch Schein- und Wirtschaftsasylanten“. Die Entmenschlichung beginnt in der Sprache. Aus den Schlagworten wurden Brandsätze. Die Politik hatte die Gewalt der Straße, der sie schließlich nachgab, zuvor mit produziert. Die Parteien hatten eine unverantwortliche Politik mit der Angst betrieben, Vorurteile und Ressentiments geschürt, indem sie unzählige menschliche Schicksale naturalisiert und als drohende „Asylantenfluten“ projiziert hatten. Dabei handelte es sich vorwiegend um Menschen, die Schutz vor dem kriegerischen Zerfallsprozess in Jugoslawien oder vor den rassistischen Pogromen in Rumänien (Roma) suchten. Sie wurden in ein aussichtsloses Asylverfahren gedrängt, da Flucht vor Krieg und nichtstaatliche Verfolgung keine Asylgründe darstellten. So erst wurde der „Asylmissbrauch“ künstlich aufgeblasen, in dem Bundeskanzler Kohl schon den „Staatsnotstand“ heraufziehen sah.

Im Anschluss an die parlamentarische Asylabstimmung wurde im November 1993 das „Asylbewerberleistungsgesetz“ verabschiedet. Damit wurde ein sozialpolitisches Sondergesetz geschaffen, das ein menschwürdiges sozioökonomisches Existenzminimum für Asylsuchende und andere Geflüchtete weit herabsetzte, erst nach 19 Jahren durch das Bundesverfassungsgericht am 18. Juli 2012 korrigiert. Dieses Gesetz verrechtlichte die Ungleichheit zwischen Schutzsuchenden und der Mehrheitsbevölkerung. Dazu gehört bis heute ebenso die Unterbringung von Gefüchteten in „Sammelunterkünften“ – ein bürokratischer Euphemismus. Denn sie verkörpern die Funktionen von Lagern: Kontrolle und Überwachung, Absonderung von der Bevölkerungsmehrheit und die systematische Einschränkung der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse wie Privatheit und Selbstbestimmung. Die Verrechtlichung der Ungleichheit setzte sich fort in der „Residenzpflicht“, im Arbeitsverbot und weiteren restriktiven Regelungen. Insofern senkte die Asylgrundrechtsdemontage die Hemmungen, Menschen staatlicherseits inhuman zu behandeln. Dieser rücksichtslose rechtsstaatliche Umgang mit Geflüchteten, die die Verletzung ihrer Menschenwürde einschloss, konnte sogar als verfassungskonform erscheinen.

Die Folgen: Zonen minderer Humanität und minderen Rechts

Mit der rechtsstaatlichen Abschaffung des Asylgrundrechts wurden zugleich Illegalität und Kriminalität geschaffen und Menschen zu Tode gebracht. Die in das Grundgesetz eingefügten Vorbehalte wie die sogenannte „Drittstaatenregelung“ und die „Regelung sicherer Herkunftsstaaten“ dienen bis heute allein der Abwehr von Geflüchteten. Sie schotten Deutschland rechtlich seitdem hermetisch gegen alle Schutzsuchenden ab. Werden die Ein- und Zuwanderungsmöglichkeiten grundgesetzlich derart beschränkt, werden Menschen genötigt, „unerlaubt“ einzureisen. Dadurch werden sie illegalisiert und zugleich kriminalisiert. Aufgegriffen, laufen sie Gefahr, umgehend abgeschoben oder in Abschiebehaft genommen zu werden. Seit 1993 nehmen sich viele Schutzsuchende angesichts drohender Abschiebung das Leben – auch in Abschiebehaft. Ungezählt viele haben seitdem einen Suizidversuch unternommen aus Angst, deportiert zu werden, oder weil sie die unerträglichen Lebensbedingungen in den Lagern nicht mehr aushalten können. In der Folge der Asylrechtsänderung wurde eine Asyl- und Zuwanderungspolitik geschaffen, die wesentlich darauf basiert, Menschen auszusieben, zu sondieren und voneinander zu scheiden: in wenige schutzwürdige und überwiegend „nicht schutzwürdige“ Geflüchtete, in legale und illegale Einwanderer, in Zuwanderer, die uns nützen und die uns ausnützen, in erwünschte und irreguläre Arbeitsmigrant*innen, in „integrationsfähig“und „integrationsunfähig“. Die jeweils letztgenannten halten sich je nach Gesetzeslage oder politischer Auffassung „unberechtigterweise“ oder gar „parasitär“ in der Bundesrepublik Deutschland auf. Diese politische und rechtliche Praxis konstruierte den fremdgemachten Fremden erst zu einem die Sicherheit Deutschlands bedrohenden Illegalisierten, zu einem „Kriminellen“ und „Gefährder“ – zu jemandem, der sich widerrechtlich und unberechtigterweise in Deutschland aufhält.

Mit der politisch gewollten Aufgabe des Asylgrundrechts wurden sukzessive Bedingungen gesellschaftlicher Feindseligkeit gegenüber Menschen auf der Flucht und Migrant*innen hergestellt und im Gefolge der Antiterrorgesetzgebung seit dem Jahr 2001 der „kriminelle Ausländer“ geschaffen. Zusammen fördern sie gruppenbezogene Gewalt und Rassismus, wässern und düngen deren Boden. Daraus ist eine Politik entstanden, die heute im unerbittlichen Kampf gegen die unerwünschte, gegen die „illegale“ Einwanderung den Tod Tausender im Mittelmeer hinnimmt. An den Außengrenzen der Europäischen Union haben seit der Jahrhundertwende über 30.000 Menschen ihr Leben gelassen, weil die deutsche Politik der tödlichen Abschottung und Selektion nun europäisch fortgesetzt wird. Die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl markiert insofern einen Kipppunkt in der Entrechtung Schutzsuchender und Migrant*innen. Im Anschluss hat sich die deutsche Asyl- und Migrationspolitik zusehends brutalisiert. Aus dem „Staatsnotstand“ ist ein Normalzustand geworden. Europäisch wird inzwischen gesetzlich versucht, den Flüchtlingsschutz in die Nachbarregionen auszulagern. Dazu ist jedes Mittel recht, um Menschen auf der Flucht Flüchtlingsschutz zu verweigern, sei es die Kooperation mit libyschen Milizen, die sich als Grenzschützer ausgeben oder Internierungslager auf den Fluchtrouten der Überlebensmigration, die im bundesdeutschen Zielland recht blumig Ankerzentren genannt werden. Die Rückkehr der Lager als Signum der Zeit. Darüber hinaus: Kooperation mit menschenfeindlichen Regimen, damit sie für die Überlebensmigrationen als „sicher“ definiert werden können. Konrad Weiß von den „Grünen“ verteidigte damals das Asylrecht mit den Worten: „Wir dürfen es nicht zulassen, dass dem dumpfen Wahn der Nationalisten, ihrem Gebrüll und ihrer Gewalt Grundwerte unserer Demokratie geopfert werden.“ Sie sind geopfert worden.

Heute treiben populistische Kampagnen und die nationalistische AfD die demokratischen Parteien vor sich her und vergiften die Debatten um Geflüchtetenrechte bis weit hinein in die gesellschaftliche und parlamentarische Linke. Fünfundzwanzig Jahre ohne Grundrecht auf Asyl scheinen die realen Nöte und dringenden Bedürfnisse von Asylsuchenden und Überlebensmigranten – ihre Menschenrechte – weitgehend aus dem moralischen Horizont großer Teile der Bevölkerungen gekippt zu haben. Als ob diese aus der Welt gefallen, der Menschheit nicht zugehörig seien. Diese gewaltförmige und -fördernde Politik findet mehrheitlich Akzeptanz in den europäischen Bevölkerungen. Angesichts der weltweiten politischen, sozioökonomischen und klimabedingten Verwerfungen ist eine Rückkehr zu einer humanen, menschenrechtsgemäßen Flüchtlings- und Migrationspolitik realistisch wohl kaum zu erwarten.

Der Kommentar ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Statements, das der Verfasser am 23. Mai 2013 in Köln gehalten hat.