30. Juli 2012
(Anti-)Rassismus / Polizeigewalt / Praxis & Aktion / Prozessbeobachtung / Rechtsstaatlichkeit

Die Feuerzeugerzählung der Dessauer Polizei

Die Feuerzeugerzählung der Dessauer Polizei ist nicht länger aufrecht zu erhalten – Welchen Bestand hat die zweifelhafte Justizthese noch, Oury Jalloh habe das Feuer selbst gelegt?

Die Initiative In Gedenken an Oury Jalloh, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die Internationale Liga für Menschenrechte beobachten den Verlauf des Prozesses zur Aufklärung der Umstände, unter denen Oury Jalloh am 7. Januar 2005 in der Zelle Nr. 5 des Polizeireviers Dessau bei lebendigem Leib verbrannte, seit seinem Beginn Ende März 2007 vor dem Dessauer Landgericht.

Gerade hat die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Magdeburg, an die der Bundesgerichtshof (BGH) die Verhandlung des Revisionsverfahrens delegiert hatte (u. a., weil für den BGH aus den Urteilsausführungen des Dessauer Landgerichts nicht nachvollziehbar war, „wie sich der Brand der Matratze im Einzelnen entwickelt hat“), weitere Prozesstermine bis Oktober bekannt gegeben.

Damit hat das Verfahren nach 58 Verhandlungstagen in der 1. und fast ebenso vielen in der 2. Instanz nicht plausibel erklären können, wie der Brand im Polizeigewahrsam entstehen konnte.

Unsere Prozessbeobachter hegen seit langem die Sorge, dass in diesem Verfahren nur die Nebenklä-ger im Namen der Familie und Freunde Oury Jallohs an einer rückhaltlosen Aufklärung der Vorgänge in der Gewahrsamszelle interessiert sind, die zum Tod Oury Jallohs geführt hatten.

•    Der Staatsanwaltschaft ging und geht es um die Verurteilung des von ihr angeklagten Dienstgruppenleiters Andreas S., den sie, das machte der Oberstaatsanwalt jüngst geltend, für rundum schuldig befindet.

•    Der Magdeburger Richterschaft geht es darum, jedwede abermalige Verfahrensfehler tunlichst zu vermeiden.

•    Die Verteidigung hat kein anderes Interesse, als strafrechtliche Konsequenzen von ihrem Mandanten abzuhalten.

Immerhin wird diesem vorgeworfen, nicht nur Oury Jalloh zu Unrecht und überdies ohne einen Richterentscheid im Gewahrsam gehalten zu haben, sondern, um von den Hilferufen des in der Zelle an Händen und Füßen Gefesselten nicht gestört zu werden, in seinem Büro die Wechselsprechanlage zur Zelle mehrfach abgestellt sowie nach Brandausbruch den Rauch- und Brandmelder ignoriert zu haben.

Ob der Dienstgruppenleiter den Tod Oury Jallohs als Folge seines (Nicht-) Handelns zu verantworten hat und deshalb schuldig zu sprechen ist, hängt für die genannten Prozessbeteiligen von der Beant-wortung der Frage ab, ob ihm nach dem ersten Feueralarm genügend Zeit verblieb, Oury Jalloh vor dem Feuertod zu retten. Allein aus diesem Grund sind Verteidigung, Richterschaft und Staatsan-waltschaft gezwungen, sich noch mit dem Brandausbruch auseinanderzusetzen. Das gemeinsame enggeführte Aufklärungsinteresse der Verteidigung und der anklagenden Staatsanwaltschaft konzentriert sich demnach vor allem auf dieses schmale Zeitfenster zwischen dem Auslösen des Feueralarms und dem Eintreffen des Angeklagten in der Zelle. Das Gericht muss indes im Hinblick auf einen unanfechtbaren Urteilsspruch klären, wie der Brand entstanden sein und sich entwickelt haben könnte.

Auf Betreiben der Nebenklage wurde inzwischen ein neuer Brandsachverständiger hinzugezogen. Dessen Entzündungs- und Bewegungsexperimente bringen Grundannahmen ins Wanken, die bisher für das Verfahren als unumstößlich gegolten hatten. Dazu gehört insbesondere auch die These, nach der Oury Jalloh das Feuer mit einem Feuerzeug selbst entzündet haben soll, um auf sich aufmerksam zu machen.

Obwohl sich das Feuerzeug nach Zeugenaussagen am Tag des Geschehens weder bei der mehrmali-gen Durchsuchung seiner Hosentaschen noch bei der ersten Spurensicherung durch die Kriminalpolizei angefunden hatte und folglich auch nicht in der Asservatenliste aufgeführt war und, obgleich die als Beweismittel angeführten „Feuerzeugreste“, erst am 10. Januar, also drei Tage nach dem Geschehen bei der Untersuchung der Asservatentüten im Labor entdeckt worden sein sollen, halten Staatsanwaltschaft und Richterschaft an ihrer These fest, Oury Jalloh habe das Feuer gelegt. Schließlich war es die Staatsanwaltschaft selbst, die einen Monat nach Oury Jallohs Verbrennungstod auf öffentlichen Druck hin im Februar 2005 das Ermittlungsergebnis bekannt gab und diese Hypothese mit einem so genannten Minutenprotokoll vermeintlich zu belegen versuchte.

Wiederum auf Anregung der Nebenklage beauftragte das Magdeburger Gericht, eine abermalige Untersuchung der nämlichen Feuerzeugreste nach DNA-Spuren sowie möglichen Textilrückständen der Kleidung Oury Jallohs und des Bezugs der Matratze. Ergebnis: Fehlanzeige. Am 23. Juni d. J. hieß es im Gerichtssaal, es seien zwar Polyesterrückstände gefunden worden. Diese können aber nicht mit den Kleidungsresten des Verbrannten und ebenso wenig mit dem Matratzenbezug in Verbindung gebracht werden.

Am jüngsten Verhandlungstag geriet nun die gerichtliche Hypothese der „selbst verursachten Entzündung des Feuers“ angesichts des Vortrags des Brandsachverständigen zu Befunden seiner neuerlichen experimentellen Untersuchungen des Brandgeschehens ins Schlingern. Die Diskrepanz zwischen den möglichen Brandverläufen und Entzündungsstellen einerseits sowie den Angaben zu möglichen Liegepositionen Oury Jallohs auf der Matratze und zu räumlichen Maßen von Fesselketten, Liegefläche und Matratze andererseits war so offenkundig, dass der stellvertretende Vorsitzende Richter nicht umhin konnte, anhand einer selbstgefertigten Zeichnungsskizze aufzuzeigen, dass es Oury Jalloh nicht möglich sein konnte, die Bewegungen der rechten Hand so zu vollziehen, wie dies erforderlich wäre, um, wie von der Staatsanwaltschaft und Polizei unterstellt, das Feuer selbst zu entfachen.

Wir kritisieren seit langem die Festlegung von Staatsanwaltschaft und Gerichten allein auf die durch etliche Zeugenaussagen inzwischen fragwürdig gewordene Annahme, nur Oury Jalloh könne das Feu-er gelegt haben. Sie versperrt den Blick für andere Geschehensverläufe. Das Feuerzeug als vermeint-liches Beweismittel ist nach Lage der Fakten und Zeugenaussagen mit zu vielen Fragezeichen behaftet, um geeignet zu sein, den vom Gericht ausschließlich unterstellten Geschehensverlauf zu fundieren.

Unser Resümee nach mehr als 100 Verhandlungstagen: Die gerichtliche Hypothese ist nicht tragfähig. Anderen Brandentstehungsmöglichkeiten wird nicht nachgegangen, obwohl es für Fremdverschulden durchaus Anhaltspunkte gäbe, wie der Nasenbeinbruch des Toten, eine undefinierte Flüssigkeitslache, die Polizisten gesehen haben wollen, einen offenen Hofeingang zum Haftbereich sowie nicht wenige widersprüchliche Zeugenaussagen zu Vorgängen in der Zelle vor dem Brandausbruch.

Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Entscheidung der Gerichte und der Staatsanwaltschaft, sich auf die Annahme festzulegen, Oury Jalloh hätte, um die Aufmerksamkeit zu erheischen, die ihm trotz Rufen, Klagen und Flehen im Polizeigewahrsam nicht zuteilwurde, mit einem „eigenen“ Feuerzeug die feuerfeste Matratze entzündet, schlechterdings nicht nachvollziehbar und mutet eher wie eine postum-Verurteilung des Verbrannten an. Dies umso mehr als sie geeignet scheint, die Dessauer Polizei als Exekutivorgan des staatlichen Gewaltmonopols weitgehend zu entlasten, indem sie wiederum das Opfer von staatlicher Gewaltanwendung belastet. Die Ordnung lässt sich so am besten wiederherstellen. Nicht ein gesetzesfern agierender Dessauer Polizeiapparat, sondern die mögliche Schuld eines einzelnen Polizeibeamten rückte damit in den Fokus gerichtlicher Untersuchung.

Ausgeschlossen scheint wohl zu sein, dass das Feuer aus dem Nichts entflammt sein könnte. Nicht ausschließbar sind demgegenüber andere Geschehensabläufe als der von der Polizei und Staatsanwaltschaft für allein gültig unterstellte. Um sich aber nicht in die polizeigewalttätigen Abgründe zu verlieren, hält das Gericht gleichwohl weiter an der entlastenden Annahme fest, ir-gendwie wird Oury Jalloh doch im Besitz des „erfundenen“ Feuerzeuges gewesen sein.

Die rechtstaatliche Ordnung zu bestätigen, nötigenfalls wiederherzustellen, ist schließlich seine Auf-gabe, auch wenn der polizeigemachte Tod Oury Jallohs nicht ohne weiteres damit in Einklang zu bringen ist. Wie das ratlose Gericht diese Widersprüche zuzudecken versuchen wird, werden die nächsten Verhandlungstermine zeigen. Die interessierte Öffentlichkeit darf gespannt sein.

 

Mouctar Bah

(Initiative In Gedenken an Oury Jalloh und Prozessbeobachter)

 

Fanny Michaela Reisin

(Internationale Liga für Menschenrechte und Prozessbeobachterin)

 

Dirk Vogelskamp

(Komitee für Grundrechte und Demokratie und Prozessbeobachter)