28. Okt. 2020 © dpa
Gefangenenunterstützung / Kriminologie / Lebenslange Haftstrafe / Menschenrechte / Strafrecht

Die Gesellschaft entgittern! Alternativen zu Knast und Strafe

Die Leipziger Online-Konferenz „Zukunft für alle“ widmete sich im August Utopien für eine zukünftige Gesellschaft. Fünf Tage lang wurde über alternative Konzepte in Bereichen wie Beziehungen, Arbeit, Wirtschaften, Energie, Klima diskutiert. Als Grundrechtekomitee behandelten wir in einem Workshop die Frage, wie eine Gesellschaft ohne Gefängnisse vorstellbar sei.

Deutschland inhaftiert im internationalen Vergleich zwar wenige Menschen, dennoch sind aktuell 60.000 Menschen in Gefängnissen eingesperrt. Viele verbringen dort im Durchschnitt 2 bis 4 Jahre. Rund 3.000 Menschen sitzen lebenslang, davon rund 500 Personen in Sicherungsverwahrung. Die meisten Freiheitsstrafen erfolgen für Delikte im Kontext von illegalisiertem Drogenkonsum und Diebstahl von Privateigentum. 6 % sitzen wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 7 % wegen Tötungsdelikten. Fast die Hälfte aller Haftstrafen bilden Ersatzfreiheitsstrafen für ticketloses Fahren oder ähnliche Bagatelldelikte. Haft ist damit eine Klassenfrage. Zudem haben 30 % der Inhaftierten keine deutsche Staatsbürgerschaft. Mit einem Anteil von nur 12,5 % der Gesamtbevölkerung befinden diese sich durch rassistisch kriminalisierende Strafbestände also überproportional häufig im Gefängnis.

Die Infragestellung der Institution Gefängnis ruft gemeinhin starke Emotionen hervor, denn der öffentliche Sicherheitsdiskurs stellt das geltende Strafsystem als alternativlos dar. Auf gesellschaftliche Probleme wird häufig allein mit Kriminalisierung und Gesetzesverschärfungen reagiert. Gefängnisse fördern lediglich die Illusion, das Wegsperren Einzelner könne Kriminalität reduzieren. All das ist in der Kriminologie seit langem bekannt, aber seit einigen Jahren werden alternative Konzepte im deutschsprachigen Raum auch von Aktivist*innen wieder vermehrt diskutiert.

KRITIK AM AKTUELLEN STRAFSYSTEM

Gefängnis heißt für Inhaftierte die vollständige Fremdbestimmung über ihre Person, weitgehende Rechtlosigkeit und Unterwerfung. Der Freiheitsentzug soll der Resozialisierung und zur Abschreckung potentieller Täter*innen dienen. Aber Menschen werden im Gefängnis offensichtlich nicht zu einem anderen Verhalten befähigt und die Forschung bescheinigt Freiheitsstrafen einen geringen Abschreckungseffekt: Haft verhindert keine Gewalttaten, sondern bestraft sie nur. Vielmehr schafft Inhaftierung weiteres Leid: ein Mensch wird eingesperrt, Familie und Freund*innen sind mit betroffen. Haft wirkt zudem auch nach der Entlassung fort, denn Gefangene sind von Arbeitsplatzverlust, Wohnungsnot und sozialer Deklassierung betroffen.

ALTERNATIVEN ZU HAFT UND STRAFE

Alternative Konzepte gehen von der Überzeugung aus, schädigendes Verhalten sei veränderbar und seine Ursache liege nicht allein in der gewaltausübenden Person, sondern sei ein gesellschaftliches Problem. Es ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, einen anderen Umgang mit (massiver) Gewalt zu finden.

Drei Konzepte bieten alternative Ansätze zum herrschenden Strafsystem. Beim Konzept der „Ausgleichenden Gerechtigkeit“ (Restorative Justice), das in indigenen Gerechtigkeitspraxen Nordamerikas, Zentralasiens und Afrikas wurzelt, wird die Gewalt ausübende Person mit den Folgen ihrer Handlung konfrontiert. Die Bearbeitung grundlegender Probleme wie soziale Ungerechtigkeit oder anderer Ursachen der Tat tritt dabei jedoch in den Hintergrund. Weiter gehen die Konzepte „Verändernde Gerechtigkeit“ (Transformative Justice) und „kollektive Verantwortungs- übernahme“ (Community Accountability). Sie wurden von Frauen und trans Personen of Color in den sozialen Bewegungen in den USA erarbeitet und werden seit Jahrzehnten weiterentwickelt.

Grundlage ist die Vision einer Auseinandersetzung mit Gewalt, die Sicher- heit für marginalisierte Gruppen jenseits von staatlichen Institutionen wie Polizei, Gefängnis, psychiatrischen Institutionen, Jugendhilfe oder dem Migrationsregime bietet. Denn staatliche und zwischenmenschliche Gewalt sind eng verknüpft: Für viele von Gewalt betroffene Menschen bedeutet die Anrufung staatlicher Institutionen nicht Hilfe und Sicherheit, sondern weitere Gewalt. Die „kollektive Verantwortungsübernahme“ ist daher selbstorganisiert und nicht staatlich strukturiert, das persönliche Umfeld wird in den Veränderungsprozess einbezogen.

Auch wenn derartige Konzepte ihre eigenen Fallstricke haben, sehen wir als Grundrechtekomitee es als unsere Aufgabe an, nicht nur für die Rechte für Gefangene im heutigen Strafvollzug zu streiten, sondern auch, den Austausch über Alternativen zu Haft und Strafe zu verbreitern.