18. Nov. 2015
Abschiebung / Europa / Flucht

Die Krise der europäischen Immigrations- und Asylpoltik

Bis Ende Oktober haben über 740.000 Menschen aus den umliegenden Krisen- und Kriegsregionen unter Gefährdung des eigenen Lebens das Mittelmeer überquert, um Europa erreichen zu können. Nach Angaben der Internatio­nalen Organisation für Migration (IOM) haben dabei mehr als 3.300 Menschen ihr Leben verloren, darunter 435 in der Ägäis auf dem Weg zu einer der griechischen Inseln. Allein in Griechenland sind bislang über eine halbe Million Flüchtlinge gestrandet.

Das, was sich seit dem Spätsommer auf den Migrationsrouten innerhalb Europas ereignet, ist für die Menschen, die vor Gewalt, Aussichtslosigkeit und Elend geflohen sind, ein zusätzliches und vor allem ein menschengemachtes Unglück. Sie müssen fast unerträgliche Strapazen auf dem Weg in Europas Norden auf sich nehmen: Die Menschen legen gewaltige Fußmärsche zurück, sie sind Regen und Kälte schutzlos ausgesetzt, gezwungen, im Freien zu nächtigen, Grenzzäune, Polizeien und Militärs versperren ihnen immer wieder den Weg, sie werden von Teilen der Bevölkerungen angefeindet. Die Menschen auf der Flucht sind die tatsächlich Leidtragenden dessen, was sich unter dem politischen Schlagwort der „Flüchtlingskrise“ verbirgt, das vor allem die nicht unbeachtlichen Auswirkungen auf die europäischen Staaten im Blick hat: Also Fragen, wie die Flüchtlinge verwaltet, verteilt, registriert, untergebracht und versorgt und wie diese staatlichen Maßnahmen finanziert werden können. Die prägnante Phrase von der Flüchtlingskrise meint demnach die Krise der europäischen Immigrations- und Asylpolitik, an der „EU-Europa“ zu scheitern droht. Es ist der Aufbruch von Hunderttausenden von Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Lebensperspektive, der das europäische „Migrationsmanagement mit seinem Dublin-Reglement“ unterlaufen und seine Krise hervorgerufen hat.    


Europa am Scheideweg


Die Einwanderungen in bislang nicht gekannten Größenordnungen stellen die EU vor große Herausforderungen: politische wie humanitäre. Aber einen umfassenden und konsistenten Plan, wie mit der humanitären Krise perspektivisch umgegangen werden soll, hat die EU-Kommission bislang nicht vorgelegt. An nationalstaatlicher Souveränität wird allerorten festgehalten. Europäische Gemeinsamkeiten fehlen. Stattdessen wird europaweit weiter auf Abschottung, Militarisierung der Außengrenzen, Internierung von Flüchtlingen an grenznahen „Brennpunkten“ (Hot Spots) und der militärische Kampf gegen Schleusernetzwerke (EU NAVFOR Med) gesetzt. Eine Strategie der Grenzsicherung, die noch mehr Menschenleben fordern, aber letztlich scheitern wird. Denn es ist naiv anzunehmen, Menschen in ihrer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ließen sich dadurch abhalten, aus den globalen Schütter- und Kriegszonen den Weg nach Europa einzuschlagen (s. die komiteeliche Stellungnahme unter: www.grundrechtekomitee.de/node/715)


Auch das bundesdeutsche Asylbeschleunigungsgesetz vom Oktober 2015 schlägt eine repressive Strategie ein: Die vorgenommenen Gesetzesänderungen sollen Menschen auf der Flucht vor einem Schutzgesuch in Deutschland abschrecken, indem sie über Monate kaserniert, mit einem Arbeitsverbot belegt und teilweise nur mit Sachleistungen ausgestattet werden. Die Erweiterung der Liste vermeintlich „sicherer Herkunftsstaaten“ um Kosovo, Albanien und Montenegro wird vor allem die Roma-Flüchtlinge treffen: Bittere Armut, gepaart mit Diskriminierung, Gewalt und Antiziganismus, ist für den deutschen Gesetzgeber kein legitimes Migrationsmotiv, das die Anerkennung eines Schutzes nach sich zieht. Zudem wird die Illusion aufrecht gehalten, man könne leicht zwischen schutzbedürftigen, legitimen Asylsuchenden und bloßen Wirtschaftsflüchtlingen unterscheiden. Die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung, Professorin Hilal Elver, warnte kürzlich bei einem Besuch des Deutschen Instituts für Menschenrechte „vor der abschätzigen Verwendung des Begriffs ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘. Die aktuell zu beobachtenden Fluchtbewegungen seien neben Krieg und Zerstörung auch das Resultat einer wenig menschenrechtlich orientierten internationalen Wirtschafts- und Handelspolitik sowie des komplexen Zusammenspiels von Klimawandel und Nahrungsmangel.“ Weder ist eine grundlegende Reform des „inhumanen und dysfunktionalen Asylrechts“ in Europa (Klaus Bade) in Sicht, noch deutet sich ein grundlegender Wechsel in der krisentreibenden europäischen Handels- und Agrarpolitik gegenüber den Herkunftsländern der Fluchtmigrationen an. Erst durch diese politisch einfältige Perspektivlosigkeit werden die gegenwärtigen Fluchtmigrationen als eine Bedrohung der gewohnten Lebensweisen wahrgenommen. Ungestaltete und deshalb unsichere Zukunft. Und die Gewalt gegen Immigrantinnen und ihre Unterkünfte reißt nicht ab. Nur das unermüdliche Engagement einer breiten Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft für Menschen, die als Flüchtlinge zu etikettieren wir uns angewöhnt haben, hält die Hoffnung in Europa aufrecht.