23. Feb. 2022 © dpa
Abolitionismus / Gefangenenunterstützung / Menschenrechte / Strafrecht

Die Kritik an Ersatzfreiheitsstrafen wächst. Eine Chance für grundlegenden Wandel?

Die neue Bundesregierung hat eine Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems angekündigt. Im Koalitionsvertrag der Ampel ist festgehalten, das Strafrecht solle immer nur „Ultima Ratio“ sein. „Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeiten wir mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung“, halten die Koalitionspartner fest.

Die Änderungen könnten eine Herabstufung bestimmter Straftaten zu Ordnungswidrigkeiten umfassen, wie es etwa die Grünen schon länger fordern. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass zur Eintreibung von Geldbußen auch bei Ordnungswidrigkeiten eine Erzwingungshaft möglich ist. Weiterhin ist der alternative Einsatz von gemeinnütziger Arbeit denkbar, wie ihn beispielsweise Berlins Justizsenatorin der Linken Lena Kreck anstrebt.

Die Forderung nach einer Einschränkung oder kompletten Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe wird vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie wieder verstärkt von zivilgesellschaftlichen Gruppen erhoben. In den Justizvollzugsanstalten zeigt sich eine stark erhöhte Infektionsgefahr, unter anderem bedingt durch Platzmangel, mangelnde medizinische Versorgung, schlechte Belüftung und Vorerkrankungen von Häftlingen.

Das Grundrechtekomitee hatte sich im März 2020 an einem Offenen Brief an das Bundesgesundheitsministerium sowie die Justizminister*innen der Länder beteiligt, um eine Entlassung entsprechender Inhaftierter zu erreichen. „Die ersatzweise Verbüßung einer Geldstrafe erscheint uns insbesondere in diesen Zeiten als unverhältnismäßig und zu risikobehaftet“, heißt es in dem Brief. Eine Petition des Kollektivs Transratgeber für eine Amnestie bei Ersatzfreiheitsstrafen unterschrieben mehr als 1.000 Menschen. Mehrere Bundesländer, darunter etwa Berlin und Hamburg, hatten während der Corona-Pandemie tatsächlich Ersatzfreiheitsstrafen zeitweise ausgesetzt – in der Regel müssen die Strafen jedoch später nachgeholt werden.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema verstärkt derweil auch die Initiative „Freiheitsfonds“ von der Internetplattform Frag den Staat: Sie sammelt aktuell in einer eigenen Petition an den FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann Unterschriften für die Streichung des §265a StGB, das sogenannte „Erschleichen von Leistungen“.

Das Projekt hat seit Dezember 2021 dazu dutzende Personen „freigekauft“, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein ableisten mussten. Bundesweit habe man so bis Mitte Januar 153 Menschen durch Spendengelder aus dem Gefängnis „befreien“ können, 34 Jahre Haft habe man damit ausgelöst.

Der Bundesgerichtshof hatte 1990 entschieden, dass gegen die Zahlung von Geldstrafen oder die Ablösung von Ersatzfreiheitsstrafen durch Dritte nichts einzuwenden sei. Auch wenn der „Freiheitsfonds“ im Kern mit den Kosten einer Gefängnisunterbringung argumentiert, ebenfalls die wenig zielführende Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit fordert und keine prinzipielle Kritik am Knastsystem äußert, so hat das Vorhaben doch zahlreichen Menschen noch einmal die Unsinnigkeit und auch Ungerechtigkeit von Ersatzfreiheitsstrafen aufgezeigt. Es handelt sich dabei um eine Strafe, die vorwiegend arme und marginalisierte Menschen trifft.

Eine Untersuchung der Soziologin Nicole Bögelein verweist darauf, dass rund ein Drittel der Inhaftierten keinen festen Wohnsitz hat. Viele sind darüber hinaus erwerbslos, in einer schlechten finanziellen Situation oder suchtkrank. Neben dem Fahren ohne Fahrschein wird die Ersatzfreiheitsstrafe auch etwa bei Taten wie Diebstahl, Betrug, Hehlerei oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz angewendet.

Das Grundrechtekomitee setzt sich, seit 2021 auch als Teil des „Netzwerks Abolitionismus“, schon seit Jahren für eine Abschaffung ein, verfolgt aber ein grundlegenderes Ziel: die Vision einer Gesellschaft ohne einsperrende Institutionen und ohne Logiken des Strafens.

Es braucht alternative Konzepte zu Strafe und Freiheitsentzug und letztlich die völlige Abschaffung von Gefängnissen. Hierbei handelt es sich offensichtlich um ein Langzeitprojekt. Die sofortige Entkriminalisierung einzelner Delikte wie etwa Drogenbesitz oder Fahren ohne Fahrschein sowie der Verzicht auf bestimmte Arten der Haftstrafe kann jedoch einen Anfang darstellen, um das Knast-Regime Stück für Stück abzubauen.

Sebastian Bähr verstärkt seit November 2021 den Vorstand des Grundrechtekomitees.