28. Jan. 2016
Europa / Flucht / Menschenrechte

Die Stunde der Juristen schlug …

… als das Paradies zu Ende war (Ernst Bloch)

Sie sind schlecht integriert. Sie halten sich nicht an unsere Kultur. Sie begehen Straftaten. Sie sind gar nicht schutzbedürftig, sondern suchen nur ein besseres Leben. Sie sind Asylbetrüger. Und überhaupt: Sie sind zu viele. Und sie waren auch schon immer zu viele, selbst als sie – zwischenzeitlich – mal wenige waren. Wer die Asyldebatten der letzten Jahrzehnte kennt, der oder die kennt auch die Sprüche vom «Asylmissbrauch» und weiß, dass sie beileibe nicht nur an Stammtischen zu hören sind. Asyl- und migrationspolitische Debatten bieten rechten Hasspredigern und Wahlkämpfern ideale Gelegenheiten, ihr Gift zu verspritzen.

In dem Punkt unterscheidet sich die aktuelle Auseinandersetzung nicht von denen früherer Jahre. Neu ist jedoch, dass die Hassprediger Unterstützung erhalten von namhaften Verfassungsrechtlern, die die «Sicherung» der Grenzen zu einem zentralen Verfassungsgrundsatz erklären.

Udo Di Fabio zum Beispiel, von 1999 bis 2011 Richter am zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, hat für die bayerische Landesregierung ein Gutachten über die Frage erstellt, ob der Freistaat in Karlsruhe die Abdichtung der bundesdeutschen Grenzen gegen die Bundesregierung einklagen könne. Der ehemalige Träger einer roten Robe erinnert uns zunächst einmal daran, dass der Staat sich durch drei Elemente auszeichne – Staatsvolk, Staatsgebiet und natürlich staatliches Gewaltmonopol – und dass es bei der Staatlichkeit vorab um «Effektivität» und nicht um demokratische Legitimität gehe. Bedroht werde die Staatlichkeit nicht nur durch die kriegerische Konkurrenz der staatlichen Nachbarn (Di Fabios Beispiel: die Annexion der Ukraine durch Russland) oder durch Bürgerkriege (wie z.B. in Syrien). «Kann ein Staat die massenhafte Einreise von Menschen in sein Territorium nicht mehr kontrollieren, ist ebenfalls seine Staatlichkeit in Gefahr, schon weil das Staatsvolk und seine für es handelnden Organe (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Gefahr laufen, ihre personelle und territoriale Schutzverantwortung zu überspannen und die Funktionsfähigkeit als sozialer Rechtsstaat zu verlieren.» Das gehe nicht nur den Bund etwas an, sondern auch die Länder, «weil der besondere Charakter einer gravierenden Bevölkerungsveränderung auf allen gliedstaatlichen Ebenen unmittelbare Folgen hervorruft – und zwar gerade im geordneten Verfassungsstaat, der jeden einzelnen als Rechtssubjekt in seiner Würde und freien Persönlichkeitsentfaltung zu schützen verspricht.»

Deutschland habe die Kontrolle der Grenzen und die Bearbeitung von Asylverfahren durch das EU-Recht abdelegiert. Das Schengen- und Dublinsystem sei aber «mit dem aktuellen und in dieser Dimension unvorhergesehenen Massenzustrom ernsthaft überfordert». Schon zuvor hätten Griechenland und Italien ihre Verantwortung zur Kontrolle der Außengrenzen und zur Bearbeitung von Asylanträgen nur unzureichend wahrgenommen. Es bestehe nun eine «Rechtspflicht des Bundes, namentlich der Bundesregierung, darauf hinzuwirken, eine funktionsfähige, vertragsgemäße europäische Grenzsicherung (wieder)herzustellen und ein System kontrollierter Einwanderung mit gerechter Lastenverteilung zu erreichen.» Wenn das nicht möglich sei, «muss der Bund zur Wahrung der verfassungsstaatlichen Ordnung und zum Schutz des föderalen Gefüges zumindest einstweilen die gesetzmäßige Sicherung der Bundesgrenze gewährleisten». Über «beherrschbare Einzelfälle oder zeitlich eng befristete Ausnahmen hinaus» sei es jedenfalls den Organen des Bundes nicht erlaubt, «auf wirksame Grenzkontrollen überhaupt zu verzichten», weil damit auch die Funktionsfähigkeit der Länder gefährdet sei.

Ähnlich tönt es aus den Mündern und Federn von Hans-Jürgen Papier (ab 1998 Vorsitzender des ersten Senats und von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts) und von Michael Bertrams (von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs von Nordrhein-Westfalen). Papier, der sich im «Handelsblatt» äußerte, meint die «engen Leitplanken des deutschen und europäischen Asylrechts» seien  gesprengt und «bestehende Regelungen an die Wand gefahren» worden. Er diagnostiziert «rechtsfreie Räume» – was für einen deutschen Juristen gleichbedeutend ist mit dem nahenden Ende der Welt – und das nicht nur bei der «Sicherung der Außengrenzen». Die Entscheidung über die Begrenzung der Zuwanderung dürfe «nicht allein von der Regierung in einem rechtsfreien Raum» gefällt werden. Bertram, der im Kölner Stadtanzeiger einen Beitrag mit dem Titel «Die selbstherrliche Kanzlerin» veröffentlichte, sieht die Republik auf dem Weg zu einer «selbstherrlichen Kanzler-Demokratie». Wenn schon die – für ihn offenbar nebensächliche – Frage der «Entsendung einiger hundert Soldaten nach Mali» das Placet des Bundestages erfordere, dann erst recht «die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge».

Und so weiter. Die Frage, ob Bayern die Bundesregierung per Verfassungsgerichtsentscheidung zu einer anderen Asylpolitik (welcher?) und einer Schließung der deutschen Grenzen zwingen kann, ist hier nebensächlich. Vorerst ist dies ohnehin nur politische Schaumschlägerei. Die Herren Verfassungsrechtler müssen sich die Frage gefallen lassen, warum ihnen erst die Krise des Schengen-Dublin-Systems so zu Herzen geht und nicht bereits der Normalzustand. Dank des europäischen Grenzschutzes und dank des politischen Drucks aus Deutschland, das in den Schengen-Debatten immer Ton angebend war, bestand dieser Normalzustand nämlich darin, dass Tausende Menschen im Mittelmeer ertranken, dass viele unter elenden  Bedingungen in Lagern vor den europäischen Grenzen – im Libyen Ghadafys und in der Ukraine – festgehalten wurden, dass Flüchtlinge von diesen Staaten zurückgeschoben wurden – schlicht und einfach in die Wüste oder in Staaten, in denen sie definitiv nicht sicher waren, dass in Syrien vier Jahre lang Krieg herrschte und nur ein paar wenige Flüchtlinge den Weg nach Europa und noch weniger den nach Deutschland fanden …. Di Fabio erinnert sich zwar an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das Dublin-Rückschiebungen nach Griechenland stoppte, weil es dort kein ernstzunehmendes Asylverfahren, dafür aber Internierung von Flüchtlingen gab. Er weiß auch, dass diverse Verwaltungsgerichte Abschiebungen nach Ungarn stoppten – aus denselben Gründen. Und ihm ist auch bekannt, dass in Italien seit Jahren viele Flüchtlinge obdachlos sind. Ihm ist durchaus bewusst, dass das Dublin-System die Binnenstaaten der EU begünstigt und Asylsuchende es nur in den reichen Norden schafften, wenn sie die Registrierung umgingen und ihren Fluchtweg verschwiegen oder Märchen erfanden.

Dennoch: Der europäische Normalzustand müsse wieder hergestellt werden, meinen die Herren Verfassungsrechtler, und wenn das nicht gelingt, dann müssten eben die nationalen Grenzen dicht gemacht werden. Hauptsache, das Staatsvolk wird vor einer «gravierenden Bevölkerungsveränderung» bewahrt und die Staatlichkeit bleibt gesichert.