25. Nov. 2021 © dpa
Abolitionismus / Gefangenenunterstützung / Rente für Gefangene / Soziale Menschenrechte

Doppelt bestraft: Arbeitszwang und Ausbeutung in Haft

In deutschen Gefängnissen gilt für Strafgefangene die Arbeitspflicht. Laut den Strafvollzugsgesetzen des Bundes und der Länder gilt die erzwungene Arbeit in Haft zur Resozialisierung von Gefangenen,  dem primären Ziel der Freiheitsstrafe.

Aufgrund der Arbeitspflicht werden Strafgefangene nicht als Arbeitnehmer*innen definiert [1]. Diese Nichtanerkennung ist folgenreich, denn Strafgefangene können keine Arbeitnehmer*innenrechte in Anspruch nehmen. Für sie gelten demzufolge keine arbeitsrechtlichen Mindeststandards, d.h. keine gesetzliche Kranken-, Pflege und Rentenversicherung, keine Urlaubs- oder Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, kein Organisierungs- oder Streikrecht. Strafgefangenen wird zudem kein Anspruch auf den Mindestlohn zugestanden.

Der durchschnittliche Stundenverdienst in Haft betrug im Jahr 2016 - nach Angaben der Bundesregierung - 1,58 Euro. Dies entspricht einem durchschnittlichen Tagesverdienst von 12,55 Euro und liegt weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn von aktuell 9,60 Euro brutto pro Stunde. Sogar in der höchsten Vergütungsstufe der Strafvollzugsordnung wird damit ein Stundensatz von weniger als zwei Euro erreicht, er liegt weit unter dem Lohn für vergleichbare Tätigkeiten und Qualifikation außerhalb der Gefängnismauern. Einen Teil des  Entgeltes behält die JVA. Das den Gefangenen ausgezahlte Handgeld fließt zur Befriedigung basaler Bedürfnisse (monopolisierter und überteuerter Verkauf von Nahrungsmitteln, Drogerieprodukten, Tabak innerhalb der JVA) gewöhnlich ebenfalls zurück in die Anstaltskasse.

Die Verweigerung des Mindestlohnes für Strafgefangene wird begründet mit dem Fehlen eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages. Das Arbeitsverhältnis von Strafgefangenen sei ein öffentlich-rechtliches, denn ihr Dienstherr ist die Anstaltsleitung [2].

Die Arbeitspflicht ist auch nach der Föderalismusreform 2006 weiterhin Bestandteil der Strafvollzugsgesetze der meisten Bundesländer. Lediglich Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und das Saarland haben diese Arbeitspflicht zugunsten einer Freiwilligkeits- bzw. Sollregelung abgeschwächt [3]. Die in der Konsequenz rechtlich zu erwartende Anerkennung von Strafgefangenen als Arbeitnehmer*innen ist aus der Änderung in diesen Bundesländern nicht erfolgt.

In deutschen Gefängnissen  arbeiten bundesweit knapp 39.000 Strafgefangene – dies entspricht 77% der Inhaftierten. Weitere 11.500 Menschen arbeiten dagegen aus verschiedenen Gründen nicht. In den Bundesländern Sachsen und im Saarland sind nur knapp mehr als 50% aller Strafgefangenen in einem Arbeitsverhältnis.

Auch im Strafvollzug gibt es Arbeitslosigkeit, da nicht für alle Gefangenen Arbeit vorhanden ist [4]. Die Arbeitspflicht bezeichnete Kirstin Drenkhahn schon deshalb zu Recht als anachronistisch. Sie untersuchte den rechtlichen Status von Strafgefangenen in den Bundesländern ohne Arbeitspflicht hinsichtlich der Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung [5].

Gefangenenarbeit lässt sich in vier Kategorien einteilen [6]: 1) Reproduktionsarbeit, wie Reinigungsarbeiten und Arbeiten in der Kantine, 2) Produktion von Waren in den Eigenbetrieben (z.B. Tischlerei, Druckerei, Schlosserei, Bauhöfe) für den internen Gebrauch sowie für Behörden und den freien Markt, 3) Beschäftigung von Gefangenen als Leiharbeiter bei privatwirtschaftlichen Unternehmen, den sog. „Unternehmerbetrieben“, die in den Gefängnissen in eigenen Produktionsstätten Waren herstellen und 4) Gefangene, die im Freigang bei Vollzugslockerung außerhalb der JVA einer privatrechtlichen und daher regulär entlohnten und sozialversicherten Arbeit nachgehen.

Das Recherchezentrum Correctiv veröffentlichte im Juli 2021 eine Recherche über Privatunternehmen, die in deutschen Gefängnissen billig Waren produzieren lassen. Ihnen zufolge erzielten die Insassen der Justizvollzugsanstalten in Niedersachsen im Jahr 2019 über sechs Millionen Euro Umsatz für die sogenannten Unternehmerbetriebe. Mehr als jeder dritte Arbeitsplatz der niedersächsischen Gefängnisse wird für ein Privatunternehmen bereitgestellt. Den Recherchen zufolge lassen seit 2019 mehr als 500 externe Auftraggeber in Gefängnissen in Niedersachsen, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Thüringen Strafgefangene für sich arbeiten [7].

Doch auch von der regulär entlohnten Arbeit außerhalb der Gefängnisse profitieren die Strafgefangenen nicht. Am Beispiel des Unternehmens Dr. Oetker beschreiben Correctiv, dass in einer für den Lebensmittelhersteller tätigen Spedition, Freigänger aus der JVA Bielefeld-Senne für „leichte Lagertätigkeiten zur Unterstützung in der Kommissionierung und Konfektionierung von Dr. Oetker-Aufträgen“ arbeiten. Das Gefängnis erhält dafür 10,27 Euro pro Stunde. Die Gefangenen erhalten jedoch lediglich den im Strafvollzugsgesetz festgelegten Stundensatz von ein bis drei Euro, die Einnahmen werden im Landeshaushalt des Landes NRW verbucht, die Differenz behält laut Correctiv also der Staat ein.

Nicht nur die Justizbehörden haben ein Interesse am Status Quo ohne Mindestlohn. Die Privatunternehmen profitieren von der Produktion in deutschen Gefängnissen als „Billiglohninseln“ [8] mit Strafgefangenen zu Arbeitsbedingungen, die ansonsten etwa in Osteuropa herrschen. Seit Jahren wird deshalb für den Mindestlohn hinter Gittern protestiert. Die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) verbindet dies mit der Forderung nach der Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung, die seit 1977 eigentlich gesetzlich geregelt werden sollte [9]. Eine breite gesellschaftliche Debatte um Arbeitsbedingungen in Haft und die sozialen Folgen findet kaum statt, denn Strafgefangene und ihre Rechte sind in unserer Gesellschaft zu stark marginalisiert.

Zum Zwecke der Resozialisierung steht im Strafvollzug vorgeblich die Qualifikation für den zukünftigen Arbeitsmarkt und eine „positive Persönlichkeitsentwicklung“ im Vordergrund. Der andauernde Ausschluss aus der Sozialversicherung und die Ausbeutung von Strafgefangenen durch Arbeitspflicht spricht eine andere Sprache: Die zwangsläufig folgende Altersarmut wird in dem vorherrschenden Konzept ausgeblendet. Auch ist die Überschuldung nach der Entlassung aus der Haft ein häufiger Grund, erneut straffällig zu werden. Bereits 1998 hatte das Bundesverfassungsgericht zudem argumentiert, Arbeit in Haft könne nur dann der Resozialisierung dienen, wenn sie „angemessene Anerkennung findet sowie dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewusst gemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist“[10].

Die Gefangenenzeitung „Tr§tzdem“ der JVA Oldenburg rechnet in ihrem Plädoyer für einen Mindestlohn in Haft den finanziellen gesellschaftlichen Nutzen durch Beitragszahlungen von Strafgefangenen in das Sozialsystem vor, gingen diese mit der Einführung eines Mindestlohns einher. Besonders diene dies der Anerkennung von Strafgefangenen als vollwertige Mitglieder in Familien und Gesellschaft. Auch ein Anstieg der Motivation der Gefangenen sei bei angemessener Bezahlung zu erwarten und damit einhergehend eine Steigerung der oft beklagten niedrigen Produktivität [11].

Auf die Forderung nach Verbesserungen, wie der Einführung des Mindestlohns, wird häufig gekontert, dass Gefangene  dann ihren Aufenthalt in Haft selbst bezahlen sollten: Dies liest etwa Hans Amannsberger, Leiter der JVAs Straubing und Passau, in den Angleichungsgrundsatz §3 StVollzG („Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden“) hinein: „Wenn Gefangene bei uns zum Beispiel zum Sport gehen, das ist jetzt letztlich alles kostenlos. Und da stellt sich schon die Frage: Müsste ich dann ähnlich wie bei einem Fitnessstudio draußen für das auch noch was verlangen?“[12].

Das Ziel einer Resozialisierung von Menschen in Haft ist ohne ihre umfassende Anerkennung als Arbeitnehmer*innen und die damit einhergehenden Rechte offensichtlich vorgeschoben. Vielmehr spielen Gewinnmargen für privatwirtschaftliche Unternehmen durch die Ausbeutung von Strafgefangenen eine tragende Rolle, am Status Quo festzuhalten. Dies legt jedenfalls die Werbung um Aufträge der Justizvollzugsanstalten nahe, die gegenüber den Privatunternehmen die geringen Lohnkosten mitten in Deutschland stark machen [13].

Das Vorenthalten von Arbeitnehmer*innenrechten für Gefangene verstetigt ihre Armut und  gesellschaftliche Ächtung. Die Arbeit in Haft wird somit zu einer zusätzlichen Strafe [14]. Dies überrascht nicht. Eine Resozialisierung wurde im deutschen Strafvollzug „nie ernsthaft versucht und war wohl auch nie ernsthaft gewollt“. Dies ist Annelie Ramsbrocks Fazit in ihrer Untersuchung zur Geschichte des reformierten Strafvollzugs in deutschen Gefängnissen seit Anfang des 20. Jahrhunderts [15].

Die Arbeitspflicht für Strafgefangene ist eng verbunden mit der Entstehung des heutigen Gefängnisses und der modernen Freiheitsstrafe und steht in der Tradition der Zwangsarbeit. Diese reicht über die DDR und den NS zurück bis in die Zuchthäuser des 17. Jahrhunderts. Ein Beleg dafür ist bis heute im Grundgesetz enthalten. Dort heißt es in §12 GG: „Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig“.

Dieser Beitrag erscheint zuerst in der Ausgabe 3/2021 des Informationsdienstes Straffälligenhilfe der BAG-S.

[1] Ausführlich dargelegt von Kirstin Drenkhahn, Dürfen Gefangene eine eigene Gewerkschaft gründen?, Grundrechte-Report 2017, Frankfurt 2017, 99-102.

[2] Drenkhahn 101.

[3] Friederike Boll/Cara Röhner, Resozialisierung durch Ausbeutung? Arbeit und Gewerkschaftsbildung in deutschen Gefängnissen, KJ 50 (2017) Heft 2, Seite 197 Anm 14.

[4] Boll/Röhner 197. Nach Evelyn Shea, A Comparative Study Of Prison Labour In France, Germany And England, Penal Issues17,2006, 11 konnten 2002 in drei ausgewählten deutschen JVAs 17-37% der Strafgefangenen keine Arbeit vermittelt werden.

[5] Drenkhahn 100 an der Frage, ob Strafgefangene eine Gewerkschaft gründen bzw. sich in einer organisieren dürfen.

[6] Boll/Röhner 197 f. und „Trallenkieker“, Gefangenenzeitung der JVA Neumünster, Heft 199 Frühjahr 2021, 13-15.

[7] Timo Stukenberg/Olaya Argüeso, Leben im Gefängnis „Made in Germany“ – Wer von der Arbeit in Gefängnissen profitiert, Correctiv 21.7.2021: https://correctiv.org/aktuelles/justiz-polizei/leben-im-gefaengnis/2021/07/21/made-in-germany-wer-von-der-arbeit-in-gefaengnissen-profitiert/ (abgerufen am 4.9.2021)

[8] Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)

[9] Zum Stand der Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung siehe Britta Rabe, Eine Frage der Würde: Die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung. Ein Gesetzesversprechen bleibt uneingelöst, Corona & Strafvollzug, Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 2021, 39-44.

[10] BVerfGE 98, 169 (Ls. 2, 202, 214).

[11] Zitiert nach „Trallenkieker“, Gefangenenzeitung der JVA Neumünster, Heft 199 Frühjahr 2021, 13-15.

[12] Timo Stukenberg, Arbeitslohn für Strafgefangene: Resozialisierung oder ungerecht niedrig? https://www.deutschlandfunk.de/arbeitslohn-fuer-strafgefangene-resozialisierung-oder.724.de.html?dram:article_id=482581 (abgerufen am 4.9.21)

[13] Boll/Röhner 201; Timo Stukenberg/Olaya Argüeso, Leben im Gefängnis „Made in Germany“ – Wer von der Arbeit in Gefängnissen profitiert, Correctiv 21.7.2021 correctiv.org/aktuelles/justiz-polizei/leben-im-gefaengnis/2021/07/21/made-in-germany-wer-von-der-arbeit-in-gefaengnissen-profitiert/

[14] Dies legt ein Gerichtsurteil in Berlin nahe, das die Arbeitspflicht als Teil der Freiheitsstrafe formuliert: KG Berlin, B. v. 29.6.2015 - 2 Ws 132/15 Vollz. Rn. 19.

[15] Annelie Ramsbrock, Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte (Frankfurt/M. 2020).

 

Literatur:

Friederike Boll/Cara Röhner, Resozialisierung durch Ausbeutung? Arbeit und Gewerkschaftsbildung in deutschen Gefängnissen, KJ 50 (2017) Heft 2

Kirstin Drenkhahn, Dürfen Gefangene eine eigene Gewerkschaft gründen?, Grundrechte-Report 2017, Frankfurt 2017, 99-102.

Britta Rabe, Eine Frage der Würde: Die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung. Ein Gesetzesversprechen bleibt uneingelöst, Corona & Strafvollzug, Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 2021

Annelie Ramsbrock, Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch - eine bundesdeutsche Geschichte (Frankfurt/M. 2020)

Timo Stukenberg , Olaya Argüeso, Leben im Gefängnis „Made in Germany“ – Wer von der Arbeit in Gefängnissen profitiert, Correctiv 21.7.2021

Timo Stukenberg, Arbeitslohn für StrafgefangeneResozialisierung oder ungerecht niedrig?

Häftlingsarbeit: Ausbeutung durch Vater Staat. Plusminus 1.9.2021

Arbeitspflicht für Strafgefangene – geltende Rechtslage in Deutschland, Frankreich und Spanien. 2016 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 155/16

Mario Guido, Private Prison Labour: Paradox Or Possibility? Evaluating Modern-Day Systems And Establishing A Model Framework Through The Lens Of The Forced Labour Convention.