Ein Eigentor gegen die Grundrechte – Bei der Fußball-WM werden unmögliche Sicherheitsmaßnahmen möglich

Zwischen dem 9. Juni und dem 9. Juli 2006 findet die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland statt. 64 Spiele zwischen 32 Mannschaften werden die Fußballbegeisterten in Atem halten. Mindestens genauso atemlos macht das Sicherheits- und Ordnungsdispositiv, das bereits lange vor dem Anpfiff des Eröffnungsspiels zum «Schutz» der WM aufgefahren wird. Seit mehreren Jahren schon sind die Vertreter des kommerziellen Sports und die Hüter der staatlichen Sicherheit dabei, aus der Fußball-WM das größte sicherheitspolitische Ereignis des Jahres zu machen.

Rund hunderttausend PolizistInnen aus Bund und Ländern, cirka zehntausend Angestellte privater Sicherheitsdienste, eine – wie immer – ungekannte Zahl von Geheimdienstleuten und schließlich siebentausend Soldaten sind zu diesem Ereignis aufgeboten. Sicherheitspolitiker und Polizeiführer überbieten sich mit Warnungen vor den möglichen Gefahren – von gefährlichen Fans und «organisierten» Taschendieben bis hin zu einem terroristischen Anschlag.

Sie rechtfertigen damit einen Wust von «Sicherheitsmaßnahmen». Entrümpelung und Privatisierung des öffentlichen Raumes Von dem kommerziellen Großereignis «FIFA WM Deutschland 2006TM» erwarten die Vertreter des Fußballgeschäfts volle Kassen und die PolitikerInnen Werbung für den Standort Deutschland. Nichts soll dieses Ereignis stören – weder Obdachlose und DrogenkonsumentInnen in den Innenstädten noch politische Demonstrationen zur Unzeit. Hamburger Kaufleute haben sich deshalb, unterstützt vom Innensenator, schon im Januar für ein Bettelverbot in der Hansestadt stark gemacht. In Berlin musste der Christopher Street Day, der Tag, an dem die Homosexuellen mit Demonstrationen und Festen weltweit an ihre fortbestehende Diskriminierung erinnern, verschoben werden, weil die wegen der WM angeblich überlastete Polizei behauptet, nicht für ihren Schutz garantieren zu können.

Weite Teile der Innenstädte werden während der WM zu polizeilichen Kontrollzonen, in denen nicht nur die als Risiko eingestuften Fans mit besonderer polizeilicher Obhut zu rechnen haben. Die Innenministerkonferenz hat sich im Februar darauf geeinigt, die so genannten «public viewing areas», rund 300 öffentliche Plätze quer durch die gesamte Republik, an denen die Fußballspiele auf Großbildleinwänden zu sehen sind, zu „private areas" umzufunktionieren. Einzäunung, Einlasskontrollen und Patrouillen durch Ordnungsdienste der privaten Veranstalter sind hier ebenso vorgesehen wie eine Videoüberwachung, deren Bilder der Polizei zur Verfügung stehen.

Testfeld für die Sicherheitsindustrie

Verglichen mit britischen oder französischen wird die Videoüberwachung in deutschen Städten bisher vergleichsweise zurückhaltend eingesetzt. Die besondere «public-private partnership» bei den «public viewing areas» macht vor, wie die noch bestehenden Einschränkungen für diese Technik in Zukunft durch eine scheinbare Privatisierung öffentlicher Räume umgangen werden können. Die Stadien selbst werden spätestens mit der WM zu Überwachungshochburgen. Die FIFA besteht in ihrem Sicherheitsreglement darauf, dass sie mit Videoüberwachungsanlagen mit Zoom-Einrichtung ausgestattet werden, an die nicht nur die Stadionsicherheitsdienste, sondern auch die Polizei angeschlossen sind. Tickets für den Eintritt in die Stadien sind personalisiert und mit RFID-Chips (kontaktlos lesbaren Funkchips) ausgestattet. Bei der Bestellung der Eintrittskarten mussten die Interessierten einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen und lieferten massenweise Daten, die vor allem für die WM-Sponsoren von Interesse sein dürften. In einigen Bundesländern wird die Polizei während der WM neue mobile Fingerabdruck-Scanner einsetzen, die den Abgleich mit den im bundesweiten Fingerabdruck-Identifizierungssystem AFIS gespeicherten Daten vor Ort ermöglichen sollen. Bayern hat bereits angekündigt, diese Geräte nach der WM für die „Schleierfahndung" einsetzen zu wollen.

Massenhafte Sicherheitsüberprüfung

Alle etwa 250 000 Personen, die ohne Ticket ins Stadion wollen – von der Journalistin über den Würstchenverkäufer bis zur Putzfrau und zum freiwilligen Helfer –, mussten sich für die WM akkreditieren. Dabei mussten sie «freiwillig» unterzeichnen, dass sie mit einer Sicherheitsüberprüfung einverstanden sind. Dieses Geschäft erledigen das Bundeskriminalamt (BKA) und der Verfassungsschutz. Das «Gesamtvotum» des BKA geht an das WM-Organisationskomitee, das es dann unter anderem dem Arbeitgeber mitteilt. Die Betroffenen erfahren nur das gegebenenfalls negative Ergebnis, die Gründe dafür müssten sie beim BKA oder bei den Verfassungsschutzämtern erfragen. Letztere sind bei Auskunftsanfragen allerdings äußerst zugeknöpft. Für die Arbeitgeber ist die WM damit eine willkommene Gelegenheit, ihr Personal politisch «checken» zu lassen.

Einbezug der Geheimdienste

Zwar hält das «Nationale Sicherheitskonzept» fest, dass es keine Anzeichen für geplante Anschläge gegen die WM gibt. Das Fehlen solcher «Anhaltspunkte» wäre Grund genug, es für die WM bei den «normalen» Sicherheitsstandards zu lassen, die ohnehin – spätestens seit dem 11. September 2001 – nicht mehr «normal» sind. Die Folgerungen des Sicherheitskonzepts sind andere: Wo konkrete Hinweise fehlen, ist die abstrakte Gefährdung umso größer. Entsprechend groß sind deshalb die Anstrengungen, sie zu erkennen. Polizeilicher Staatsschutz (der Landeskriminalämter und des BKA) und Geheimdienste arbeiten dabei wieder einmal zusammen – in der «Besonderen Aufbau-Organisation» des BKA anlässlich der WM und in dem zum «National Information and Co-operation Centre» NICC umfunktionierten Lagezentrum des Bundesinnenministeriums, das täglich ein Gesamtlagebild zur WM erstellen soll. Mit von der Sicherheitspartie sind auch Staatsschützer aus dem Ausland. Unabhängig von dem erwartbaren Unsinn solcher täglicher Gefahrenbeschwörungen bietet die WM einmal mehr Gelegenheit zu demonstrieren, dass die organisatorische Trennung von Polizei und Geheimdiensten zur legitimatorischen Makulatur verkommen ist.

Militärischer Einsatz im Innern

Insgesamt siebentausend Soldaten sollen während der WM in verschiedener Form auftreten. Beteiligt ist das Militär zunächst bei der Überwachung der während der WM geltenden Flugverbotszonen – im „Nationalen Lage- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum" (NLFZ) sowie zusätzlich in den AWACS-Radar-Aufklärungsflugzeugen der NATO. Der Abschuss von zivilen Flugzeugen ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 zur Rechtswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes nicht mehr zu befürchten. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil auch die verfassungsrechtlichen Grenzen des Bundeswehreinsatzes im Innern deutlich gemacht. Der Einsatz von Soldaten bei der WM kann keine polizeilichen Aufgaben einschließen, auch nicht solche des Objektschutzes. Bundesinnenminister Schäuble und andere CDU-Politiker hatten kurz nach dem Urteil noch für eine schnelle Grundgesetzänderung plädiert. Nachdem diese nicht möglich war, schlugen sie als «Plan B» einen Hilfspolizei-Einsatz von Soldaten in Uniformen der Bundespolizei vor. Auch diese Camouflage, die zumindest bei einem Teil der SPD auf Zustimmung stieß, ist vorerst erledigt. Auch wenn die Soldaten während der WM «nur» im Sanitätsdienst, für die Unterbringung und Verköstigung von PolizeibeamtInnen, als ABC-Helfer etc. tätig sind, ist ihr massenhafter Einsatz eine erneute Werbeveranstaltung für den inneren Einsatz der Armee.

Fans als gefährliche Gruppe

Obwohl die «Hooligan-»Szene in den Fußballstadien quer durch Europa weitgehend verschwunden ist, macht die Polizei vor der WM nicht nur ihre Bereitschaftsabteilungen und Festnahme-Trupps mobil, sondern rüstet auch zu einer ideologischen Angstkampagne. Bereits im vergangenen Jahr hieß es, die Zahl der «Risikofans» liege allein in Deutschland bei Zehntausend. In der bundesweiten Datei «Gewalttäter Sport», die von der «Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze» beim Landeskriminalamt NRW geführt wird, sind derzeit etwa siebentausend Personen gespeichert (rund 2 000 mehr als noch vor einem Jahr). Um für mindestens fünf Jahre in dieser Datei zu landen, reicht eine Personalienfeststellung am Rande einer fußballbezogenen Auseinandersetzung. Es bedarf also weder eines Ermittlungsverfahrens noch einer Verurteilung. Die Polizei verfügt über ein abgestuftes Repertoire von Zwangsmaßnahmen, dessen «mildestes» Mittel die «Gefährderansprachen» sind: Besuche der Polizei zu Hause oder am Arbeitsplatz, die den Betroffenen klar machen sollen, dass sie unter Kontrolle stehen. Das Polizeirecht bietet darüber hinaus die Möglichkeit, einen Platzverweis oder ein Aufenthaltsverbot zu verhängen. Damit die betreffende Person auch sicher nicht am Stadion auftaucht, kann die Polizei ihr ferner zur Auflage machen, sich zu den entsprechenden Terminen bei einer lokalen Dienststelle zu melden. Letztes präventivpolizeiliches Mittel ist schließlich die vorbeugende Ingewahrsamnahme, der Unterbindungsgewahrsam, der in einigen Bundesländern bis zu vierzehn Tage dauern kann. Einige Bundesländer haben inzwischen angekündigt, vorbeugend-abschreckend bei angeblichen Risikofans den genetischen Fingerabdruck zu speichern.

Europa der Polizeien in Aktion

Seit 1988 haben die Polizeien der heutigen EU-Staaten eine fußballbezogene Zusammenarbeit entwickelt. Die polizeilichen Fußballinformationsstellen tauschen sowohl Lagebilder über die erwarteten Fangruppen, ihre mögliche Zusammensetzung, Anfahrtswege und Unterkünfte als auch personenbezogene Informationen aus. Sie entsenden «szenekundige Beamte», denen die deutsche Polizei bei der WM sogar ein Festnahmerecht einräumen will. Die Kontrollen an den EU-Binnengrenzen, die eigentlich abgeschafft sein sollten, werden aufgrund einer Ausnahmeklausel des Schengener Übereinkommens (Art. 2 Abs. 2) wieder eingeführt. Einige Staaten können ähnlich wie die BRD Ausreiseverbote verhängen. Großbritannien hat 3 500 Personen mit solchen «banning orders» belegt.

Was tun?

Das Konzert der Sicherheit bei der WM geht von den größten anzunehmenden Gefährdungen aus: von gefährlichen Fans, von Horden von Kriminellen, von blutigen Anschlägen. Die WM wird zum neuerlichen Test für das präventivpolizeiliche Instrumentarium, für einen bisher ungekannten auf die Dauer eines ganzen Monats ausgerichteten personellen Großaufwand, für die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten und für die Kooperation der „Sicherheitskräfte" im internationalen Rahmen, für neue Sicherheitstechniken und für eine neue Rolle des Militärs im Innern. Gerade deshalb ist zu befürchten, dass der Quasi-Ausnahmezustand nach Abpfiff des Endspiels nicht einfach vorbei ist. Die WM droht Muster zu etablieren – für kommende Großveranstaltungen wie etwa den G8-Gipfel im nächsten Jahr, aber auch für den Alltag. Unabhängig davon, ob uns das Geschehen auf dem grünen Rasen fasziniert oder nervt, muss uns deshalb die WM interessieren. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie beobachtet dieses Sicherheitskonzert unter grundrechtlicher Perspektive und wird die Ergebnisse dokumentieren. Daher bitten wir darum: - Melden Sie uns, wenn Demonstrationen oder Veranstaltungen gestützt auf die polizeiliche Überlastung während der WM verboten werden. - Informieren Sie uns, wenn Ihre Akkreditierung für eine Arbeit in einem WM-Stadion abgelehnt wurde. - Schildern Sie uns das polizeiliche und sicherheitsdienstliche Kontrollrepertoire in den Austragungsorten der WM, an und in den Stadien, bei den Großbildleinwänden oder im öffentlichen Raum. - Berichten Sie uns über Einsätze von Soldaten im öffentlichen Raum und gegebenenfalls über ihre Zusammenarbeit mit der Polizei. - Teilen Sie uns mit, wenn Sie als Fußballfan von polizeilichen Zwangsmaßnahmen betroffen wurden.

Heiner Busch

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