19. Mai 2020
Corona / Rechtsstaatlichkeit / Verfassung

Eine Generalklausel als Notstandsverfassung

Not kennt kein Gebot… und entscheidend ist, was hinten raus kommt. So lauteten wohl die zentralen Maximen, als sich vor wenigen Wochen in der Bundesrepublik die Erkenntnis Bahn brach, dass der weltweiten Pandemie nicht allein mit dem Nachverfolgen von Infektionsketten beizukommen sein würde und die zuständigen Behörden erkannten, dass ihre Stunde nun gekommen war. Innerhalb weniger Tage wurden angesichts der unkontrollierten Ausbreitung des Virus und eines befürchteten Zusammenbruchs des Gesundheitssystems zunächst per Allgemeinverfügungen, dann im Verordnungswege mit Strafandrohungen nahezu sämtliche gesellschaftlichen Beziehungen in einem Maße eingeschränkt, das bis dato undenkbar war: Grenzschließungen, Ausgangssperren, Schul- und Geschäftsschließungen, das Herunterfahren des gesamten öffentlichen und kulturellen Lebens, Zwangsrekrutierungen von Ärzt*innen und umfassende Kontaktverbote korrespondieren mit der weitgehenden Suspendierung zentraler bürgerlicher Freiheiten, nicht zuletzt der Versammlungsfreiheit.

Dass die massiven Grundrechtseingriffe vollständig zurückgenommen werden und nicht doch die schrittweise Rückkehr zur vermeintlichen Normalität überdauern, wird nicht zuletzt Aufgabe einer wachsamen Öffentlichkeit sein. Eine gesetzliche Änderung, die jedenfalls bleiben wird, ist die in aller Eile Ende März verabschiedete Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Neben der Einführung weitreichender und zweifelhafter Notkompetenzen im Gesundheitswesen und bezüglich Reisebeschränkungen wurde versteckt und völlig unzureichend die zentrale Norm geändert, auf die sich derzeit die ganz überwiegende Anzahl der Maßnahmen stützt. Dabei wirft nicht nur das mangelhafte Gesetzgebungsverfahren ein beunruhigendes Licht auf die rechtsstaatlichen Grundlagen der Maßnahmen. Das IfSG räumt den Gesundheitsbehörden den Gebrauch weitreichender Befugnisse ein, die – unter strengen gesetzlichen Voraussetzungen – vor allem die gezielte Absonderung Infizierter, Erkrankter und ihrer Kontaktpersonen vorsehen, die eine Gefahr für andere Menschen darstellen könnten: etwa die Anordnung von Zwangsuntersuchungen, das Betretungsrecht für Wohnungen Infizierter und notfalls auch die zwangsweise Quarantäne.

Die aktuellen Anordnungen aber treffen ohne jeden Vorbehalt die gesamte Bevölkerung unabhängig vom Infektionsstatus und von der Frage, ob von den einzelnen Menschen tatsächlich eine Gefahr für andere ausgeht. In der Annahme, dass jeder Mensch eine Gefahr für alle anderen darstellt, führt dies zur massiven Einschränkung so ziemlich aller bürgerlicher Freiheiten. Eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erschien den Behörden dabei nicht nötig, da ihrer Ansicht nach bei Erlass des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten und trotz der jahrelangen Warnungen, eine Pandemie nicht vorhersehbar gewesen sei und sich die nunmehr gebotenen Maßnahmen deshalb auf eine Generalklausel in § 28 Abs. 1 IfSG stützen könnten.

Derartige Generalklauseln sind wesentlicher Bestandteil des Gefahrenabwehrrechts und sollen den Behörden insbesondere in unvorhersehbaren Situationen erlauben, die für die Abwehr konkreter Gefahren notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Eine generelle Ermächtigungsgrundlage, die Behörden alles erlaubt, was sie für notwendig erachten, stellen sie dagegen nicht dar! Insbesondere für schwerwiegende Grundrechtseingriffe bedarf es einer ausdrücklichen und nachvollziehbaren gesetzlichen Grundlage. Doch die fehlende Ermächtigungsgrundlage ficht bislang weder die Exekutive noch die zu ihrer Kontrolle berufene Judikative an. Obwohl spätestens mit der Änderung des IfSG die Möglichkeit bestanden hätte, den zuständigen Behörden klare gesetzliche Maßstäbe an die Hand zu geben, wurde lediglich eine „Anpassung zum Zweck der Normenklarheit“ in der Generalklausel vorgenommen.

Doch die Schaffung einer nachvollziehbaren und verbindlichen gesetzliche Grundlage war wohl auch gar nicht das Ziel der Regierung. Vielmehr versucht sie ihre Rechtsauffassung abzusichern, dass der Exekutive alles erlaubt sein muss, was Erfolg im Kampf gegen das Virus verspricht. Dass gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln bisweilen deutlich überstrapaziert werden, ist nicht neu. Dass sie aber faktisch als eine Art Notstandsverfassung dienen, auf deren Grundlage die Regierungen in Bund und Ländern per Verordnung regieren, ist ein gefährlicher Präzedenzfall, dessen Wiederholung zu verhindern ein ebenso großes Gebot für eine demokratische Gesellschaft darstellt, wie die Rücknahme der Maßnahmen selbst.