11. März 2020 © dpa. Niedergebrannte Schule auf Lesbos
(Anti-)Rassismus / Flucht / Menschenrechte / Rechtsstaatlichkeit

Es ist ein Angriff auf Menschen, nicht auf Grenzen!

Entlang der Türkischen Grenze zu Griechenland und Bulgarien wird auf Menschen geschossen, mit Tränengas und Gummigeschossen. Tausende müssen am Grenzfluss Evros und auf den ostägäischen Inseln in menschenunwürdigen Bedingungen ausharren. Die derzeitige Eruption an Gewalt gegen Geflüchtete an den EU-europäischen Außengrenzen ist uns unerträglich.

Die neue Stufe der Gewalt hat bereits Tote und Verletzte durch Schüsse zur Folge, auch Ertrunkene sind zu beklagen. Die griechische Küstenwache greift Menschen auf See mit Eisenstangen und Schusswaffen an und zerstört deren Boote, um sie an der Weiterfahrt nach Griechenland zu hindern – Seite an Seite mit dem EU-Grenzschutz Frontex, der Boote zurück in Türkische Gewässer schafft. Im Grenzgebiet des Evros werden Menschen von griechischen Soldaten geschlagen, gedemütigt und gequält, indem sie nackt oder in Unterwäsche zurück in die Türkei geschickt werden. Auf türkischer Seite werden Menschen von Polizeikräften gegen ihren Willen nach Griechenland gezwungen. Tausende Menschen sind einkesselt vom türkischen und griechischen Militär. Zugleich nutzen Regierungen und Medien auf beiden Seiten die Situation zur eigenen Propaganda.

Das Vorgehen staatlicher Akteure findet Unterstützung in der Bevölkerung: Auf Lesbos lassen faschistische Mobs Boote mit Geflüchteten nicht anlegen, Schlägertrupps greifen Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs an, humanitäre Einrichtungen werden in Brand gesetzt. Neonazis aus Deutschland und Frankreich fühlten sich bereits eingeladen, an den Hetzjagden auf der Insel teilzunehmen.

Auch hat die griechische Regierung die seit langem angekündigte Auflösung des Deals durch den Autokraten Erdoğan und seine Ansage, Flüchtende in Richtung Europa nicht mehr mit Gewalt aufzuhalten, mit der „vorübergehenden“ Aufhebung des Asylrechts in Griechenland beantwortet, ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und eine Bankrotterklärung für die Menschenrechte. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass diese rechtswidrige Maßnahme bald zurückgenommen wird, denn eine Verurteilung durch EU-Gremien und Regierungen blieb bislang aus. Neu Angekommene werden ohne Asylverfahren abgeschoben oder zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.

Neben der öffentlich sichtbaren Gewalteskalation sind insbesondere das offensichtliche Zusammenwirken von Politik, Grenzschutz und rassistischer Gruppierungen das erschreckende Neue. Es herrscht lautes Schweigen der politischen Verantwortlichen angesichts der offensichtlichen Rechtsbrüche und Straftaten gegen Geflüchtete sowie gegen Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs. Während Ungarns rechtswidriger und rassistischer Umgang mit Geflüchteten zu Recht gerügt wird, bleibt das aktuelle Vorgehen der griechischen Regierung nicht nur unwidersprochen – Ursula von der Leyen lobte Griechenland sogar als "Schutzschild" Europas und sagte 700€ Millionen Euro Unterstützung zu, jedoch nicht für humanitäre Hilfe, sondern für das "Migrationsmanagement", mit anderen Worten: für den Grenzschutz. Die Grenzschutzagentur Frontex erhält zusätzliche Truppen, Boote und Helikopter. Auch Polizeibeamt*innen aus Deutschland wurden bereits angefordert.

Diese Eskalation kommt  nicht aus dem Nichts, sie liegt begründet in der rassistischen Politik der EU der vergangenen Jahre: Der Türkei-Deal von 2016 hieß Rückschiebungen von Geflüchteten in die Türkei und deren Abschiebung in die Herkunftsländer sowie die massenhafte Internierung von Geflüchteten auf den ostägäischen Inseln. Das mit 21.000 Zufluchtsuchenden völlig überfüllte Lager Moria auf Lesbos ist die sichtbarste Verfehlung dieser Politik.

Der lange Sommer der Migration 2015 wird knapp fünf Jahre später im wahrsten Sinne des Wortes als Totschlag-Argument verwendet, um jeglicher Unterstützung oder gar einer angemessenen Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland eine klare Absage zu erteilen. Das Bundesinnenministerium hatte sofort in mehreren Sprachen eine Warnung an die Menschen in der Türkei ausgegeben, die Grenzen Europas und die deutschen Grenzen stehe Flüchtlingen aus der Türkei nicht offen. Die Ordnung sei in Gefahr, es drohe der „Kontrollverlust“. Während 2015 der Bundesregierung Bilder von Waffengewalt gegen Menschen auf der Flucht der eigenen Bevölkerung gegenüber noch als unzumutbar galten und auf die Rufe nach „Schusseinsatz“ aus den Reihen der AfD breite Empörung folgte, wird dieser nun als notwendig suggeriert. Das unablässige Wiederholen eines "Kein neues 2015" als Schreckensvision dient der Legitimation militärischer Notwendigkeit.

Doch diejenigen, die aktuell die Grenze Richtung EU überqueren wollen, zahlenmäßig übrigens weit weniger als jene, die ab 2015 in Deutschland und anderen Ländern willkommen geheißen wurden, könnten problemlos aufgenommen werden, die Infrastruktur dafür ist vorhanden – allein der politische Wille fehlt.

Rund 140 Kommunen in der BRD signalisieren bereits seit vielen Monaten ihre Bereitschaft als "sichere Häfen" zur zusätzlichen Aufnahme von Geflüchteten. Bundesweit gehen aktuell dafür wieder tausende Menschen auf die Straßen. Die Bundesregierung einigte sich mit weiteren EU-Staaten schließlich auf die Aufnahme von rund 1.600 "besonders vulnerabler" Kinder aus den Elendslagern der griechischen Inseln. Die Bereitschaft, deklariert als humanitäre Geste, geht aber am eigentlichen Bedarf vorbei und ignoriert, dass alle – Frauen, Männer und Kinder – einer sofortigen Evakuierung aus Griechenland bedürfen. Und nicht eine Neuauflage, sondern nur die Aufhebung des Türkei-Deals sowie die Aufnahme der Schutz bedürftigen Menschen in den EU-Staaten kann die aktuelle Situation entschärfen.

Von Lesbos bis Hanau – rassistische Kontinuitäten

Wer von der Gewalt an den Europäischen Außengrenzen spricht, darf auch von den rassistischen Zuständen in Deutschland nicht schweigen. Vor wenigen Wochen erschoss in Hanau ein rechter Attentäter zehn Menschen, gezielt suchte er zwei Shisha-Bars auf. Wohl nicht von ungefähr: Diese Orte werden von Behörden und Medien pauschal als besonderes Sicherheitsproblem dargestellt und sind regelmäßig von Polizei-Razzien betroffen, unter dem Beifall rassistischer Hetze in den Sozialen Medien. Der Angriff auf eine Shisha-Bar in Stuttgart und die vermutete Brandstiftung in einer Shisha-Bar in Döbeln zeigen, dass Menschen sich durch die rassistischen Taten und die Tatenlosigkeit der regierenden Parteien ermuntert fühlen, die stets nur mit dem Ausbau von Aufrüstung und Überwachung antworten.

Auf der zentralen Trauerfeier in Hanau versicherten die anwesenden Politiker*innen mit tröstlichen Worten, die Ermordeten seien selbstverständlich Teil der deutschen Gesellschaft gewesen. "Die Opfer waren keine Fremden" hieß auch das Motto der Gedenkfeier. Die Opfer – viele hier geboren und aufgewachsen – werden aufgrund ihrer migrantischen Wurzeln dennoch vielfach als "Ausländer" tituliert. Ihre Anerkennung auf der Trauerfeier als Hanauer Bürger*innen durch politischen Repräsentant*innen war daher eine nötige Richtigstellung.

Doch müssen wir fragen, was es denn heißt, wenn Betroffene von rechter Gewalt eben nicht „von hier“ sind, wenn es sich um Menschen handelt, die als „Fremde“ bezeichnet werden? Legitimiert dies rechte Morde, ebenso Gewalt, wie sie aktuell etwa an der Türkischen Grenze zu EU-Europa ausgeübt wird? Nach München, Halle oder Hanau ertönen die immer gleichen folgenlosen Worte der Betroffenheit der politisch Verantwortlichen. Doch lasst sie uns an Taten messen und nicht an Worten.

 

Antirassistische Arbeit und Unterstützung läuft gewöhnlich leise und im Hintergrund. Lokalen Initiativen In Hanau, bundesweiten Netzwerken sowie solidarischen Personen ist es zu verdanken, dass nach dem rechten Terroranschlag in Hanau am 19. Februar Angehörige unterstützt und gehört wurden, dass es Raum für gemeinsame Begegnungen des Gedenkens gab und laute Demonstrationen, auf denen von rechter Gewalt Betroffene zu Wort kamen und angemessene Worte gefunden wurden. In Hanau wird die Initiative 19. Februar die Forderungen nach Aufklärung und politischen Konsequenzen aufrecht erhalten.

All die vielen Personen und Initiativen, die jahrelang und bis heute auf Lesbos und an anderen Brennpunkten in Griechenland und entlang der Balkanroute solidarische Arbeit leisten, stehen momentan im Schatten der rassistischen Gewalteskalation, doch sie sind weiterhin da und aktiv.

Ihnen allen gilt unser Dank

 

Zahlreiche Erklärungen zu der aktuellen Gewalt entlang der Türkischen Grenze zu EU-Europa wurden bereits verfasst und sind hier aufgeführt. Es folgt eine Übersicht über Blogs und Webseiten mit aktuellen Informationen zur Lage vor Ort.

Erklärungen

Transnationale Solidarität gegen Rassismus und Krieg!

A coalition to “shield” migrants and refugees against violence at the borders

Stellungnahme: An den europäischen Außengrenzen entscheidet sich Europa: Rat für Migration

Wir, die Akademiker/innen und Wissenschaftler/innen dieses Landes werden nicht Teil dieses Verbrechens sein!

Medico International: "Teilen oder schießen? Warum sich 2015 wiederholen muss"

„Es gibt keinen Grund, länger zu warten“ Was ist so ein Europa noch wert?

 

Informationen zur Situation entlang der türkischen Grenze

Factsheet: Das Vorgehen Griechenlands und der EU an der türkisch-griechischen Grenze. Eine menschen- und flüchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situation

https://dm-aegean.bordermonitoring.eu/2020/03/07/shootings-and-hunting-the-fascistisation-of-the-european-border-regime/

Watch the Med Alarmphone: Escalating violence in the aegean sea - attacks and human rights abuses by european coastguards 1-3 march 2020

http://gocmendayanisma.com/ (türkisch-englisch)

https://harekact.bordermonitoring.eu/

https://bulgaria.bordermonitoring.eu

https://ffm-online.org/category/laender-regionen/europa/griechenland/