02. Jan. 2018
Polizeigewalt / Praxis & Aktion / Prozessbeobachtung / Strafrecht / Versammlungsrecht

G20: Gewaltverhältnisse vor Gericht - Zwischenbericht zum Prozess gegen Fabio V.

Im Amtsgericht in Hamburg Altona werden seit Mitte Oktober 2017 die Vorwürfe gegen den 19-­jährigen Italiener Fabio V. verhandelt. Er war am Morgen des 7. Juli im Rahmen der G20-Proteste in der Hamburger Straße Rondenbarg festgenommen worden. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie beobachtet den Prozess kritisch. Aus unserer Sicht stellt dieser Prozess auf mehreren Ebenen einen Kristallisationspunkt im Ringen um die politische und juristische Aufarbeitung der Gipfelproteste dar. Zum einen handelt es sich um den ersten Rondenbarg-Prozess und somit um einen Gradmesser für die Aufarbeitung der Situation, in der es zu einem der umstrittensten Polizeieinsätze während des G-20-Gipfels kam. Dort wurden mit Abstand die meisten Personen vorläufig festgenommen, zugleich mussten 14 verletzte Demonstrant*innen ins Krankenhaus gebracht werden, zum Teil mit offenen Knochenbrüchen.

Der Ablauf der Situation am Rondenbarg soweit bekannt

Kurz vor 6.30 Uhr traf in der Straße Rondenbarg eine Gruppe Demonstrierender auf Polizist*innen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) Blumberg, eine nahe Berlin stationierte Einheit der Bundespolizei. Laut eigenen Berichten sei diese aus einem 150-200 Personen starken „schwarzen Block“ „massiv und gezielt mit Flaschen, Böllern und Bengalos beworfen“ worden, sodass sich die Polizeibeamt*innen gezwungen gesehen hätten, zuzugreifen. Innerhalb von Sekunden brachten die Polizist*innen die Demonstrierenden zu Boden. Beim Zugriff und Aufeinandertreffen kam es zu einer Massenpanik unter den Demonstrierenden, bei der ein Großteil der Gruppe über ein Geländer auf einen etwas tiefer gelegenen Parkplatz der Firma Transthermos flüchtete. Unter dem Gewicht der Menschen brach das Geländer, mehrere Personen stürzten in die Tiefe und verletzten sich schwer. Insbesondere dieser Einsatz ist seitens der Medien stark kritisiert worden, nachdem Betroffene sich über heftige Polizeigewalt beschwerten und ein Polizeivideo zu dieser Situation öffentlich zugänglich wurde, in dem sich die Aussage über vorgeblich massive Steinwürfe nicht erkennen lässt. Auch die Art und Weise der polizeilichen Demonstrationsauflösung wirkte in dem Video alles andere als verhältnismäßig. Deshalb ist die Exekutive hier unter Druck, den Einsatz zu rechtfertigen, auch vor dem Hintergrund, dass seitens des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz grundsätzlich bestritten wird, es habe während des Gipfels überhaupt Polizeigewalt gegeben.

Die viel zu lange Untersuchungshaft

Neben der Bedeutung des Falles für den größeren Kontext von Polizeigewalt und (fehlender) politischer Verantwortung im Rahmen des G20-Gipfels, kommen individuelle Besonderheiten hinzu. Hier muss die fast fünfmonatige Untersuchungshaft genannt werden. Obwohl Fabio V. schon im Juli „einzelne eigenhändige Gewalthandlungen“ nicht zugeordnet werden konnten und dies bei der Anklageverlesung im November erneut bestätigt wurde, kam er erst am 27.11.2017 aus der Untersuchungshaft frei und wurde somit von allen am Rondenbarg Festgenommenen am längsten in U-Haft behalten.

Eine schon am 18. Juli vom Landgericht ausgesprochene Haftverschonung wurde vom Oberlandesrichter Tully am 21. Juli mithilfe drastischer Aussagen über die Persönlichkeit des jungen Mannes, die einer Vorverurteilung gleichkamen, aufgehoben. Den Haftgrund der Fluchtgefahr begründete der Oberlandesrichter damit, dass sich sowohl nach Erwachsenen- als auch Jugendstrafrecht eine „empfindliche Freiheitsstrafe“ ergeben würde, dem Angeklagten wurden „voraussichtlich vorhandene schädliche Neigungen“ unterstellt, denen „keine hinreichend tragfähigen familiären, sozialen oder aber beruflichen Bindungen“ entgegenstünden. „Der Beschuldigte habe sich massiv und nachhaltig gegen die Rechtsordnung aufgelehnt“, habe „damit die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Hamburg mitverursacht“. „Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Eigentum“ seien „für den Beschuldigten erkennbar ohne jede Bedeutung“. Wie der Oberlandesrichter zu diesen Einschätzungen kam, ist unklar – Fabio V. hatte sich bis dahin nicht zu den Vorwürfen geäußert, auch ein psychologisches Gutachten war nicht angefertigt worden. Eine einem Oberlandesgericht angemessene, nüchterne Beurteilung der Faktenlage würde sich anders lesen.

All das hatte uns veranlasst, uns diesem Prozess in besonderem Maße zuzuwenden, da befürchtet werden muss, dass Fabio V. unverhältnismäßig hart be- und verurteilt wird - unabhängig des Nachweises einer individuellen Straftat - und mit hoher Relevanz für weitere Urteilsfindungen über diesen Einzelfall hinaus. Wir haben nun entschieden, einen ersten Bericht über unsere Beobachtungen vorzulegen, auch vor dem Hintergrund der am 05. Dezember durchgeführten bundesweiten Hausdurchsuchungen und der am 18. Dezember eingeleiteten öffentlichen Onlinefahndung. Der bisherige Verlauf des Prozesses, dessen breite mediale Begleitung und die öffentlichkeitswirksame, von der Sonderkommission „Schwarzer Block“ veranlasste Suche nach weiteren Beweisen und vermeintlichen Täter*innen können aus unserer Sicht nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.

Der Prozess und die Anklage

Die Verhandlung wurde am 16. Oktober eröffnet. Die Staatsanwaltschaft wirft Fabio V. in ihrer Anklage schweren Landfriedensbruch, versuchte schwere Körperverletzung und tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamt*innen vor. Aus der Demonstration heraus seien mindestens 14 Steine und vier pyrotechnische Gegenstände geworfen worden. Die Menge soll zudem mit allerlei gefährlichen Gegenständen wie Steinen, Sägen, Bolzenschneidern und Zwillen bewaffnet gewesen sein. Eine eigenhändige Gewaltausübung, also Flaschen- oder Steinwürfe, würden ihm nicht zur Last gelegt. Er sei aber Teil einer gewaltbereiten und gut organisierten Demonstration gewesen, was sich unter anderem an der Vermummung und der schwarzen Kleidung ablesen lasse. Er habe demnach durch seine bloße Anwesenheit die Stein- und Flaschenwürfe gebilligt und psychologisch unterstützt und könne somit dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Fabio V. selbst äußerte sich nicht zu den Vorwürfen, verlas aber eine politische Erklärung zu den Beweggründen seiner Beteiligung an den Gipfelprotesten. Er formulierte darin eine scharfe Kritik an den G20-Staaten und deren Anmaßung, über Zukunftsangelegenheiten zu entscheiden, die die ganze Menschheit betreffen.

Gleich zu Beginn der Verhandlung stellte die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin, welcher abgewiesen wurde. Darauffolgend beantragte die Verteidigerin die Einstellung des Verfahrens wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses nach § 260 Abs. 3 StPO. Sie bezog sich damit auf das OLG-Urteil zur Fortführung der Untersuchungshaft und das Einfordern harter Strafen durch mehrere Bundes- und Lokalpolitiker. Ein unabhängiges Verfahren sei durch Vorverurteilung einer höheren Instanz und politische Einflussnahme unmöglich gemacht worden. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.

Wer kennt Fabio V.?

Im weiteren Verlauf wurden sechs Polizeizeugen gehört und mehrere Videos und Fotos in Augenschein genommen. Nur einer der sechs Beamten – ein Polizist der Blumberger BFE-Einheit – konnte die Fragen „Kennen Sie Fabio V.?“ oder „Haben Sie Fabio V. schon einmal gesehen?“ mit „Ja“ beantworten. Er hatte den auf dem Bürgersteig sitzenden Fabio V. zur Fotoaufnahmeeinheit, zum Sachbearbeiter und zum Gefangenentransport gebracht. Seine Interaktion mit dem Angeklagten begann damit erst über zwei Stunden nach der gewaltsamen Auflösung der Demonstration. Nach sechs Verhandlungstagen sind die Aussagen des Polizisten und die kurzen Videosequenzen, die Fabio V. einige Zeit nach der Demoauflösung auf dem Parkplatz der Firma Transthermos zeigen, die einzigen qualitativen Anhaltspunkte für seine Teilnahme an dem Protestzug. Durch seine langen Haare, sein Halstuch und seine Kleidung ist er leicht wiederzuerkennen. Die im Video sichtbare Bekleidung entspricht dem, was in der Anklageschrift vermerkt ist, nicht. Man sieht ihn zunächst vom Parkplatz aus nach oben gestikulierend, später über den Parkplatz in Richtung einer kleineren Personengruppe gehen, bei der er sitzen bleibt.

Das Ende der Untersuchungshaft

Als am 15. November nach vier Prozesstagen und der Anhörung des vierten Zeugen keiner davon Fabio V. persönlich gesehen hatte, stellte die Verteidigung erneut den Antrag auf Beendigung der Untersuchungshaft und lud Fabios Mutter in den Zeugenstand. Diese sagte aus, dass sie mittlerweile in Hamburg wohne, dass ihr Sohn dort mit ihr wohnen könne und dass er auch nach Beendigung der U-Haft weiterhin zu den Verhandlungsterminen erscheinen werde. In den zwei Folgewochen ging der Antrag auf Haftverschonung durch drei Instanzen. Die Vorsitzende Amtsrichterin und auch das Landgericht gaben ihm unter Verhängung strenger Auflagen statt, allerdings legte die Staatsanwaltschaft immer wieder Beschwerde ein, sodass die Entscheidung erneut vom Oberlandesgericht getroffen werden musste. Diesmal beschied auch das OLG unter Richter Tully den Antrag positiv, allerdings nicht ohne seine Sichtweise auf den Prozess nochmals deutlich zu machen und erneut Empfehlungen für ein Urteil auszusprechen. Er schlug vor, die Anklagen wegen versuchter schwerer Körperverletzung und tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte nicht weiter zu verfolgen, sondern im Folgenden nur auf den Landfriedensbruch abzustellen.

Gelten Demonstrierende hier auch als Hooligans?

Das OLG führte dabei eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 24. Mai 2017 an, bei der zwei Hooligans wegen Landfriedensbruchs verurteilt worden waren. Die Angeklagten hatten an einem vorab verabredeten, öffentlich ausgetragenen, gewalttätigen Kampf zweier Fußballfangruppen teilgenommen. Obwohl ihnen keine individuell begangenen Gewalttätigkeiten zugeordnet werden konnten und sich einer sogar kurz vorher aus der Gruppe entfernt hatte, urteilte der BGH, allein die psychische Unterstützung der Teilnehmer sei strafbar im Sinne des § 125 StGB. Das "ostentative Mitmarschieren" sei Landfriedensbruch. Was das Hamburger OLG beim Bezug auf Fabio V.s Fall außen vor lässt, ist die klare Unterscheidung, die der BGH mit Blick auf Demonstrationen im Urteil wörtlich getroffen hat:

Alle Teilnehmer der Menschenmenge verfolgten einzig das Ziel, geschlossen Gewalttätigkeiten zu begehen. Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der „Dritt­Ort-Auseinandersetzung“ gewalttätiger Fußballfans von Fällen des „Demonstrationsstrafrechts“, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen. Im vorliegenden Fall war die Begehung der Gewalttätigkeiten jedoch das alleinige Ziel aller Beteiligten.

Die Argumentation des OLG zeigt auf, welchen Weg auch Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschlagen gedenken, um Fabio V.s Schuld zu beweisen. Es soll herausgestellt werden, es habe sich bei dem Demonstrationszug um eine in Gänze gewalttätige Gruppe gehandelt, die einen einheitlichen Tatplan hatte, und dass somit jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eventuelle Steinwürfe mitzuverantworten habe. Diese Argumentation führten im Übrigen auch der Leiter der SoKo „Schwarzer Block“ und Polizeipräsident Meyer an, als sie am 5. Dezember in einer Pressekonferenz zu den deutschlandweiten Hausdurchsuchungen erklärten, diese fänden statt, um weiteres Beweismaterial für die Situation am Rondenbarg und den vermeintlichen Tatplan zu sammeln.

Die Suche nach vermeintlichen Gewalttätigkeiten

Der Schwerpunkt der Verhandlung liegt somit von Beginn an darauf, Ablauf und Ausmaß vermeintlicher Gewalttätigkeiten aus der Gruppe der Demonstrierenden gegen die involvierten Polizeieinheiten entsprechend der Annahmen vom gemeinsamen Tatplan gerichtlich zu rekonstruieren. Von besonderer Bedeutung ist die Aussage des sechsten Polizeizeugen, welcher der Blumberger BFE-Einheit angehört, die den Demonstrationszug stoppte. Sämtliche Anordnungen von Untersuchungshaft stützen sich auf den Bericht seines stellvertretenden Einsatzführers, der den schnellen und gewaltsamen Zugriff auf die Demonstration folgendermaßen begründete:

Als sich die Menschenmasse ca. 50m vor uns befand, wurden wir aus ihr massiv mit Flaschen, Böllern und Bengalos beworfen. Steine trafen die Beamten und die Fahrzeuge." Nur aufgrund der "Schutzausstattung" sei kein Polizist verletzt worden. "Um die gegenwärtigen Angriffe abzuwehren, lief die Hundertschaft in Richtung der Menschenmenge an, wobei der massive Bewurf mit Steinen weiter anhielt.“

Das schon oben erwähnte öffentlich einsehbare Polizeivideo widerlegt diese Darstellung. Drei bis fünf fliegende Gegenstände sind darin sichtbar, allein pyrotechnische Gegenstände sind eindeutig im Flug zu erkennen. Nach dem Loslaufen der Polizist*innen liegen vor den Polizeiwagen vereinzelt Steine auf dem Boden, sodass davon auszugehen ist, dass diese geworfen wurden. Hätte ein Stein gemäß obenstehender Aussage eines der Polizeiautos oder Beamt*innen getroffen, hätte das allerdings im Video seh- und hörbar sein müssen.

Die Formulierungen des stellvertretenden BFE-Führers sind auch für die Aussage des Blumberger Polizisten bedeutsam. Dieser sagte vor Gericht aus, noch vor dem Anhalten der Autos seien Steine in Richtung der Polizei geworfen worden, diese seien auf seinem Polizeiwagen und auf den Wagen rechts und links von ihm hör- und spürbar eingeschlagen. Er hätte diese im hohen Bogen geworfenen Steine im Flug gesehen. Zur Größe der Steine könne er nichts sagen, er habe einen lauten, dumpfen Knall beim Aufprall gehört und daraus geschlossen, „dass der Kieselstein groß sein muss“. Seine Aussage ist somit fast deckungsgleich mit dem Bericht des stellvertretenden BP-Führers. In der Befragung sagte er zusätzlich aus, dass er im VW-Transporter in dritter Reihe saß und nach vorne aus dem Auto blickte. Das Fahrzeug, in dem er mitfuhr, sei auf der linken Seite vorne gestanden.

Das Video, das ihm im Gerichtssaal vorgehalten wurde, zeigt aber das von ihm beschriebene Fahrzeug am rechten Bildrand in dritter Reihe dicht hinter zwei weiteren Polizeitransportern stehend. Das macht die Aussage, er habe von seiner Sitzposition aus in hohem Bogen geworfene Steine im Flug gesehen, unglaubwürdig. Auf die Frage, ob es einen Schaden am Auto gegeben hätte, antwortete er, dass er das nicht wisse. Die Begutachtung des Wagens hätte ein Kollege seines Trupps übernommen, an den er sich nicht mehr erinnere, und das Ergebnis kenne er auch nicht. Verteidigerin Gabriele Heinecke bemerkte, dass Beweise über einen Schaden dem Gericht vorliegen würden, wenn es diese gäbe.

Der sonderbare Realitätsbezug eines Polizeizeugen

Das Aussageverhalten des Polizisten ist auffällig: Er wirkte angestrengt und nervös, antwortete zögerlich, sprach mitunter so leise, dass er nicht zu verstehen war und antwortete auf gewisse Fragen gar nicht. Zur Frage, wie er den Auftrag, die Identität der entgegenkommenden Menschengruppe festzustellen, ausgeführt habe, antwortete er, er habe die Personen in seinem Sichtfeld einzeln angesprochen und ihnen gesagt, sie sollen sich setzen. Er habe dazu nur seine Stimme eingesetzt. Diese wären entweder geflüchtet oder hätten ihm Folge geleistet, sodass er diese dann im weiteren Verlauf bewachte. Es seien keine Personen verletzt worden, es hätten zwar Rettungswagen angefordert werden müssen und es seien Personen ins Krankenhaus gefahren worden, ob diese verletzt gewesen seien, wisse er aber nicht.

Die im Gerichtssaal gezeigten und zum Teil öffentlich einsehbaren Videos zeigen, dass keine der Personen „angesprochen“ wurde und dass Hinsetzen keine von der Blumberger Einheit geduldete Option war. Die Polizisten zerschlugen die Demonstration innerhalb weniger Sekunden und brachten die Demonstrant*innen mittels körperlicher Gewalt zu Boden. Diese mussten sich hinlegen und wurden angeschrien, den Kopf unten zu behalten. Dass der Polizist zudem von den Verletzungen, zum Teil offenen Brüchen, nichts mitbekommen haben will, ist wie ein Großteil seiner Aussagen wenig glaubhaft.

Schon während des Einsatzes war den polizeilichen Führungspersonen offenbar klar, dass diese gewaltförmige Demonstrationsauflösung Fragen nach sich ziehen würde. Im Polizeivideo ist über Funk zu hören: „Hier die eins. Das müssen wir unbedingt alles sichern, alles was Sie haben, Vermummung, Steine, was hier rum liegt, alles das brauchen wir zur Rechtfertigung der Maßnahme.“ Dass sich der stellvertretende Einsatzführer offensichtlich genötigt sah, einen, was das vermeintliche Gewaltpotential des entgegenkommenden Demonstrationszugs betrifft, deutlich überzogenen Bericht zu schreiben, spricht nicht dafür, dass er Vertrauen hatte, dass die objektive Faktenlage zur Rechtfertigung der Maßnahme ausreichen würde.

Was passierte in der Schnackenburgallee?

Neben diesem breit dokumentierten Sachverhalt in der Straße Rondenbarg, wurde im Prozess ein weiterer „kurzer, geballter Bewurf“ besprochen, der sich bereits kurz vorher, an der Einmündung der Schnackenburgallee in die Straße Rondenbarg, zugetragen haben soll.

Dazu haben vier der Polizeizeugen Aussagen getätigt, diese widersprechen sich jedoch in mehreren Punkten eklatant: Sie unterscheiden sich bezüglich der Art der geworfenen Gegenstände und der Größe der Steine. So sprachen zwei von ihnen (ein Zivilfahndertandem mit PKW) von großen Pflastersteinen. Der eine habe diese während des Flugs gesehen, der andere habe zwar keinen Bewurf wahrgenommen, aber Pflasterseine im gesamten Einmündungsbereich verteilt liegen sehen. Ein Eutiner BFE-Führer sprach hingegen von einem kurzen, geballten Bewurf durch Steine der Abmessungen 5x5 bis 7x7cm. Als ihm die Zeichnung eines Steines eines anderen Zeugen vorgehalten wird, sagt er, dieser sei „viel zu groß“. „Das sind ja dann schon solche Steine. DIE sind nicht geflogen.“ Neben den Unterschieden in den einzelnen Aussagen weichen diese zusätzlich von dem ab, was in den Videoaufnahmen eines Wasserwerfers zu sehen ist, die im zeitlichen Ablauf kurz nach diesem beschriebenen Vorfall angefertigt wurden. Als der Wasserwerfer an der beschriebenen Einmündung in die Straße Rondenbarg einbiegt, müssten im Sichtfeld der Kameras die beschriebenen Steine zu sehen sein. Bis auf einen einzelnen, undefinierbaren schwarzen Fleck ist allerdings nichts zu entdecken.

Licht ins Dunkel soll nun einerseits die Zeugenaussage eines LKW-Fahrers bringen, welcher in besagtem Zeitraum in die Straße Rondenbarg einbog, andererseits wird seit dem vierten Verhandlungstag versucht, die polizeilichen Funkprotokolle jenes Morgens beizuziehen. Diese gibt die Soko „Schwarzer Block“ aber bislang nicht heraus, eine Vorgehensweise, die sich schwerlich mit dem vorgetragenen Ziel der juristischen Aufarbeitung vereinbaren lässt.

Zuschreibung von Gewalttätigkeit durch Begrifflichkeiten

Ein weiterer Aspekt, der nicht nur im Prozess selbst, sondern auch in der gesamten Kommunikation von Polizei, Politik und nicht zuletzt den Medien um den G20-Protest bemüht wird, ist die dem so genannten „Schwarzen Block“ zugeschriebene Gewalttätigkeit. So wird die Beweisführung ob der vermeintlich wesensmäßigen Gewalttätigkeit der Gruppe – im Prozess, wie auch in der Kommunikation der Soko - mit diesen Charakteristika gekoppelt. Ein „Schwarzer Block“ sei mit „szenetypischer“, einheitlicher schwarzer Kleidung und „Vermummung“ ausgestattet. Diese Bekleidung scheint im Zusammenhang mit Demonstrationen stets und im Vorhinein mit Aggressivität und Gewalttätigkeit gleichgesetzt zu werden. In der Anklageschrift heißt es, „gegen 6:00 setzte sich […] ein einheitlich dunkel gekleideter, vermummter, ca. 200 Personen umfassender und schwer bewaffneter 'schwarzer Block' vom Volkspark aus Richtung Innenstadt in Bewegung.“

Und so hörten wir die Begrifflichkeiten „schwarzer Block“ und „vermummt“ während der Zeugenbefragungen häufig - oft schon in der Eingangsbeschreibung der Situation, ohne dass Gericht, Staatsanwaltschaft oder Verteidigung danach gefragt hätten. Im Zusammenhang mit schwarzer Kleidung fielen dann auch die Begrifflichkeiten „aggressiv“ oder „bedrohlich“ - ohne dass diese Zuschreibungen durch weitere Ausführungen untermauert wurden. Die Assoziation scheint internalisiert, so sagte einer der Zeugen: Andersfarbig einheitlich gekleidete Gruppen, die vom Volkspark losgingen, hätten „friedlich wie Spaziergänger“ gewirkt, sie wären sogar an roten Ampeln stehen geblieben. Über die Gruppe, die später am Rondenbarg gestoppt wurde, sagte er, das sei eine „große schwarze Masse“ gewesen, „wo ich gedacht hab 'Oha'“ und weiter: „ [die Gruppe] wirkte sehr bedrohlich, denn es war eine große schwarze Masse“.

Auch in der Pressekonferenz zu den Hausdurchsuchungen wurde ein ähnliches Bild bemüht. Es habe ein unterschiedliches Verhalten der einzelnen Demonstrationsgruppen („Finger“) gegeben. Der „Schwarze Block“ sei eindeutig auf Gewalt ausgerichtet gewesen. Alle Teilnehmenden hätten dies gewusst. Der Hintergrund ist klar – die Zuschreibung von Gewalttätigkeit soll sowohl das harte Vorgehen der Polizei am Morgen des 7. Juli 2017, als auch die Hausdurchsuchungen und nicht zuletzt die Anklage gegen Fabio V. rechtfertigen. Zudem soll der Brückenschlag zu den Ausschreitungen im Hamburger Schanzenviertel und in der Elbchaussee gelingen.

Wenn alle nur noch schwarz sehen

Dabei ist die Sachlage bei Weitem nicht so eindeutig, wie von den Zeugen und der Soko vorgebracht. In den vorgeführten Polizeivideos tragen viele der zu Boden gebrachten Demonstrant*innen Bluejeans. Auch teilweise rot oder beige gekleidete Menschen sind zu sehen, wie zum Beispiel eine Gruppe der Ver.di Jugend, die mit einem Megafon während der Demonstration Durchsagen machte. Auch bezüglich Fabio V. ist die Beschreibung der Kleidung selektiv, was Verteidigerin Gabriele Heinecke in einer der ersten Sitzungen kritisierte: „Statt nüchtern zu beschreiben, dass eine schwarze Goretex-Jacke, ein schwarz-weißer Schal und dunkle Turnschuhe getragen wurden, wird dies als 'szene-typische Vermummung' definiert. Wäre das Hans OLG (Hanseatisches Oberlandesgericht; Anm. d. Verf.) um Objektivität bemüht gewesen, hätte es schreiben müssen: der Beschuldigte trug weiter eine szene-untypische beige-grüne Hose und ein szene-untypisches helles T-Shirt. Doch das unterbleibt.“

Interessant ist zudem, dass keiner der Zeugen die Frage, ob er Transparente oder Fahnen gesehen habe, mit „Ja“ beantwortete, obwohl das breite Fronttransparent, das die Gruppe vor sich hertrug, das erste ist, was auf dem viel zitierten Video ins Auge sticht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass alle Zeugen entsprechend ihrer eigenen Erinnerung wahrheitsgemäß aussagten, ist das beunruhigend – denn das hieße, dass bestimmte relevante Sachverhalte, wie Anzeichen einer durch das Grundgesetz geschützten Versammlung oder Kleidung, die nicht der Kategorisierung „Schwarzer Block“ entspricht, gar nicht mehr wahrgenommen und demnach zur Gesamtbewertung der Situation nicht herangezogen wurden - weder vor Ort noch im Nachhinein.

Wo stehen wir nach zwei Verhandlungsmonaten?

Sechs Monate nach dem G20-Gipfel und zweieinhalb Monate nach Prozessbeginn ist also vieles noch ungeklärt. Zeugenaussagen, Polizeiberichte und Videoaufnahmen widersprechen sich in wichtigen Details. Mindestens die Aussagen des Zeugen der Blumberger Einheit sind extrem zweifelhaft. Bei anderen Aussagen steht zumindest die unausgesprochene Vermutung polizeilicher Absprachen im Raum. Aufklärung versprechende Dokumente wurden von der Sonderkommission bisher nicht freigegeben. Weitere wesentliche Fragen wurden noch gar nicht behandelt – zum Beispiel, ob der Demonstrationszug von Artikel 8 des Grundgesetzes als Versammlung geschützt war oder warum die Polizeieinheiten zunächst die Fliehenden verfolgten, bevor sie begannen, sich um die Schwerverletzten zu kümmern, die unter dem abgebrochenen Geländer lagen.

Das Ringen um die Deutungshoheit im Prozess und darüber hinaus

Dem Prozess gegen Fabio V. kommt eine enorme Bedeutung in der Aufarbeitung und späteren „Geschichtsschreibung“ um die G20-Proteste zu, weil nach der Rechtfertigung der gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen unter Inkaufnahme schwerer Verletzungen öffentlich und nachdrücklich gefragt wird - oder nach der Stichhaltigkeit der vorgebrachten politischen und polizeilichen Begründungen, die einer nur vage, nach Kleidungsstilen definierten Protestgruppe von vornherein eine Gewaltbereitschaft zuschreiben. Die schriftlichen Vorverurteilungen des Beschuldigten durch das Hamburger Oberlandesgericht und die mediale Kritik daran haben einen Druck erzeugt, die Suggestionen nun durch Fakten zu belegen. Gleichzeitig wird das Amtsgericht, allen voran die Richterin, vor dem Dilemma stehen, unter Umständen ein Urteil fällen zu müssen, das der Auffassung der höheren Instanz widerspricht.

Um die Beurteilung der Situation am Rondenbarg und damit stellvertretend auch um die Frage nach Polizeigewalt und (politischer) Verantwortung wird aber nicht nur im Gerichtssaal gerungen, sondern auch in den öffentlichen Darstellungen der Hamburger Polizeiführung und in den Medien. Der Prozessverlauf, während dem immer klarer wurde, dass die Erzählung des „gewalttätigen Mobs“ und Fabio V.s Zurechnung zu diesem kaum zu beweisen sein wird, hat den Druck erhöht, an anderer Stelle diese Behauptungen zu belegen. Das erklärt die Anfang Dezember 2017 durchgeführten Hausdurchsuchungen, untermalt von einer Pressekonferenz, in der Fotos von in einer Wohnung beschlagnahmten Gegenständen gezeigt wurden, „um zu zeigen, mit welchen Leuten wir es hier zu tun haben“, und die fast schon hysterische Suche nach weiteren Tätern via Internetfahndung.

Eine öffentliche Begleitung bleibt geboten

Am 3. Januar 2018 wird der Prozess fortgeführt. Mindestens vier weitere Zeugen sollen noch gehört werden, aktuell sind weitere fünf Verhandlungstermine bis zum 20. Februar 2018 angesetzt. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie wird auch an den kommenden Prozesstagen im Gerichtssaal anwesend sein, denn schon der aktuelle Zwischenstand aus der Prozessbeobachtung macht deutlich, dass es sich hier um einen Prozess handelt, der politischer und öffentlicher Aufmerksamkeit bedarf. Denn hier wird mehr als ein möglicherweise individuell nachweisbarer Straftatbestand verhandelt. Und es bleibt zu befürchten, dass Fabio V. allein wegen der Bedeutung seines Prozesses für die öffentliche (und politische) Geschichtsschreibung verurteilt wird. Zudem könnten sich für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ganz grundlegende Zukunftsfragen ergeben, sollte das Amtsgericht der durch das Oberlandesgericht vorgegebenen Argumentation folgen.

 

Michèle Winkler

Die Quellennachweise sind in der angefügten Datei ersichtlich.