30. Juli 2023 © picture alliance, Jörg Carstensen
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Gedenktag für die Toten in Haft. Interview mit Andrè Moussa vom Knastschaden-Kollektiv

Das Knastschaden-Kollektiv gedenkt seit 2012 jährlich der Toten in Haft. Es setzt sich für chronisch Kranke und Suchtkranke ein und macht auf die unerträglichen Bedingungen in deutschen Gefängnissen aufmerksam.

Seit neun Jahren gedenkt ihr jährlich am 18. Oktober den Toten in Haft. Wie umfassend versteht ihr „Haft“ und wie hoch schätzt ihr die Zahl der Toten in Deutschland pro Jahr?

Zur Haft zählen wir alle Arten des Freiheitsentzugs, auch Untersuchungshaft, Abschiebehaft, den sogenannten „Maßregelvollzug“, die Sicherheitsverwahrung sowie den Polizeigewahrsam. Einer kleinen Anfrage der Linken zufolge starben zwischen 1998 und 2017 mehr als 3.000 Menschen in deutschen Gefängnissen. Wir vermuten, dass die Dunkelziffer höher ist. Bei knapp der Hälfte der Fälle heißt die Todesursache offiziell Suizid. In der offiziellen Statistik fehlen zudem die Tode kurz nach der Entlassung, die draußen, im Anschluss an die Haft geschehen.


Wie erfährt die Öff entlichkeit über einen Tod in Haft? Gibt es dazu öffentlich zugängliche Statistiken? Wie kommen Menschen in Haft zu Tode?

Es gibt eine jährliche Strafvollzugsstatistik mit den Daten der Bundesländer. Die dokumentierten Todesfälle basieren auf den Meldungen des medizinischen Dienstes in den jeweiligen JVAs. Außer den Tod durch Unfall und durch Suizid werden dort keine weiteren Todesarten genannt. Seit 2019 finden zumindest Angaben zu den unterschiedlichen Haftarten Erwähnung. Nicht alle Todesfälle werden vermutlich öffentlich und die gelisteten Todesursachen „Unfall“ und „Suizid“ verschweigen viele eigentliche Todesursachen.

Rasmane Koala ist etwa 2014 in der JVA Bruchsal verhungert. Eine anonyme Anzeige besagte damals, die JVA habe den Gefangenen sehenden Auges verhungern lassen. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe ermittelte zeitweise gegen die Anstaltsleitung und eine Anstaltsärztin wegen fahrlässiger Tötung.
Ferhat Mayouf starb am 23. Juli 2020 in der JVA Moabit. Er hatte minutenlang verzweifelt um Hilfe geschrien, nachdem in seiner Zelle ein Brand ausgebrochen war. Zwei Dienst habende Schließer sind nicht zu Hilfe gekommen und irgendwann waren seine Rufe verstummt.

Es gibt viele weitere ähnliche Fälle von unterlassener Hilfeleistung, manche sprechen von Mord. Die Staatsanwaltschaften stellen Ermittlungen üblicherweise schon nach wenigen Wochen ein. Gäbe es nicht Aktivist*innen wie etwa die Initiative Oury Jalloh, wäre auch dieser Fall sehr schnell eingestellt worden. Die Initiative hat gerade kürzlich dafür gesorgt, dass der Mord an Oury Jalloh nun sogar beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte liegt.

Wir vom Knastschadenkollektiv versuchen bei jedem Todesfall, den wir gemeldet bekommen, mit Angehörigen in Kontakt zu treten, um mit ihrer Erlaubnis Ermittlungen und rechtliche Konsequenzen gegen Anstaltsärzt*innen und die JVA-Leitung zu fordern.
 

Du sagst, es gibt keinen Selbstmord hinter Gittern?

Die Selbstmordrate ist bei Gefangenen weltweit durchschnittlich drei- bis zwölf mal so hoch wie die der Allgemeinbevölkerung und in deutschen Gefängnissen sogar bis zu 18 mal höher! Todesfälle in Haft werden auch durch menschliches Fehlverhalten mitverursacht. Zum einen ist ja bekannt, dass die psychotherapeutische und medizinische Versorgung im Knast katastrophal ist, Anstaltsärzt*innen haben die Entscheidungsgewalt über die medizinische Behandlung, sie können Medikamente und Behandlungen verweigern, auf die Gefangene angewiesen sind. Und Substitutionspatient*innen werden in Bayern beispielsweise gezwungen, einen kalten Entzug zu machen, das kommt der Folter gleich!

Auf diese Weise kann man Gefangene auch in den Suizid treiben. Und neben den erwähnten Todesursachen ist schließlich auch die Zeit nach der Entlassung mitzurechnen. In der Haft sind Gefangene nicht sozialversichert, sie sammeln keine Rentenansprüche, es ist oft keine Wohnung und keine Arbeit in Aussicht. So wächst die Angst vor der Haftentlassung, je näher der Tag rückt. Selbst Menschen mit kurzen Freiheitsstrafen sind dabei gefährdet. Besonders schwer haben es suchtkranke Gefangene.

 

Ihr plant ein Mahnmal für die Toten in Haft, warum braucht es das?

Unser Ziel ist ein Gedenktag für die Toten und für die chronisch kranken Patienten in Haft. Der Gedenktag soll ein politisches Zeichen für diese Todesfälle sein, für die niemand Verantwortung übernimmt. Auch die Angehörigen und Freund*innen brauchen einen Ort um gemeinsam ihrer Toten zu gedenken. Wir brauchen ein solches Mahnmal auch, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass hier in Deutschland Menschen verbrannt werden, verhungern, in den Suizid getrieben werden, und keine angemessene ärztliche Behandlung bekommen.

 

Wie lauten eure Forderungen und an wen richtet ihr sie?

Wir wenden uns mit unseren Forderungen direkt an die Justizminister*innen der Länder und den Bundesjustizminister Marco Buschmann: Wir fordern die Abschaffung der Ein-Arzt-Politik hinter Gittern und eine justizunabhängige Beschwerdestelle für Patient*innen hinter Gittern und ihre Familien. Es braucht unabhängige Untersuchungskommissionen zur Aufklärung der Todesfälle in Haft der letzten Jahre.

Wir fordern außerdem den Einbau von Rauchmeldern in allen Zellen sowie ein Seelsorgetelefon in allen Zellen, das vom Einschluss bis zum Aufschluss am Morgen mit dem Nothilfedienst verbunden ist. Ebenso einen Notfallknopf direkt in Reichweite vom Bett für kranke Inhaftierte mit Herz-Kreislaufproblemen, Diabetes, Epilepsie und anderen Krankheiten, um schnelle Hilfe in Notfällen zu gewährleisten.