»Geheimdienste sind Fremdkörper in Demokratien«

Acht Bürgerrechtsorganisationen stellen »Grundrechte-Report 2015« vor. Schwerpunkt: Flüchtlinge. Ein Gespräch mit Elke Steven

 

Interview: Markus Bernhardt; junge welt, 23. Juni 2015

 

www.jungewelt.de/2015/05-23/021.php

 

Dr. Elke Steven ist Soziologin und Journalistin, sowie Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V. Köln und Mitherausgeberin des »Grundrechte-Reports« (www.grundrechtekomitee.de)

 

Am Freitag haben acht Bürgerrechtsorganisationen den diesjährigen »Grundrechte-Report« vorgestellt. Einer der Schwerpunkte ist der Umgang mit Flüchtlingen in der Bundesrepublik. Was kritisieren Sie?

 

Seit 19 Jahren berichten wir über Grundrechtsverletzungen, die ganze Zeit über hat uns die Empörung über den Umgang mit Flüchtlingen begleitet. Von der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993 – und faktisch schon lange vorher – bis hin zu den Asylrechtsverschärfungen 2014 lässt sich die Kontinuität des Unrechts beschreiben.

 

Vor wenigen Wochen sind Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Dem zur Schau gestellten Entsetzen folgen aber auch jetzt nicht angemessene Taten. Gerichtliche Erfolge schlagen schnell um in neue Praktiken der Kontrolle, der Abwehr und der Demütigung. So hätte man einen kurzen Augenblick meinen können, die Abschiebeknäste könnten aufgrund von Gerichtsurteilen endlich abgeschafft werden. Das neue »Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« macht aber eine flächendeckende und massenhafte Inhaftierung wieder möglich.

 

»Gute« Flüchtlinge werden gemäß den nationalen Interessen gegen »schlechte« ausgespielt. Unsere eigene Verantwortung für die Entstehung der Fluchtursachen wird meist gar nicht thematisiert.

 

Auch die Auswüchse geheimdienstlicher Überwachung durch NSA und BND werden in Ihrem Bericht dargestellt. Gehen Sie davon aus, dass das wahre Ausmaß der Überwachung jemals öffentlich wird?

 

Seit den Enthüllungen von Edward Snowden Mitte 2013 werden fast täglich weitere Details über das globale Geheimdienstsystem und seine Überwachungspraktiken bekannt. Diese Methoden müssen auch verstanden werden im Kontext der Absicherung geostrategischer Interessen und militärischer Interventionen. Bekannt werden diese Machenschaften sicher nicht durch staatliche Information, sondern am ehesten durch Enthüllungen. Wikileaks hat gerade die Protokolle des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags veröffentlicht.

 

Aber erschreckt es Sie nicht, wie derlei Überwachung von der etablierten Politik geduldet und bagatellisiert wird?

 

Erschreckend ist zugleich, wie sehr es darum geht, soziale Netzwerke auszuforschen. Die haben sich als die Mobilisierungsplattformen für Protestbewegungen herauskristallisiert und sollen geheimdienstlich und polizeilich kontrolliert werden. Und so ist auch davon zu berichten, wie erst seit November 2014 aufgedeckt werden konnte, dass eine verdeckte Ermittlerin des Landeskriminalamtes seit 2000 etwa sechs Jahre lang die politische Szene in Hamburg ausspioniert hat. Mit einer Tarnidentität hat die Beamtin sich an Veranstaltungen beteiligt, in einem freien Radiosender gestaltend mitgewirkt, ist Freundschaften und Liebesbeziehungen eingegangen.

 

Also sind Geheimdienste nicht kontrollierbar?

 

Geheimdienste gehören abgeschafft, sie sind Fremdkörper in der Demokratie und zwangsläufig unkontrollierbar.

 

In dem neuen »Grundrechte-Report« geht es auch um soziale Rechte. Inwiefern sind diese in der Vergangenheit zu kurz gekommen?

 

Die sozialen Grundrechte sind im Grundgesetz weniger genau kodifiziert als etwa die Freiheitsrechte. Trotzdem gelingt es uns immer wieder, auch diese Verletzungen zu thematisieren. Was ist das für ein Sozialstaat, der nicht genug Geld für eine dringend benötigte Zahnprothese einer pflegebedürftigen alten Frau hat? Um in menschenwürdiger Weise am Leben durch Nahrungsaufnahme und Kommunikation teilzunehmen, wäre die Prothese notwendig gewesen. Hochdotierten Staatsbediensteten, die als Richter darüber zu entscheiden haben, fehlt jedoch die Empathie, sich in eine solche Situation zu versetzen – mit ihren Pensionen werden sie auch nie in eine solche Lage kommen.

 

Herausgeberkolletiv: Grundrechte-Report 2015 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main Juni 2015, 256 Seiten, 10,99 Euro