18. Mai 2025 © © Ralf Cüppers (DFG-VK Flensburg)
Antimilitarismus / Bundeswehr / Frieden/Pazifismus / Kriegsdienstverweigerung / Nationalismus & Neue Rechte / Neoliberalismus/Kapitalismus / Rechtsstaatlichkeit / Repression / Verfassung

Gewissensfreiheit endet im Kriegsfall. Der Bundesgerichtshof greift das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung an

Am 16. Januar 2025 fällte der Bundes­gerichtshof (BGH) einen Beschluss, der tief in das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) eingreift und ­dieses praktisch aufhebt. Kontext war ein Auslieferungsverfahren gegen einen ukrainischen Kriegsdienstverweigerer. 

Der Beschluss ist verfassungswidrig, da er ein der ­„Ewigkeitsgarantie“ unterliegendes Grundrecht des Grundgesetzes in seinem Kern außer Kraft setzt. Auch Artikel 19 (2) des Grund­ gesetzes ist verletzt: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

Das Oberlandesgericht (OLG) Dresden hatte beim BGH angefragt, ob die von der Ukraine verlangte Auslieferung gegen deutsches und internationales Recht verstoße, da der Betreffende eine Erklärung seiner Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen abgegeben hatte. Der BGH sieht in seinem Beschluss keine Hinderungsgründe für die Auslieferung, da die angegriffene Ukraine das Recht habe, das KDV-Recht nicht zu gewährleisten und Verweigerer strafrechtlich zu verfolgen. 

Zum Auslieferungsverfahren selbst hat Connection e.V. am 12.3.25 eine sehr gute Stellungnahme veröffentlicht. Hier sollen die Auswirkungen des Urteils auf das in Deutschland geltende Recht auf KDV bedacht werden. 

Das OLG Dresden hatte dem BGH folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt: „Verstößt die Auslieferung eines Verfolgten in sein Heimatland gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung, wenn sich der Verfolgte im Auslieferungsverfahren darauf beruft, den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern, und im Falle seiner Überstellung nicht gewährleistet ist, dass er nach dem Recht des ersuchenden Staates nicht dennoch zum Kriegsdienst herangezogen wird und im Falle der Verweigerung Bestrafung zu erwarten hat?“ 

Die Klärung dieser Vorlegungsfrage sei – so der BGH – „zunächst davon abhängig, ob das hohe Schutzniveau von Art. 4 Abs. 3 GG auch für den Fall einer kriegsbedingten Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts uneingeschränkt Geltung beansprucht“.


Im Verteidigungsfall? Grundrechte außer Kraft!

Der Bundesgerichtshof konstatierte, dass „nur die Verletzung der unabdingbaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung als unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung zugrunde“ gelegt werden müsse und lediglich ein völkerrechtlicher Mindeststandard gewährt werden müsse. Also stelle sich die Frage, ob das KDV-Recht zu den unabdingbaren Grundsätzen der Verfassung gehöre.

Dies verneint der BGH, indem er die Gültigkeit des Grundrechts für den Verteidigungsfall bestreitet: „Ein unabdingbarer Grundsatz der einschränkungslosen Aufrechterhaltung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch im Verteidigungsfall lässt sich ihr [der verfassungsrechtlichen Ordnung] ­bereits auf nationaler Ebene nicht ­entnehmen.“

Dies versucht der BGH zu begründen und führt aus: „Nach der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung erfährt der Schutz, den das Grundgesetz dem freien Gewissen des Einzelnen mit Art. 4 GG einräumt, im Verteidigungsfall […} nicht unbeträchtliche Modifikationen. […] Soweit der Verteidigungsfall mit einer Gefährdungslage nicht nur für die Landesverteidigung, sondern für die Grundrechtsverwirklichung eines jeden einhergeht, gilt dies indes ebenso für Schutzgehalte, die Art. 4 GG für zur Landesverteidigung berufene Wehrpflichtige gewährleistet. 

Da im Verteidigungsfall ohnehin Grundrechte eingeschränkt würden, erscheint es dem BGH „auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht von ­vornherein undenkbar, dass Wehrpflichtige in au­ßerordentlicher Lage zusätzlichen Ein­schränkungen unterliegen und in letz­ter Konsequenz sogar gehindert sein könnten, den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern“.


Der Bundesgerichtshof agiert gegen geltendes Recht

Die absurde Argumentation will glauben machen, dass wegen der Gefährdung von Grundrechten durch einen militärischen Angriff diese selbst aufgehoben werden könnten. In der Tat wurden ja durch die Notstands- und Sicherstellungsgesetze in den 1960er Jahren weitgehende Grundrechtseinschränkungen für den Verteidigungsfall beschlossen. 

Genau darauf – u.a. auf Art. 12a GG – beruft sich nun der BGH, indem er versucht, diese Notstandsgesetze in ihren Interpretationsmöglichkeiten noch weiter auszudehnen, bis hin zur Grundrechtsaufhebung und somit zum Verfassungsbruch. Dabei zitiert der BGH auch bislang schon geltende Gesetze falsch, indem er behauptet, dass KDVer im Ernstfall auch bei den Streitkräften zu zivilen Diensten verpflichtet werden könnten. 

Dies ist gesetzlich ausdrücklich ausgeschlossen, auch wenn der Zivildienst im Ernstfall natürlich in das Gesamtverteidigungskonzept eingebunden sein wird. Deswegen gab es ja zu Wehrpflichtzeiten die Totalverweigerer bzw. Zivildienstüberwachungsverweigerer, weil schon diese Art der Einbeziehung in die Kriegsmaschinerie einen Angriff auf die Gewissensfreiheit bedeutet. 

Richtig weist der BGH darauf hin, dass die eine Einberufung aufschiebende Wirkung von KDV-Antragstellungen nach herrschender Gesetzeslage im Kriegsfall nicht mehr gilt. Weiterhin geht der BGH davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht offengelassen habe, ob die Maßstäbe für die KDV-Anerkennung im Kriegsfall geändert werden könnten und ob dann auch eine Abwägung zwischen Verteidigungsfähigkeit und Gewissensfreiheit möglich sein könnte. Eine Gesamtschau der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum KDV-Recht würde das wohl anders sehen und gerade diese Abwägungsmöglichkeit bestreiten.

Der BGH steigert sich zur Aussage: „Angesichts dessen erachtet es der Senat für – jedenfalls prinzipiell – nicht undenkbar, dass ungeachtet des besonders hohen Rangs der in Art. 4 GG verbürgten Gewissensfreiheit auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen.“

Diese Ausführungen übersehen, dass das BVerfG klargestellt hat, dass im Zweifelsfall der Wert der Gewissensfreiheit über dem Wert der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte stehe und nicht gegen diese abgewogen werden könne, eben weil es sich um ein im Wesenskern unantastbares Grundrecht handelt. 

Zum gleichen Ergebnis kommt auch die Verfassungsrechtlerin Kathrin Groh in einem Artikel zu diesem BGH-Beschluss: „Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG ist auf den Kriegsfall zugeschnitten. Sein unantastbarer Kernbereich verlangt gerade für den Verteidigungsfall uneingeschränkte Geltung. Der Kernbereich von Art. 4 Abs. 3 GG ist abwägungsfest. Er darf nicht gegen die Verfassungsgüter der effektiven Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr aufgerechnet werden“. 


Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung als Reaktion auf den Nationalsozialismus

Wegen der verfassungsrechtlich grundlegenden Bedeutung des unantastbaren Grundrechts auf KDV sei an dieser Stelle an die Entstehung dieses Rechtes im Grundgesetz erinnert. 

Das Grundrecht auf KDV ist in Artikel 4 zur Gewissensfreiheit im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes (GG) fest verankert. Es heißt in Art. 4 Abs. 3 GG: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Als dieses Grundrecht 1949 in das Grundgesetz geschrieben wurde, war die junge Bundesrepublik noch weit entfernt von der Wiederbewaffnung oder einer Wehrpflicht. Trotzdem schien den Verfassern und den wenigen Verfasserinnen des Grundgesetzes dieses Recht so bedeutsam, dass sie es ausdrücklich in die Verfassung aufnahmen. Die Erfahrungen mit den Schicksalen der Deserteure des Zweiten Weltkrieges sollten sich nie wiederholen. 

Dies ist der dunkle Hintergrund der expliziten Aufnahme des Verweigerungsrechts in den Grundrechtekatalog. Etwa 30.000 Todesurteile wurden von der NS-Militärjustiz gegen „Deserteure/Fahnenflüchtige“, „Wehrkraftzersetzer“ und „Kriegsverräter“ (so die Straftatbestände) in der NS-Zeit verhängt, etwa 22.000 Urteile wurden durch Hinrichtungen vollstreckt. 

In der Debatte über die Einführung des Grundrechts auf KDV prallten im Parlamentarischen Rat gegensätzliche Meinungen aufeinander, deren wichtigste Vertreter Theodor Heuss (FDP, späterer Bundespräsident) und Fritz Eberhard (SPD) waren. Während Heuss meinte, vor einem „Massenverschleiß“ der Gewissen im Ernstfall durch das Grundrecht warnen zu müssen, betonte Fritz Eberhard, der für die SPD im Parlamentarischen Rat sprach: „Ich glaube, wir haben hinter uns einen Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl und haben daraufhin getötet. Dieser Absatz kann eine große pädagogische Wirkung haben, und wir hoffen, er wird sie haben.“ 

Politischer und juristischer Widerstand ist nötig

Der BGH stellt ein elementares Grundrecht in seinem Kern in Frage. Das darf nicht hingenommen werden. Politischer und juristischer Widerspruch sind nötig, gerade in dieser Zeit der gesamtgesellschaftlichen Kriegsertüchtigung, in der auch die Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht gefordert wird. Es ist zu prüfen, ob durch diesen Beschluss nicht alle Anerkennungsbescheide für KDVer hinfällig geworden sind – und somit jeder Kriegsdienstverweigerer zu einer Verfassungsklage berechtigt wäre. 

Ergänzung vom 11.4.2025: Das OLG Dresden hat dem Verfasser zwischenzeitlich mitgeteilt, dass die Auslieferung am 28.2.2025 vom Strafsenat für zulässig erklärt wurde und der Verfolgte von der Bundespolizei am 7.4.2025 an der Grenzübergangsstelle Flughafen Frankfurt/Main den ukrainischen Behörden übergeben worden ist. 

 

Martin Singe ist Redakteur der Zeitschrift Friedensforum und war viele Jahre als Referent beim Komitee für Grundrechte und Demokratie tätig.
 

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