08. Mai 2020 © dpa

INFORMATIONEN 2-2020 | Mai 2020

In Zeiten des Notstandes verschärfen sich gesellschaftliche Ausgrenzungen. Es ist daher notwendig, auf all jene aufmerksam zu machen, die in den Notstandsprogrammen keine Berücksichtigung finden. Das Krisenmanagement spielt sich nahezu ausschließlich im nationalen Rahmen ab. Bereits die Menschen in den EU-Nachbarländern gelten mehr als Konkurrenz um knappe medizinische Infrastruktur, denn als gleichsam zu schützende Individuen. Bis an die Grenzen Europas, geschweige denn darüber hinaus, geht momentan kaum ein Blick – erst recht keine solidarische
Krisenmaßnahme. Wer aber den Schutz von Menschen vor einem hochinfektiösen Virus lediglich auf den Kreis der eigenen Staatsbürger*innen beschränkt, gibt bereits alle zivilisatorischen Standards auf.

In Krisenzeiten schlug schon immer die „Stunde der Exekutive“. Der Notstand wurde offiziell nicht ausgerufen, gleichwohl leben wir derzeit im Ausnahmezustand. Bund, Länder, Kommunen und Gesundheitsbehörden haben Maßnahmen erlassen, die tief in die Grundrechte eingreifen. Zwar erleben wir gerade erste Lockerungen, doch sie sind auf Widerruf und vor allem dem Druck der Wirtschaft geschuldet. Massive Freiheitseinschränkungen werden uns noch lange Zeit begleiten, wie auch die ständige Bedrohung eines erneuten Anstiegs der Infektionszahlen. Vor allem außerhalb der fast oppositionslosen Parlamente wird breit darüber diskutiert, ob die Maßnahmen noch verhältnismäßig zur Bekämpfung der Epidemie sind. Es wäre wohl anmaßend, dies pauschal zu verneinen.

Gleichwohl wird die politische Machtordnung der Gesellschaft massiv verschoben. Außerparlamentarische Proteste, die ein Korrektiv sein könnten, sind nahezu verunmöglicht. Wie schmal aber die Gratwanderung in der Bewertung ist, zeigt sich an einer zunehmend fahrlässigen Verharmlosung der Pandemie, die sich von Verschwörungstheorien nährt und gar im öffentlichen Raum einen „demokratischen Widerstand“ gegen eine „Coronaverschwörung“ propagiert – natürlich ohne dabei Schutzmaßnahmen gegen eine Virusübertragung vorzusehen.

Weltweit haben Regierungen den gesundheitspolitischen Notstand sehenden Auges mit produziert. Seit Jahren gibt es Proteste gegen Kürzungen und Lohndumping im Gesundheitswesen, auch in Deutschland. Hat es erst eine globale Pandemie gebraucht zu erkennen, dass eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung nicht durch Privatisierung, Patentierung und Profitlogik erreichbar ist? Allerdings auch nicht mit der Stilisierung der Werktätigen im Gesundheitssektor zu Held*innen, sondern allein durch weitreichende systemische Veränderungen im globalen Maßstab.

Zumindest im Bereich des Gesundheitswesens gibt es aktuell ein Möglichkeitsfenster für eine soziale Transformation. Um aber tatsächlich Veränderungen im Gesundheitswesen oder darüber hinaus eine andere gesellschaftliche Ordnung herstellen zu können, braucht es starke und sichtbare soziale Bewegungen und Arbeitskämpfe und eine an den Menschenrechten ausgerichtete Solidarität, die nur internationalistisch und universalistisch sein kann.

 

Aus dem Inhalt:

Editorial: Pandemie versus Demokratie

Wenn plötzlich bereits Kreidemalerei als Ziviler Ungehorsam gilt

Eine Generalklausel als Notstandsverfassung

Hanau – In Gedenken und für lückenlose Aufklärung

Humanität hat ihre Grenzen: Entlang der Festung Europa

Neue Atombomber für die Bundeswehr

Umkämpfte Räume. Der 24. Grundrechte-Report erscheint in Kürze!

Schreibt Briefe ins Gefängnis!