Am Tag, als der israelische Präsident Netanjahu nicht nur iranische Atom- und Militäranlagen, sondern auch Wohngebiete im Iran bombardieren ließ, wandte er sich in einer Rede direkt an die Bevölkerung Irans: Neben der Abwehr einer militärischen und atomaren Bedrohung gegen Israel würden die Bomben auch den Weg freimachen, dass sich die Bevölkerung gegen das iranische Regime erheben könne. Daran schloss er die Worte „Frau, Leben, Freiheit“ der kurdischen Freiheitsbewegung auf Englisch und Farsi an: Woman, Life, Freedom. Zan, Zendegi, Azadi.
Der Missbrauch des revolutionären Slogans, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen, ist respektlos und dreht die Verhältnisse auf den Kopf: Seit Jahren schaut die Welt dem iranischen Regime dabei zu, wie es die eigene Bevölkerung terrorisiert und jede Revolte durch brutalste Gewalt erstickt. Weder Israel noch andere westliche Staaten geht es um die Rechte der Bevölkerung und die unterdrückten Minderheiten im Iran.
Doch sie propagieren, es sei an der Zeit für einen Regimewechsel, und Israel habe gegen den Iran ein „Recht auf Selbstverteidigung“. Diese „Selbstverteidigung“ hat laut der Menschenrechtsorganisation HRANA während des zwölf Tage dauernden Krieges 1.190 Menschen im Iran das Leben gekostet. Das iranische Regime griff zudem israelische Städte mit Raketen und Drohnen an. Nach israelischen Angaben seien 28 Menschen getötet worden.
MIT WELCHEM RECHT?
Für die israelischen Angriffe findet sich keine völkerrechtliche Grundlage. Es gab keine akute Bedrohung Israels durch den Iran, erst recht keine direkte atomare Bedrohung. Im Gegenteil: Israel ist der einzige Staat in der Region, der über Atomwaffen verfügt. Im Gegensatz zum Iran ist Israel jedoch keine Vertragspartei des Atomwaffensperrvertrags und unterliegt damit keinen Kontrollen durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA).
Die USA und der Iran verhandelten gerade über ein neu aufgelegtes Atomabkommen, mit dem sich der Iran nochmals zur zivilen Nutzung von Atomkraft verpflichten sollte. Dieses Abkommen wurde torpediert – nicht allein durch das grüne Licht der USA für Israels Angriffe, sondern auch durch die darauf folgende Bombardierung der iranischen Atomanlagen durch die USA selbst. Angriffe auf Atomanlagen sind zudem Verletzungen von Artikel 56 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen: Russland wurde auf dieser Basis von der internationalen Gemeinschaft verurteilt, als es ukrainische Atomanlagen angegriffen hatte.
Doch Israels Angriffe werden nicht nur nicht verurteilt, sie werden sogar aktiv legitimiert und willkommen geheißen: am deutlichsten wurde das an Friedrich Merz’ erschreckenden Worten, Israel mache „die Drecksarbeit für uns alle“. Wie lange wollen wir diese Verdrehung der Realität und die offensichtlichen Doppelstandards noch durchgehen lassen? Israel hat in den letzten Monaten sämtliche internationalen Normen gebrochen, immer und immer wieder legitimiert und dauerhaft materiell unterstützt von den westlichen Bündnispartnern. Das internationale Recht wird Schritt für Schritt unterlaufen und scheint nun vollends durch ein machtpolitisches Recht des Stärkeren ersetzt. In Deutschland bleibt dies weitgehend unwidersprochen – sowohl in der Politik als auch in den großen Medienhäusern – im Gegenteil, es ebnet ihm den Boden für ein neues Großmachtstreben.
Währenddessen werden in Gaza weiterhin sämtliche menschenrechtlichen Prinzipien eklatant verletzt. Mittlerweile weigern sich nur noch wenige, die Strategie Israels als das zu benennen, was sie ist: ein Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Hunger als Kriegswaffe, gezielte Angriffe auf Hilfslieferungen, die Einschränkung ziviler Bewegungsräume – all dies geschieht unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Nur noch 12 % des Gazastreifens sind überhaupt als Aufenthaltsgebiete für Zivilist*innen ausgegeben. Selbst Essensausgabestellen werden zu Todeszonen: In Wartelinien auf humanitäre Hilfe eröffnet die israelische Armee das Feuer. Zeug*innenberichte sprechen von einem „Killing Field“, auf dem Soldaten dazu angewiesen wurden, unterschiedslos zu schießen.
Diese Vorgänge machen deutlich: Das Völkerrecht ist nicht nur bedroht – es wird gezielt demontiert. Die westlichen Staaten, insbesondere Deutschland, tragen durch ihr Schweigen und ihre diskursive Absicherung dieser Gewalt eine politische Mitverantwortung, ganz zu schweigen von der ganz konkreten Mitverantwortung durch Waffen- und Munitionslieferungen. Die permanente Wiederholung der Formel vom „Recht auf Selbstverteidigung“ ersetzt rechtliche und ethische Prüfungen durch blinde Gefolgschaft.
EUROPA AUF DEM KRIEGSPFAD
Währenddessen wird in Europa eine massive Aufrüstung vorangetrieben: Die Drohkulisse eines potentiell bevorstehenden Angriffs durch Russland dient als willkommene Begründung für massive Erhöhungen staatlicher Militärausgaben auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Politik der Militarisierung und Aufrüstung wird in der gesamten Europäischen Union als unausweichliche Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine deklariert.
Auch das unvorhersehbare und widersprüchliche Verhalten Donald Trumps dient nun als stets passendes Argument: Entweder ist er wichtiger Partner und Waffenbruder oder unkalkulierbares Risiko, von dem man sich schnellstens durch eigene Aufrüstung unabhängig machen müsse. Selbst sogenannte Friedensforschungsinstitute in Deutschland fordern inzwischen Aufrüstung und neue Verteidigungsstrategien aufgrund des russischen Krieges gegen die Ukraine und jetzt auch wegen des politischen Umbruchs in den USA.
Die Europäische Union sichert die Verteidigungshaushalte über mehrere eigene Finanzierungsmechanismen ab. Der jüngst beschlossene „ReArm Europe – Readiness 2030“ spricht schon namentlich eine deutliche Sprache. Ziel ist unter anderem, die Rüstungsgüterproduktion in die EU zu verlagern, bislang werden diese zu 78 Prozent außerhalb der EU produziert.
In Deutschland soll unter der schwarz-roten Bundesregierung der Verteidigungshaushalt bis 2029 mit einer Rekordverschuldung auf rund 153 Milliarden Euro verdreifacht werden, dann wäre die Bundeswehr mit Boris Pistorius’ Worten „kriegstüchtig“. 2024 gab Deutschland mit 91 Milliarden Euro bereits 2,1 Prozent des BIP für Verteidigung aus. Dass die allgegenwärtige Aufrüstung zu „Verteidigungszwecken“ nicht allein defensiv gedacht wird, darf als sicher gelten. Schnell kann aus einer Verteidigung ein „präventiver Angriff“ werden.
Die weitergehende massive Umverteilung wird durch die Anfang 2025 verabschiedete Grundgesetzänderung zur Ausnahme der Militärausgaben von der Schuldenbremse möglich. Ist 2027 das Bundeswehr-Sondervermögen ausgeschöpft, werden die geforderten Ausgaben für Verteidigung umso stärker aus anderen Töpfen kommen. Mit drastischen Streichungen haben sich zentrale Bereiche wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Klima und Soziales – und damit sämtliche Lebensbereiche der Bevölkerung – dieser beispiellosen Haushaltsverschiebung zugunsten der Kriegslogik unterzuordnen.
Die Angst vor einem kriegerischen Angriff wirkt: Widerspruch gegen das 5 Prozent-Ziel gibt es in der deutschen Medienlandschaft kaum, kritisch nachgefragt wird höchstens, wie man die astronomisch hohe Summe zusammen kriegen soll. In der Bevölkerung sind rund 70 Prozent der Befragten laut Umfragen aktuell für die enormen Verteidigungsausgaben. Die militärische Mobilmachung im Inneren ist längst in den deutschen Wohn- und Kinderzimmern, auf der Arbeit und in der Schule angekommen. Der neue Kriegskurs kommt vielen Unternehmen entgegen, sie schwenken um auf die Rüstungsproduktion, und während die Automobilindustrie in der Krise steckt, steigern Rüstungskonzerne längst massiv ihre Umsätze und werden als krisensichere Arbeitsplätze angepriesen.
Ein neu eingeführter bundesweiter "Veteranentag" dient der Normalisierung des neuen deutschen Militarismus, Auf allen Kanälen werden wir pausenlos über die Funktionsweise von Waffensystemen oder Verzögerungen in der Beschaffung informiert. Das Sterben auf dem Schlachtfeld ist allerdings weiterhin wenig attraktiv: Die Bundeswehr gibt aktuell einen Bedarf von 50.000 bis 60.000 zusätzlichen Soldat*innen an. Per Fragebogen werden daher neuerdings alle 18-Jährigen befragt, ob sie sich den Dienst an der Waffe vorstellen können. Eine erneute Wehrpflicht konnte man immerhin bislang noch nicht durchsetzen.
Die Bundesregierung will insbesondere Deutschland wieder zu einer „Führungsmacht“ machen, mit der stärksten Armee Europas. Das wiedererwachte deutsche Großmachtstreben übertritt eiskalt die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, Deutschland hält sich für geläutert und damit endgültig im Recht, mit militärischer Verteidigungsfähigkeit für „Gerechtigkeit“ und „Menschenrechte“ zu intervenieren. Dafür hat die BRD in ihren Augen hart erarbeitet, die Verantwortung für ihre Verbrechen im Nationalsozialismus glaubt man mit bedingungsloser Unterstützung Israels zu tilgen. Die Verantwortung für ihre Verbrechen im Nationalsozialismus glauben sie mit bedingungsloser Unterstützung des Staates Israel zu tilgen. Das aus dem Schwur von Buchenwald abgeleitete Versprechen „Nie wieder“ wird längst nicht nur mit dem Schweigen zu dem Genozid an der Bevölkerung im Gazastreifen verhöhnt, sondern mit der Lieferung von Rüstungsgütern an autoritäre Regime und in laufende Kriege aktiv boykottiert.