05. Feb. 2020
Polizei / Polizeigewalt / Praxis & Aktion / Prozessbeobachtung / Versammlungsrecht

Interview: Mitgegangen, mitgefangen? Michèle Winkler über das Rondenbargverfahren

Die Strafprozesse im Nachgang zum G20-Treffen in Hamburg 2017 gehen in eine neue Runde: Nachdem der Prozess gegen den 19-jährigen Fabio V. geplatzt war, sollen nun drei Dutzend junge Menschen im sogenannten Rondenbargverfahren auf die Anklagebank. Den Angeklagten wird vorgeworfen, dass »alle Beschuldigten durch dieselbe Handlung gemeinschaftlich« schweren Landfriedensbruch und versuchte gefährliche Körperverletzung begangen haben, daneben auch Sachbeschädigung und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Die Besonderheit beim Rondenbargverfahren ist, dass den Angeklagten keine individuelle Tat zur Last gelegt wird, sondern eine Art Kollektivschuld festgestellt werden soll. Ein Urteil in diesem Fall könnte Folgen für alle Demonstrationen haben, und die schiere Masse der Angeklagten machen den Rondenbargprozess schon jetzt zu einem der bedeutsamsten Prozesse gegen Linke in den letzten Jahren.

Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee verfolgt den Prozess von Beginn an und beantwortet die wichtigsten Fragen im ak-Interview.

Worum geht es im Rondenbargverfahren?

Michèle Winkler: Es sind Strafprozesse im Nachgang zum G20-Treffen in Hamburg 2017, die den sogenannten Rondenbargkomplex bearbeiten. Rondenbarg ist der Name einer Hamburger Straße. Dort war am frühen Morgen des 7. Juli eine Gruppe von rund 200 Demonstrant*innen zu Fuß unterwegs. Mehrere Polizeitrupps verstellten dem Demonstrationszug den Weg. Aus diesem heraus wurden Dinge, etwa ein Dutzend Steine und Leuchtmunition, in Richtung der Polizei geworfen. Daraufhin griff die Einheit BFE-Blumberg die Gruppe von vorne brutal an, gleichzeitig schoss von hinten ein Wasserwerfer mit Wasser. Die Demonstrant*innen gerieten in Panik, viele versuchten wegzulaufen. Dabei stiegen einige über ein Geländer, das unter der Last der Personen zusammenbrach. Mehrere Personen zogen sich dabei Knochenbrüche zu. Die Szene dauerte nur wenige Sekunden, bis die Polizei alle nicht geflohenen Personen zu Boden geworfen hatte. In einem vom NDR veröffentlichten Einsatzvideo aus einem der Polizeiwagen lässt sich der Vorgang anschauen. Der Einsatz zählt neben dem Angriff auf die Welcome-To-Hell-Demo am Abend zwei Tage zuvor zu den brutalsten während des G20-Treffens in Hamburg. Die erwähnten Strafprozesse laufen aber natürlich gegen die namentlich bekannten Demonstrant*innen, nicht etwa gegen die Polizei. Einer der Demonstranten ist Fabio V., dessen Verfahren schon 2017 eröffnet wurde. Er saß mehrere Monate in Untersuchungshaft. Der Prozess wurde damals nicht zu Ende geführt und könnte nun neu beginnen.

Dieses Verfahren ist das größte Verfahren gegen Linke seit vielen Jahren. Welche Bedeutung hat der Prozess politisch?

Zunächst mal ist es für die Beteiligten aus Staatsanwaltschaft, Sicherheitsbehörden und Politik wichtig, bezüglich des Rondenbargkomplexes ihr Gesicht zu wahren. Die Situation im Rondenbarg zeigt sehr anschaulich, wie brutal die Polizei über die gesamten Gipfeltage agiert hat. Mit diesem Mammutprozess sollen in gewisser Weise auch diese Szenen von Polizeigewalt gerechtfertigt werden. Der Prozess gegen Fabio V. war ein Desaster für Staatsanwaltschaft und Polizeiführung. Die Anklage fiel in sich zusammen. Es wurde überdeutlich, dass eine Art Schauprozess stattfand und dass die Konstrukte der Staatsanwaltschaft nicht durch Fakten belegt werden konnten. Die ganze Brutalität des Einsatzes wurde in die Öffentlichkeit gezerrt. Die nun anstehenden Prozesse mit Verurteilungen abzuschließen, würde der Erzählung, dass die Polizei und die Landespolitik alles richtig gemacht hätten, öffentlich ein Stück mehr Legitimität verleihen. Es wird spannend, wie Staatsanwaltschaft und Polizei die Geschichte des Einsatzes im Gericht erzählen werden.

Hört sich nach politischen Strafprozessen an...

So ist es, es geht hier um politische Fragen. Nicht zuletzt die Hamburger Regierung hat ja sehr deutlich gemacht, dass sie die Ereignisse um den Gipfel nicht im Sinne von Grundrechten und Demokratie aufarbeiten möchte. Und die politische Stimmung lässt das zu. Es gibt kaum öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Polizeigewalt. Dagegen lässt sich aus der Behauptung, Polizist*innen wären angegriffen worden, jede Menge politisches Kapital schlagen. Vor allem aber ist der Prozess auch aus versammlungsrechtlicher Sicht von Bedeutung. Wenn sich die Staatsanwaltschaft hier mit ihrem »Mitgegangen-Mitgefangen«-Konstrukt durchsetzt, dann hätte das schlimme Konsequenzen für die Versammlungsfreiheit. Als Demonstrant*in könnte ich dann künftig nicht mehr sicher sein, ob ich nicht im Nachhinein für Taten von anderen bestraft werde. Das schreckt potenziell viele Menschen ab, ihre Meinung auf die Straße zu tragen. Damit geht ein Stück Demokratie verloren.

Das »Mitgegangen-Mitgefangen«-Konstrukt, an dem die Staatsanwaltschaft festhält, sagt ja: Wenn du dabei warst, bist du schuld, egal was du getan hast. Diese Argumentation geht auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes aus 2017 zurück. In diesem ging es um einen Überfall von Hooligans auf Fans des gegnerischen Vereins. Was bedeutet es, wenn dieses Urteil auf Demonstrationen übertragen wird?

Genau, die Staatsanwaltschaft führt hier eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 24. Mai 2017 an, bei der zwei Hooligans wegen Landfriedensbruchs verurteilt worden waren. Die Angeklagten hatten an einem vorab verabredeten, öffentlich ausgetragenen, gewalttätigen Kampf zweier Fußballfangruppen teilgenommen. Obwohl ihnen keine individuell begangenen Gewalttätigkeiten zugeordnet werden konnten und sich einer sogar kurz vorher aus der Gruppe entfernt hatte, urteilte der BGH, allein die psychische Unterstützung der Teilnehmer sei strafbar im Sinne des § 125 StGB. Das »ostentative Mitmarschieren« sei Landfriedensbruch. Was die Staatsanwaltschaft beim Rondenbargkomplex außen vor lässt, ist die klare Unterscheidung, die der BGH mit Blick auf Demonstrationen im Urteil wörtlich getroffen hat.

Wie lautet diese?

Der BGH schrieb: »Alle Teilnehmer der Menschenmenge verfolgten einzig das Ziel, geschlossen Gewalttätigkeiten zu begehen. Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der Dritt-Ort-Auseinandersetzung gewalttätiger Fußballfans von Fällen des Demonstrationsstrafrechts, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen. Im vorliegenden Fall war die Begehung der Gewalttätigkeiten jedoch das alleinige Ziel aller Beteiligten.«

Was heißt das?

Das zeigt auf, welchen Weg Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschlagen gedenken, um zu Schuldsprüchen für die Angeklagten zu gelangen. Es soll herausgestellt werden, es habe sich bei dem Demonstrationszug um eine in Gänze gewalttätige Gruppe gehandelt, die einen einheitlichen Tatplan hatte, und dass somit jede Teilnehmer*in eventuelle Steinwürfe mitzuverantworten habe. Dazu passt auch, dass sie nun mehrere Großprozesse beginnen, anstatt die einzelnen Beschuldigten auch einzeln zu verhandeln, wie vor drei Jahren mit Fabio V.

Eine Anwendung dieses BGH-Urteils auf den Rondenbargkomplex würde es ermöglichen, politische Demonstrationen erheblich einzuschüchtern durch die im Raum stehende Androhung, dass man künftig immer nicht ganz friedlichen Teilen von Demonstrationen zugerechnet werden könnte. Es wäre dann möglich, dass jede*r für etwaige Eskalationen innerhalb einer Demo, zu denen man nichts beigetragen hat, strafrechtlich verfolgt würde. Das schreckt ab und beschränkt auch die Möglichkeit, den Ausdruck von politischen Versammlungen selbstbestimmt zu wählen. Damit schränkt eine solche Rechtsprechung eines der elementarsten demokratischen Grundrechte erheblich ein.

Die Staatsanwaltschaft behauptet, es habe sich nicht um eine Demonstration gehandelt. Was bedeutet das für die Verhandlung und für künftige Fälle?

Das behauptet die Staatsanwaltschaft, weil sie nur so das BGH-Urteil anwenden kann. Denn darin wurden Demonstrationen explizit ausgenommen, um das Versammlungsrecht nicht unzulässig zu beschneiden. Behauptung ist hier allerdings das richtige Wort, denn der Demonstrationszug hatte einen klaren politischen Ausdruck, der sich durch das Fronttransparent, Sprechchöre und auch durch die Anbindung an die Gipfelproteste zeigte. Hier den Versammlungscharakter wegzudefinieren, macht das versammlungsfeindliche Rechtsverständnis der zuständigen Staatsanwaltschaft deutlich.

Ein Polizeivideo zeigt die brutale Polizeigewalt und das Abstürzen zahlreicher Demonstrant*innen, die teilweise schwerste Verletzungen davontrugen. Sind bereits Polizist*innen zur Verantwortung gezogen worden?

Bis Ende 2019, also mehr als zwei Jahre nach dem G20-Treffen, war kein einziger Polizist angeklagt worden. Zum 11. Oktober 2019 waren von 168 eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen Beamt*innen 107 bereits eingestellt. Ironischerweise kam es dann im November doch zu einer Verurteilung eines Polizisten - dieser hatte einen Kollegen leicht verletzt, als er ihm eine Pfeffersprayflasche wegnahm, weil diese Waffe in der Gefangenensammelstelle seiner Meinung nach nicht zulässig war. Die zahlreichen durch Polizist*innen verletzten Protestierenden werden darüber jedoch nicht lachen können. Es offenbaren sich die strukturellen Probleme im Umgang mit Polizeigewalt: das schlichte Negieren ihrer Existenz; die systematische Täter-Opfer-Umkehr; die Nichtidentifizierbarkeit der Täter*innen; die fehlende Unabhängigkeit der Ermittlungen gegen Polizeibeamt*innen und der fehlende Verfolgungswille durch die Staatsanwaltschaften.

Das Interview erschien zuerst in der Zeitung Analyse & Kritik in der Ausgabe Februar 2020