Jahrestagung: Welche Gesundheit ist möglich?

Gesundheit im kapitalistisch-technologisch-medizinischen Komplex - Tagungsprogramm

22. – 24. September 2006

im Bildungs- und Begegnungszentrum Clara Sahlberg, Berlin-Wannsee

(Eine Kurzbeschreibung und Einladung hängt als pdf-Datei an. Diese eignet sich auch zum Kopieren auf DIN A 3)

 

Das mächtig marode Gesundheitssystem

Der umbauende Neubau des „Gesundheitssystems“ in der BRD und anderwärts wird dringlicher. Viele Beweggründe wirken darauf hin, sie überschneiden sich und widerstreiten miteinander:

• Der wachsende Stellenwert von Gesundheit, die präventiv bewahrt und Krankheiten behebend wiederhergestellt werden kann.

• Die naturwissenschaftlich-technologisch veränderten Formen, Krankheiten zu bestimmen, zu kurieren und die Gesundheit der Menschen vorweg zu gewährleisten.

• Die durch die Humangenetik möglich werdenden Sprünge, die noch vor uns stehen - trotz der Kontinuität der Fehlvorhersagen seit den letzten 40 Jahren.

• Das gesundheitspolitische Klondike winkt.

• Der moderne, von Descartes im 17. Jahrhundert ausgedrückte Traum scheint realisierbar: „Wenn ihr meiner Methode folgt", so Cartesius im 3. Discours de la méthode, „werden wir die Krankheiten und vielleicht sogar - so fügt er wellnesslistig hinzu, d. Komitee - das Alter besiegen".

• Die demographischen Veränderungen der Bevölkerungen vor allem in den wohlständischen Ländern der Welt, in denen die Mehrheit von den gehobenen materiellen und hygienischen Standards profitiert.

• Die im 19. Jahrhundert anhebende, erst in diesen Jahrzehnten aber expansiv genutzte Entdeckung des menschlichen Körpers als - qua Rekonstruktionen und Neukonstruktionen - schier unendlichen Anlageraums profitabler Investitionen und ihres großen Spektrums an Produkten.

• Die wechselbezüglich korrespondierende Apparatisierung der Krankheits-/Gesundheitsleistungen in Großkrankenhäusern, Großforschungen, Diagnose- und Operationsmaschinerien samt ihren darum gruppierten Verbänden.

• Die Individualisierung des sozial nicht mehr eingebundenen Patienten.

• Die Interessen der Versicherungsagenturen.

• Die neuen, vielfältig verteilten, nicht nur staatlich zentrierten Kontrollen, bei denen sich mehrere Kontrollinteressen schier ununterscheidbar kumulieren.

Der Reformschrei – herrschaftlich an Profiten interessiert

Dieser nicht einmal annähernd in seinen verfilzten Wirkfaktoren skizzierte Komplex des Gesundheitssystems hat zur naheliegenden Folge, dass sich die großen Interessengruppen, die sich organisationsmächtig um seine geldträchtigen Gänge und Türen balgen, wechselseitig blockieren. Auf der Strecke bleiben nicht nur die BürgerPatientInnen und die engagierten VertreterInnen der Heilberufe. Auf der Strecke bleibt, daran ausgerichtet, jede umfassende, das heißt zugleich den unübersichtlichen Komplex entflechtende und pluralistisch/regional/lokal verkleinernde Reform. Selbst im Rahmen des etablierten Interessengerangels, das geradezu hermetisch geschlossen erscheint, ist es nur möglich, zum einen interessengruppenverschieden der dominanten Funktion Rechnung zu tragen. Zum anderen aber, dieser förderlich, die diversen Segmente und Akteure bzw. passiv Mitbeteiligten so zu kontrollieren, dass sie „effizient" die Kosten tragen, vor allem aber interessenverbandlich Gewinn einheimsen lassen (und ein solcher Interessenverband war schon immer und ist heute mehr denn je „der Staat" und seine beteiligten Institutionen).

Die Fehlreformen und unser Ansatz

Nicht eine grundlegende Reorganisation des Gesundheitswesens steht unter den gesundheitspolitischen Gruppen zur Debatte. Sie demonstrieren damit, dass ihr Gesundheitsstreben ein Placebo ihres ökonomisch-herrschaftlichen Interesses ist. Darum spielt ein technologisch verfertigter Schlüssel - die elektronische Gesundheitskarte (eGK) - eine maßlose Reformrolle. Mit dieser eKarte will man die A-Sozalität des Patientenbürgers steigern. Dank seiner neuen „Autonomie" wird kontrollierend an ihm gespart und zugleich wird er vermehrt strikt eigenverantwortlich und frei zur monetären Ader gelassen. Die Leistung der an ihrer Krankenbehandlung leidenden Ärzteschaft wird ebenso gesteigert und kontrolliert.

Dagegen organisieren wir diese Tagung! Darum haben wir schon vorweg mit einer eigenen seit 2005 bestehenden Arbeitsgruppe eine BürgerInneninformation zur elektronischen Gesundheitskarte veröffentlicht (Das große Gesundheitsversprechen – und seine große Täuschung! Informationen für alle Bürger und Bürgerinnen, beruflich weiß oder alltäglich gekleidet, über die Gesundheitskarte).

Um das herrschende Medizinsystem, ökonomisch außenbestimmt und durchdrungen wie es ist, angemessen kritisieren zu können, müssen wir ein Mehrfaches tun. Ihm suchen wir in der Tagung wenigstens ausschnittweise nachzukommen. Wir müssen uns darüber klar werden, was Gesundheit/Krankheit menschenrechtlich demokratisch für uns alle bedeutet. Dazu sind wir gehalten, in die modern-vormoderne Tiefe zurückzugehen - um dann vorausgehen zu können -, indem das einseitige Krankheits-/Gesundheitsverständnis, der medizinisch-technische Blick auf den Körper perspektivenreich betrachtet wird. Schließlich ist es geboten, uns wenigstens über die Konturen eines angemesseneren gesellschaftlichen und damit auch individuellen Umgangs mit Krankheit/Gesundheit zu verständigen. Dazu ist selbstverständlich vorab und begleitend die Diagnose des aktuellen medizinisch-kapitalistisch-bürokratischen Komplexes vonnöten.

Wir laden herzlich ein, an unserer Tagung teilzunehmen und mitzuwirken.

gez. Theo Christiansen, Wolf-Dieter Narr, Elke Steven

 

Tagungsablauf

Freitag, 22.9.2006

17.00 Uhr

Einführung: Was hat Gesundheit mit Menschenrechten und Demokratie zu tun?

Wolf-Dieter Narr

(Einige Stichworte: Das immer prekäre Menschenrecht als Basis und Horizont allen Gesundheitshandelns schlechthin: die Unversehrtheit des Menschen an Körper, Geist und Seele (Art. 2 GG); kann es einen „positiven" Begriff „der Gesundheit" geben: eine Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff der WHO. Grade und Grenzen der Prävention; zu einem weiten und einem darauf ruhenden engeren Krankheits-/Gesundheitsbegriff; zur Natalität und Morbidität des Menschen und ihren politischen Folgen; gesellschaftlich-organisatorische Minima kollektiv bereiteter Bedingungen, selbstbestimmt frohgemut und des kranken Nachbars eingedenk zu leben; Gesundheit/Krankheit: menschenrechtlich-demokratisch ausgelegt.

 

19.30 Uhr

Körpervorstellungen - zum modern-technischen Blick und den ihm nachfolgenden „Operationen"

Barbara Duden

 

Samstag, 23.9.2006

9.30-10.45 Uhr

Hauptsächliche Faktoren und Funktionen des gegenwärtigen Gesundheitssystems und seine Folgen für die BürgerPatientInnen - an einem Beispiel à la Krankenhaus oder an ausgewählten Beispielen ambulanter und stationärer Versorgung

Hagen Kühn

11.15 - 12.30 Uhr

Am Exempel elektronische Gesundheitskarte - zu ihren individualisierenden, kontrollierenden und steuernden Funktionen

Alexander Dix

Arbeitsgruppen: 14.30 - 18.30 Uhr mit Kaffeepause

(Anregende Stichworte: alle Arbeitsgruppen, möglichst ihrerseits von einer kleinen Gruppe von 2-5 Personen vorbereitet und arrangiert, sollten anschaulich-exemplarisch beginnen. Im Verlauf der durch Kurzbeiträge vorbereiteten Diskussion sollten dann die fördernden und hinderlichen Bedingungen der auf verschiedenen Ebenen umschließenden etablierten Gesundheits-/Krankheitsorganisation aus den Exempeln herausentwickelt bzw. mit ihnen verknüpft werden. Erstrebenswert sind zwei wenigstens in einigen wichtigen Aspekten zusammenfassbare Ergebnisse: zum einen: welche fördernden/hindernden Faktoren des herrschenden Gesundheitssystems sind vor allem zu verzeichnen. Zum anderen: wie müsste reformerisch angesetzt werden. Gut wäre es in beiden Fällen, immer auch institutionell-organisatorische Bedingungen, verrechtlicht oder nicht, zu beachten bzw. Phantasie für solche zu entwickeln. Wichtig ist es durchgehend: die BürgerPatientin und die Ärztin als Person „mit Fleisch und Blut" im Auge zu halten und darauf alle Folgerungen zuzuspitzen.)

(1) Die elektronische Gesundheitskarte – „interne" und „externe" Effekte

mit Uta Wagenmann (Standardisierung in der Medizin mittels Auswertung von Datensammlungen), Alexander Dix

Koordination: Wolf-Dieter Narr

(2) Das Berufsfeld von Ärzten der Gegenwart, das Arzt-Patient-Verhältnis und ihre Bedingungen im Kontext des Gesundheitssystems, das heißt zugleich des „Gesundheit" versichernden Apparats - Wahlchancen und Grenzen

Suso Lederle

Koordination: Theo Christiansen

(3) Verantwortung für den eigenen Körper? Zwischen Selbstbestimmung, professioneller Hilfe und der Pflicht zur Vorsorge - inmitten des etablierten Gesundheitssystems

Barbara Duden

Koordination: Elke Steven

19.15 - 20.00 Uhr Austausch der dafür bestimmten Mitglieder der Arbeitsgruppen mit dem/der Referenten/in des nächsten Vormittags

20.15 Uhr Nachtprogramm mit und von Peter Grohmann

 

Sonntag, den 24.9.2006

9.30 - 11.00 Uhr

Perspektiven für die Gesundheitspolitk

Rolf Rosenbrock

11.30 -12.30 Uhr

Was könn(t)en, was soll(t)en, was müss(t)en wir gegen ein Stück brave new health world am Exempel der eGK tun?

Thesen und deren Diskussion; Moderation: Theo Christiansen, Elke Steven

12.30 Uhr Ende der Tagung mit dem Mittagessen

 

Anmeldung und Rückfragen bitte an das

Komitee für Grundrechte und Demokratie

Telefon: 0221 – 97 269 -30; Fax: -31

info@grundrechtekomitee.de

 

Die Teilnahmekosten betragen incl. Übernachtungen und Vollverpflegung für zwei Tage: 140,- Euro im Doppelzimmer und 160,- Euro im Einzelzimmer.

Konto-Nr. 8 024 618, Volksbank Odenwald, BLZ 508 635 13, Stichwort: Jahrestagung