Kopftücher, Haarnetze, lange Haare und die innere Sicherheit.

Ein polemischer Interventionsversuch gegen alltägliche Diskriminierung

Offensichtlich diskriminierende Äußerungen sind aktuell nichts, womit sich Angehörige der gesellschaftlichen Eliten öffentlich profilieren möchten. Im Gegenteil. Das verstieße nicht nur gegen die Regeln der political correctness, sondern auch gegen das, was die Anti-Diskriminierungsgesetzgebung an gesellschaftlichen Normen festzuschreiben versucht. Außer im Fall des Kopftuchs: Kopftuchträgerinnen zu beschämen und diskriminieren gilt als sozial erlaubt, abwertende Äußerungen können öffentlich geäußert werden und finden bei einem breiten Publikum Zustimmung.

Empörung darüber? Weitgehend Fehlanzeige. Niemand darf diskriminiert werden, außer sie trägt ein Kopftuch. Die Begründungen und Rechtfertigungen dafür nehmen gelegentlich absurde Formen an. So im Fall der Weigerung, Kopftuchträgerinnen als Auszubildende oder Arbeiterinnen einzustellen.

Anders als im Fall von Erzieherinnen und Lehrerinnen hat man dabei noch nicht einmal die Möglichkeit, das Kopftuch als Indiz für eine Gesinnung zu behaupten, die im Gegensatz zu den demokratischen und menschenrechtlichen Werten stünde, die als Grundlage der Bildung an deutschen Schulen reklamiert werden.

Was ist also das Problem mit Kopftuchträgerinnen, z. B. in handwerklichen und technischen Berufen? Diese Frage konnte ich mir lange nicht beantworten. Inzwischen habe ich eine, wenn auch erstaunliche Antwort gefunden: Kopftücher sind ein Sicherheitsrisiko bei der Arbeit an Maschinen. Also sozusagen ein Problem der betrieblichen inneren Sicherheit. Warum das? Ein führender Vertreter der deutschen Industrie erläutert dies öffentlich wie folgt – und dies ist tatsächlich nicht erfunden, nur etwas vereinfacht. Früher hatte man ein Problem mit langen Haaren bei Männern. Dieses Problem wurde gelöst, in dem man lange Haare irgendwann akzeptierte und, bei der Bundeswehr und in der Werkstatt, Haarnetze eingeführt hat. Könnte man also nicht einfach Kopftuchträgerinnen überreden, das Kopftuch abzuziehen und – falls Sie darunter lange Haare tragen - stattdessen Haarnetze aufzuziehen? An Haarnetzen würde niemand Anstoß nehmen. Eine erstaunliche intellektuelle Artistik, die meine katholische Oma verwundert hätte, die zu Lebzeiten, wie viele Frauen ihrer Generation, eigentlich immer ein Kopftuch bei der Arbeit trug, weil dies bei der Feldarbeit so üblich war und eine Kochmütze in der Küche wohl merkwürdig an ihr ausgesehen hätte.

Das Kopftuch ist ein Objekt vielfältiger Fantasien. Auch dazu noch ein realsatirisches Beispiel: Eine junge Frau, trotz Kopftuch Auszubildende, berichtet über ihre Erfahrungen bei der Lehrstellensuche und zahlreiche Versuche, ihr das Tuch vom Kopf zu reden. Einer davon ist besonders trickreich: Der potenzielle Arbeitgeber ruft bei den Eltern an mit der Frage, ob es möglich wäre, die Tochter zu überreden. Die Antwort des Vaters, dass die Tochter volljährig sei, erscheint dem Anrufer merkwürdig. Entscheiden denn nun auch schon muslimische Töchter autonom, welche Kleider sie tragen? Kann das sein? Und ist das gut so? Schließlich ist eine gewisse Unterordnungsbereitschaft gewöhnlich in Betrieben nicht unerwünscht. Warum sind – die Zuschreibung der unterdrückten Muslima unterstellt – Kopftuchträgerinnen also gerade nicht die Wunschkandidaten in autoritär geführten Betrieben.

Über das, was emanzipierte, feministische und postfeministische Frauen motiviert, für Konzepte der Zwangsemanzipation vom Symbol der Unterdrückung einzutreten – wir befreien euch auch gegen euren Willen –, soll hier nicht spekuliert werden. Sie könnten aber wissen, dass man niemanden zu dem zwingen kann, was mann/frau für sein/ihr Glück hält.

Wie weiter? Der deutsche Umgang mit dem Kopftuch, aus welchen Motiven auch immer, bedeutet für junge Muslima, die hier aufwachsen, alltägliche Erfahrungen von Diskriminierung und Stigmatisierung. Das aber löst keine Empörung in einer Gesellschaft aus, in der Vielfalt, Diversity und Anti-Diskriminierung Programm von Politik und Wirtschaft sind. Wie ist das zu erklären? Ganz offenkundig eignet sich das Kopftuch als Projektionsfläche, um zu verdeutlichen, wer nicht zu „uns“ gehören soll, als negative Stütze eigener Identität und ein Symbol, an dem sich unterschiedliche Varianten des Antiislamismus gefahrlos austoben können. Und anderes mehr. Es scheint: Man darf mit dem Kopftuch fast alles tun – außer es zu tragen.

 

Dem ist mit aller Entschiedenheit und ohne jede Ironie entgegen zu setzen: Das Recht auf die eigene Identität und auf Ausdruck der eigenen Identität ist ein elementares Menschenrecht. Und: Was jemand als angemessenen Ausdruck seiner Identität begreift, kann sie und er nur selbst entscheiden. Wer das nicht glaubt, möge Maoist werden, in einen katholischen Orden eintreten oder sich sonst einer Gemeinschaft anschließen, in der man sich ein- und unterordnen kann. Er / sie möge jedenfalls nicht behaupten, dass er für die Menschenrechte eintritt. Denn deren Kern ist der Respekt vor der Würde jedes Einzelnen, auch vor der Würde jeder Kopftuchträgerin.

 

Albert Scherr