In diesem Sommer jährt sich leise der „Lange Sommer der Migration“. Veranstaltungen, Filme und Aktionen erinnern an den Sommer 2015, in dem wir beeindruckt verfolgten, wie sich Hunderttausende Menschen, jung und alt – viele davon auf der Flucht vor dem brutalen Assad-Regime in Syrien – ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nahmen, das Mittelmeer in Richtung Europa überquerten, der Balkanroute nach Norden folgten – und sich schließlich in Deutschland oder anderswo ein neues Leben aufbauten.
Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ schrieb Geschichte. Am 4. September 2015 liefen tausende Geflüchtete in einem „Marsch der Hoffnung“ 250 Kilometer zu Fuß über die Autobahn von Budapest nach Wien. Deutschland und Österreich entschieden, Schutzsuchende an der Grenze nicht mit Gewalt abzuweisen.
Der damaligen Forderung des Präsidenten der Bundespolizei nach Zurückweisung der Flüchtenden wurde von den Jurist*innen im Innenministerium mit dem Hinweis auf die Gesetzwidrigkeit eines solchen Vorgehens eine Absage erteilt. Wenig später fuhren Züge die neu Ankommenden von Budapest direkt zum Wiener Westbahnhof. Über Monate hinweg standen Korridore der Bewegungsfreiheit von Griechenland bis nach Schweden offen. Das Geschäft der Schleuser war zusammengebrochen, das Dublin-System ebenso. Anlässlich des Fehlens jeglicher unterstützender Strukturen wurden Einzelpersonen aktiv, unzählige solidarische Initiativen entstanden, beluden Autos und LKWs mit Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln und boten konkrete Unterstützung entlang der Balkanroute – von Mensch zu Mensch.
Auch das ehrenamtliche Engagement in Deutschland 2015 war überwältigend, und fand in dem herzlichen Willkommen für die vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine Flüchtenden 2022 ein kleines Revival. Die mit den Ankommenden in Deutschland ausbrechende Versorgungskrise – hervorgerufen durch fehlende Unterkünfte und Kapazitäten – wurde von rechts schnell als „Flüchtlingskrise“ gelabelt. Der Begriff wurde in Medien und Politik vielfach unkritisch übernommen und ist mittlerweile als Deutung des Sommers der Migration normalisiert.
Und heute? Seit zehn Jahren leben viele der damaligen Protagonist*innen inzwischen unter anderem in Deutschland, sie haben Familie und Freund*innen, gehen ihrem Alltag nach – und werden doch von vielen immer noch nur als „Flüchtlinge“ angesehen. Wir sind mit der Zuspitzung eines brutalisierten Grenzregimes konfrontiert, das um den Preis von Menschenleben den Wohlstand einiger Bewohner*innen des Globalen Nordens sichern will.
Ein perfides System aus Haftlagern und Abschiebung soll unerwünschte Migration von der Festung Europa fernhalten, einhergehend mit dem Entzug von Grundrechten und der Verachtung des Rechts: Neuschöpfungen wie die sogenannte „Krisen-Verordnung“ dienen als Legitimation, um Staatsgrenzen vor Flüchtenden zu verschließen und geltende Regeln außer Kraft zu setzen. Schon bei einer nicht genehmen Anzahl von Asylbewerber*innen soll die EU-Kommission eine „Krise“ in einem Mitgliedstaat feststellen. Vorbild ist etwa Finnland, das 2023 seine Grenzschließung aufgrund von nur 1.300 Menschen rechtfertigte, die innerhalb von fünf Monaten an der Grenze von Russland Asyl anfragten.
Aufgrund der zahllosen Verschärfungen sind europäisches und internationales Recht allerdings kaum noch weiter dehnbar. Geht es nach dem Willen der verantwortlichen Regierungen, sollte es deshalb am besten einfach abgeschafft werden. Das Grundrecht auf Asyl und die Europäische Menschenrechtskonvention sind nach Auffassung einiger Regierungen einfach nicht mehr zeitgemäß. Daneben bricht man mutwillig geltendes Recht, wie aktuell mit den Zurückweisungen von Schutzsuchenden an der deutschen Grenze, die der Bundesinnenminister weiter von der Bundespolizei durchführen lässt, obwohl diese Praxis laut Gerichtsurteil weiterhin rechtswidrig ist.
Solange dies nicht aufhört, tragen wir als Gesellschaften des Globalen Nordens die Mitverantwortung für unermessliches Leid, für grenzenlose Gewalt, für Unmenschlichkeit – und oft genug für den Verlust von Menschenleben. Dass mit den Maßnahmen aus rassistischer Gesetzgebung und oft todbringender Hetze die Migration nach Europa wirksam unterbunden würde, ist allerdings nicht zu erwarten. Erfahrungsgemäß lassen sich Menschen nicht langfristig davon abhalten, von ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, und finden immer neue Wege und Routen, um das Grenzregime zu umgehen.
Und solange es das Grenzregime gibt, wird es den Bedarf nach Solidarität dagegen geben. Diese gilt es zu schaffen, zu schützen und zu pflegen.
■ Britta Rabe