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Die kleine parlamentarische Anfrage der CDU/CSU Fraktion vom Februar 2025, in der die Union mit 551 Fragen Mutmaßungen zur vermeintlich fehlenden politischen Neutralität zivilgesellschaftlicher Organisationen anstellte, hat viel Kritik ausgelöst. Doch die Anfrage kam nicht aus dem Nichts. Sie reiht sich in eine demokratie- und bildungspolitische Gemengelage ein, in der sich Vorstellungen der AfD von einem „neutralen Staat“ mit Rechtsdeutungen von Behörden, Ministerien und Gerichten zur politischen Neutralität seit einiger Zeit ungut befördern.
Der – ursprünglich demokratisch gemeinte – Grundgedanke, dass die Staatsorgane sich aus dem Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung heraushalten sollen, wird zunehmend auf andere übertragen: Es trifft zivilgesellschaftliche Vereine, Förderempfänger*innen staatlicher Programme, öffentlich Angestellte und Beamt*innen, Lehrkräfte, Mitarbeiter*innen in Gedenkstätten und der kulturellen, künstlerischen oder politischen Bildungsarbeit. Ausgerechnet diejenigen, die sich in ihrer Arbeit und ihrem Engagement für Menschenrechte, für mehr Demokratisierung, gegen Diskriminierung und Unterdrückung einsetzen, sollen sich „neutral“ verhalten.
Woher kommt das Verständnis bzw. die Deutungen von „politischer Neutralität“ und woher rührt die gegenwärtige Verunsicherung?
Gegenwärtiger Kontext der Debatte um „Neutralität“
Ein zentraler Auslöser der gegenwärtigen Verunsicherung war die im Jahr 2018 geschaltete Meldeplattform „Neutrale Schulen“ der AfD-Fraktion der Hamburger Bürgerschaft, weitere Bundesländer folgten (vgl. Hentges/Lösch 2021). Eltern und Schüler*innen sollten Lehrkräfte melden und denunzieren, die Kritik gegenüber der AfD äußerten. Die AfD berief sich auf ein angebliches Neutralitätsgebot des „Beutelsbacher Konsens“ (siehe der Beutelsbacher Konsens im Wortlaut: www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens/) sowie des Grundgesetzes und versprach auf dieser Basis eine rechtliche Beratung für diejenigen, die ihre (rechtsgesinnte) Meinung in diesem Land nicht (mehr) äußern dürften. Diese Denunziationsplattformen sowie die Androhung von disziplinarrechtlichen Folgen verstärkten zunächst insbesondere im schulischen Feld die Unsicherheit, was man im Bildungskontext noch sagen kann und ob man demokratisch gewählte rechte, völkisch-nationalistische Parteien kritisieren darf.
Im gleichen Zeitraum wurden in Zuwendungsbescheiden staatlicher Förderprogramme für Demokratie und gegen „Extremismus“ die geförderten Organisationen mit Verweis auf den Beutelsbacher Konsens auf eine politische Neutralität verpflichtet. Der Bundesfinanzhof erkannte 2019 die Gemeinnützigkeit von Attac mit Verweis auf eine „geistige Offenheit“ politischer Bildung ab (vgl. Bürgin 2021, S. 107ff.; Lösch 2022). Dieses Urteil verstärkte aufgrund dieser Begründung den Diskurs um „Neutralität“. Ohne Einbezug fachlicher Kompetenz maßte sich das oberste Finanzgericht eine Definition politischer Bildung an und schränkte diese für eine demokratische Gesellschaft empfindlich ein (vgl. https://akg-online.org/sites/default/files/fkpb_-_stellungnahme_zum_attac-gemeinnuetzigkeitsurteil._das_gefaehrliche_bildungsverstaendnis_des_bfh.pdf). Die Einflussnahme gemeinnütziger Organisationen auf die politische Meinungs- und Willensbildung sei nur zulässig, wenn diese sich auf Bildungspolitik beschränke. Bemerkenswert ist, dass der Maßstab der „geistigen Offenheit“ als Chiffre für Neutralität insbesondere an progressive Akteure angelegt wird, die ihre Arbeit auch gesellschafts- und ungleichheitskritisch begreifen. Für eigennutzenorientierte Lobbyorganisationen oder rechte Organisationen, die im Gewand gemeinnütziger Vereine auftreten, gelten scheinbar andere Regeln.
Das Urteil des Bundesfinanzhofes wirkt sich auf die aktuelle Auseinandersetzung aus. In der kleinen Anfrage der CDU/CSU vom Februar 2025 wird sich nicht nur auf die Verschwörungserzählung von staatlichen Schattenstrukturen bezogen, wie sie im Artikel der WELT vom 11. Februar 2025 medial verbreitet wurden. Die Anfrage zieht auch das Urteil zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Attac heran. In der medialen Öffentlichkeit wird diese fachlich falsche und grundrechtlich problematische Deutung politischer Meinungs- und Willensbildung des Bundesfinanzhofes mit wenigen Ausnahmen unhinterfragt übernommen. Der Sächsische Rechnungshof hat sich 2023 bereits die Umdeutung der Offenheit des politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses zu eigen gemacht und durch die Prüfung von staatlichen Förderprogrammen des Landes Sachsen den geförderten Organisationen mit Verweis auf ein Neutralitätsgebot Kritik untersagt (vgl. Deyda 2023). Jonas Deyda verweist darauf, dass durch diese Einschränkungen und Einschüchterungen die rechtspolitische Saat der AfD aufgeht.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klage von Attac gegen die Aberkennung der Gemeinnützigkeit steht noch aus (vgl. zum aktuellen Stand: www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/attac/). Es bleibt ein kleiner Hoffnungsfunke, dass sich das Bundesverfassungsgericht im Gegensatz zum Bundesfinanzhof auf den Fachdiskurs bezieht und die gesellschaftliche Debatte sowie die Ausdifferenzierung einer pluralen demokratischen Zivilgesellschaft würdigt und wertschätzt. Diese stellt schließlich einen Erfolg der Entwicklung der Demokratisierung der BRD und keine Bedrohung dar. In der Auseinandersetzung um das Thema wird aber deutlich, dass Staat und Demokratie nicht dasselbe sind. Der Staat ist nur so demokratisch, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse dies zulassen und wie sehr demokratische Strukturen, Institutionen, Verfahren und Werte erstritten und abgesichert werden. Dafür dienen (nicht nur, aber) auch die Demokratie-Prinzipien in der Verfassung, die in letzter Zeit durch unterschiedliche Akteure eine veränderte Bedeutung erhalten. In den folgenden Ausführungen wird versucht, diese Umdeutungen zu aus demokratiepolitischer Sicht etwas zu entwirren.
Das Grundgesetz verpflichtet nicht zu Neutralität
Das Verständnis von Neutralität von staatlichen Behörden leitet sich aus dem Grundgesetz und der Rechtsprechung dazu ab. Neutralität ist aber selbst kein Verfassungsbegriff (vgl. Hufen 2021 und 2024). Allerdings sind insbesondere zwei Grundgesetz-Artikel dahingehend relevant.
Laut Artikel 20 geht „alle Staatsgewalt vom Volke“ aus. Die wichtigste Grundlage dafür ist nicht der Wahlgang an die Urne, sondern zunächst die Offenheit und Freiheit des Meinungs- und Willensbildungsprozesses und damit auch der politischen Bildungsarbeit. Etliche hart erkämpfte Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit etc. sollen diesen gewährleisten und schützen. Es sind Grundrechte gegenüber dem Staat.
In einer 1966 gefällten Grundsatzentscheidung zur Parteienfinanzierung hatte das Bundesverfassungsgericht das Demokratieprinzip näher ausgeführt (siehe: www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/527544/das-bundesverfassungsgericht-zur-parteienfinanzierung/): In einem demokratischen Staatswesen müsse sich „insbesondere die Willensbildung des Volkes frei, offen und unreglementiert vollziehen“. Der „permanente Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes“ münde ein in den „für die Willensbildung im Staat entscheidenden Akt der Parlamentswahl“. Das Recht der Bürger*innen auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich jedoch „nicht nur bei der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Willensbildung“. Diese soll sich von unten, d.h. staatsfrei aus der Gesellschaft heraus entwickeln. Durch die Organisation in Gruppen, Verbänden und Parteien werde gewährleistet, dass sich die demokratische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin vollziehe. Die jüngsten Auslegungen eines Neutralitätsverständnisses basieren dahingehend auf einem „etatistischen Missverständnis“ (Deyda 2024), dass etwa vom Staat geförderte Organisationen, weite Teile der demokratischen Zivilgesellschaft, zum verlängerten Arm des Staates werden. Deyda problematisiert dahingehend, dass „eine falsch verstandene Neutralität selbst Gefahr läuft, die Richtung des Willensbildungsprozesses umzudrehen, das heißt womöglich selbst in staatliche Meinungslenkung umzuschlagen“ (vgl. ebd.).
Der zweite Passus ist Artikel 21 des Grundgesetzes: Um den freien politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu ermöglichen, soll der Staat die Chancengleichheit und Freiheit der Parteien gewährleisten, die an der politischen Meinungs- und Willensbildung mitwirken, allerdings kein Monopol darauf haben. Beim Verfassen des Grundgesetzes wurde davon ausgegangen, dass sich in der jungen Bundesrepublik die Menschen vorwiegend in Parteien organisieren und diese den Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung – je nach politischer Grundüberzeugung und Programmatik – gestalten und daran mitwirken. Insofern galt auch hier der Grundgedanke, dass die Staatsorgane sich nicht in diesen Prozess einmischen und eine „Chancengleichheit der Parteien“ gewährleisten sollten. Mehrere Entwicklungen waren damals noch nicht im Blick: Erstens blendet das Ansinnen der Chancengleichheit die reale Ungleichheit in der (kapitalistischen) Gesellschaft, die ungleiche Repräsentation politischer Interessen, die ungleichen Zugänge und Ressourcen von gesellschaftlichen Gruppen aus. Bereits die unterschiedliche Höhe von Parteispenden, aber auch das Ausmaß an Lobbyismus in Berlin und Brüssel hat wenig mit der damals angedachten Bonner Republik zu tun. Ein kurzer Blick auf die Transformation ökonomischer Macht in politischen Einfluss der großen digitalen Tech-Konzerne macht das aktuelle Ausmaß dieser Schieflage mehr als deutlich. Zweitens wirken mittlerweile eben sehr unterschiedliche Organisationen, Stiftungen, Vereine, Akteure an der politischen Meinungs- und Willensbildung, aber auch an deren Manipulation mit. Wir leben schon länger nicht mehr in einer reinen Parteiendemokratie. Drittens ist mit Chancengleichheit der Parteien nicht gemeint, dass diese auch zu gewährleisten ist, wenn einzelne Parteien Menschen- und Grundrechte missachten.
Zwar sieht in Bezug auf das letztgenannte Problem das Grundgesetz das Mittel des Parteienverbotes vor. Das ist aber ein repressives Mittel des Staates, das nur im äußersten Falle angewandt werden sollte und demokratiepolitisch problematisch ist. Außerdem setzt ein Verbot eine intensive gesellschaftliche Debatte voraus, inwiefern eine Partei rassistisch und menschenverachtend agiert sowie Grundprinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie missachtet und ablehnt. Hier ergibt sich ein zentraler demokratischer Widerspruch, denn wie soll diese gesellschaftliche Auseinandersetzung denn stattfinden, wenn sich diejenigen, die sich mit einer solchen Partei kritisch auseinandersetzen, politisch neutral verhalten und ihre Kritik unterlassen sollen?
Die demokratischen Grundprinzipien, die eigentlich zur Absicherung einer unabhängigen freien Meinungs- und Willensbildung gedacht waren, werden derzeit so umgedeutet, als müssten alle möglichen gesellschaftlichen Akteure ihre Kritik an Parteien, an Regierungen, an Macht- und Herrschaftsverhältnissen begrenzen. Dabei ist das Grundgesetz überhaupt nicht neutral. Mit Artikel 1 verpflichtet es den Staat auf die Würde der Menschen, mit Artikel 3 auf die Gleichheit der Menschen, Gleichheit der Herkunft, der Geschlechter, der sexuellen Orientierung, religiöser und weltanschaulicher Toleranz, mit Artikel 20a auf die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, den Schutz der Tiere und den Klimaschutzes. Das Grundgesetz enthält ein Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatsgebot und ist überdies – immer wieder wichtig zu erinnern – wirtschaftspolitisch offen.
Der Mythos des „Beutelsbacher Konsens“
Anders als von der AfD behauptet und gerne im aktuellen Diskurs von unterschiedlicher Seite tradiert, enthält auch der „Beutelsbacher Konsens“ kein Neutralitätsgebot! Dieser ist zudem nie ein ausgehandelter Konsens mit demokratischer Legitimation gewesen. Er ist die von Hans-Georg Wehling verfasste, protokollarische Mitschrift einer politikdidaktischen Tagung, die 1976 im Baden-Württembergischen Ort Beutelsbach stattgefunden hat. In einem Fachaufsatz hat Wehling im Nachgang der Tagung drei Aspekte festgehalten, die aus seiner persönlichen Sicht als Gesamtbetrachtung einen Minimalkonsens der schulischen Politikdidaktik abbilden sollten: 1. Überwältigungsverbot, 2. Kontroversitätsgebot, 3. Orientierung an den Interessen der Schüler*innen und deren Handlungsbefähigung.
Anlass der Tagung waren die erheblichen Kontroversen in der schulischen Politikdidaktik, die aus der gesellschaftspolitischen Polarisierung der damaligen Zeit resultierte. Im Kontext des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung (Staatssozialismus vs. Kapitalismus) wurde innenpolitisch um die Ausgestaltung der Demokratie sowie um den gleichberechtigten Zugang zu Bildung gestritten. Die Studierendenbewegung forderte eine Entnazifizierung sowie eine tiefergehende Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. Die Notstandsgesetzgebung (im Kontext der RAF) oder der sogenannte „Radikalenerlass“, d.h. die Berufsverbote für Beschäftigte im öffentlichen Dienst – betroffen waren zu über 90% Personen aus dem politisch linken Spektrum –, schränkten die noch jungen demokratische Strukturen der BRD ein und wurden dahingehend kritisch und kontrovers diskutiert. Bildungspolitisch stritten die Kultusminister der CDU/CSU oder der SPD-geführten (Bundes-)Länder über die Ausrichtung von Rahmenrichtlinien, Inhalten von Schulbüchern oder Schulreformen. So wurden die damaligen „Hessischen Rahmenrichtlinien zur politischen Bildung“, die den Gedanken nach mehr Demokratisierung aufgriffen, von konservativer Seite als Teil des Klassenkampfes, als „sozialistisch“ und bereits als Indoktrinierung von Schüler*innen verstanden. Im Grunde ging es bei diesen politischen Kontroversen nicht nur um Aspekte der Bildungsgerechtigkeit, sondern auch um unterschiedliche Verständnisse von Demokratie: entweder als eng gefasstes staatliches, repräsentatives Ordnungssystem oder als Demokratisierung aller Lebensbereiche, auch der Bildungseinrichtungen, sowie einer pluralen Zivilgesellschaft, in der sich Bürger*innen in vielfältiger Form engagieren, politisch bilden und beteiligen können. Demokratiepolitisch ist dabei auffällig, dass das Aufkommen neonazistischer Akteure, z.B. die Gründung der NPD 1964, zunehmende rechte Gewalt, Hakenkreuzschmierereien in der Öffentlichkeit und die Schändungen jüdischer Friedhöfe in der bildungs- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung sowie für die Formulierung des Beutelsbacher Konsens kaum eine Rolle spielten.
Der Beutelsbacher Konsens kann nur in dieser historischen Einordnung richtig betrachtet werden. Inwiefern er auf heutige gesellschaftspolitische Verhältnisse sinnvoll angewandt werden kann, wird in der Fachcommunity kritisch diskutiert (vgl. Widmaier/Zorn 2022). Problematisch ist vor allem, dass er mittlerweile auf Tätigkeitsfelder und Bereiche angewandt wird, für die er ursprünglich gar nicht gedacht war. Der Beutelsbacher Konsens hat keine rechtliche Geltung. Rechtliche Geltung haben vielmehr die Menschen- und Grundrechte. Es entsteht eine problematische Schieflage, wenn erstens aus dem Beutelsbacher Konsens ein Neutralitätsgebot abgeleitet wird; zweitens der Beutelsbacher Konsens als Prinzip über das Grundgesetz gestellt wird bzw. Menschen- und Grundrechte ungeachtet bleiben.
(siehe dazu: https://akg-online.org/arbeitskreise/fkpb/frankfurter-erklaerung-fuer-eine-kritisch-emanzipatorische-politische-bildung.html)
Demokratie stirbt mit Neutralität
Der demokratische Grundgedanke, dass die Staatsorgane sich aus dem Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung raushalten sollen, erfährt derzeit eine problematische Umdeutung. Ausgerechnet diejenigen, die sich in ihrer Arbeit und ihrem Engagement für Menschen-, Kinder- und Grundrechte, für mehr Demokratisierung, gegen Diskriminierung und Unterdrückung einsetzen, sollen sich zurückhaltend und „neutral“ verhalten. Nicht nur demokratiepolitisch bleibt fraglich, wer in dieser Konsequenz eigentlich noch am freien politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilnimmt und diesen gestaltet.
In Diktaturen und autokratisch regierten Ländern werden unbequeme zivilgesellschaftliche Organisationen verboten. Hierzulande wird ihnen mit Verweis auf politische Neutralität die Gemeinnützigkeit oder staatliche Förderung aberkannt. Schulen werden angehalten, dass sie die AfD auch um den Preis des Schulfriedens, des Schutzes und der Sicherheit ihrer Schüler*innen sowie ihrer Lehrkräfte einladen und ihnen Räume bieten zu müssen. Das verletzt den demokratischen Auftrag von Schulen. Die Herangehensweise in den Ländern mögen sich unterscheiden, die Folgen sind ähnlich: die Begrenzung von Kritik und der Verlust demokratischer Strukturen. Demokratische Gesellschaften sind nicht neutral. Sich einmischen, sich positionieren, Haltung zeigen gehört zu deren Repertoire, sich nicht einzumischen und am Ende von allem nichts gewusst zu haben, gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Eine demokratische Gesellschaft stirbt mit der Begrenzung von Kritik einen schleichenden Tod. Insbesondere dann, wenn diese Begrenzung recht einseitig verordnet wird und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sowie der mediale-öffentliche Diskurs es ermöglichen, dass autoritäre, völkisch-nationalistische, geschichtsrevisionistische, menschenverachtende Positionen zur akzeptierten Normalität werden. Das ist keine Neutralität, sondern die Verschiebung gesellschaftlicher Verhältnisse nach Rechts.
Bettina Lösch ist Mitglied im Grundrechtekomitee. Sie ist Demokratietheoretikerin, politischen Bildnerin und Professorin am Lehrbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung der Uni Köln.
Literatur:
Bürgin, Julika (2021): Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung. Zur Politik der Demokratiebildung. Beltz Juventa. Open Access hier: https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/46526-extremismuspraevention-als-polizeiliche-ordnung.html
Deyda, Jonas (2023): Weaponized Neutrality. Wie der Sächsische Rechnungshof versucht, die Zivilgesellschaft an die Kandare zu nehmen, VerfBlog, 2023/12/14, https://verfassungsblog.de/weaponized-neutrality/
Deyda, Jonas (2024): Ein etatistisches Missverständnis: Warum parteipolitische Neutralität den Staat nicht verpflichtet, der geförderten Zivilgesellschaft parteifeindliche Äußerungen zu verbieten, VerfBlog, 2024/8/28, https://verfassungsblog.de/ein-etatistisches-missverstandnis/
FAQ des Forums kritische politische Bildung zur Kritik an Extremismusprävention, Neutralitätsforderungen und Konzept „wehrhafter“ Demokratie: https://akg-online.org/sites/default/files/faq_fkpb_v3_0.pdf
Hentges, Gudrun/Lösch, Bettina (2021): Politische Neutralität vs. politische Normativität in der politischen Bildung, in: Hubacher, M./Waldis, M. (Hg.): Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit. Umgang mit politischer Information und Kommunikation in digitalen Räumen, Wiesbaden: Springer VS, S. 131-152. http://doi.org/10.1007/978-3-658-33255-6_7
Hufen, Friedhelm (2021): Das Neutralitätsgebot: Ein rechtlicher Maulkorb für die politische Bildung? Thesen zu einem aktuellen Problem: https://www.kinder-undjugendarbeit.de/fileadmin/user_upload/FORUM_2021/Hufen_FORUM_1-2021.pdf
Hufen, Friedhelm (2024): Zur Bedeutung des sog. Neutralitätsgebots für zivilgesellschaftliche Vereine der Demokratie- und Jugendarbeit: https://kulturbuero-sachsen.de/wp/wp-content/uploads/2024/08/2024-07-25-Rechtsgutachten-zum-Neutralitaetsgebot-Prof.-Dr.-Hufen.pdf
Lösch, Bettina (2022): Der Diskurs um Neutralität aus demokratietheoretischer Sicht, in: Wohnig, Alexander/Zorn, Peter (Hg.): Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung – politische Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 137-161.
Wohnig, Alexander/Zorn, Peter (Hg.) (2022): Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung – politische Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.