08. Mai 2023 © Tim Wagner
Abolitionismus / Demokratie / Demonstrationsbeobachtung / Gefangenenunterstützung / Klimakrise & Klimaschutz / Menschenrechte / Neoliberalismus/Kapitalismus / Polizeigewalt / Versammlungsrecht

Lützerath ist überall – Klimaprotest trotz(t) Repression und Delegitimierung

Zu Beginn des Jahres gehörte unsere Aufmerksamkeit der bevorstehenden Räumung und Zerstörung des Ortes Lützerath im Rheinischen Braunkoh­le­revier, der wir eine mehrtägige ­Demonstrationsbeobachtung widme­ten. Damit wollten wir unter anderem ein Gegengewicht zu der erwartbaren Legitimierung möglicher Polizeigewalt durch Politik und Medienberichter­ stattung während der Proteste gegen die Räumung leisten.

Vereinzelte Anzeichen im Vorfeld deute­ten bereits auf eine solche Mög­lichkeit hin: Bald nach der politischen Entscheidung am 4. Oktober 2022, das Dorf Lützerath für den Konzern RWE zur Abbaggerung freizugeben, war im Innenausschuss des Landtags NRW das Szenario eines gewalttätigen Wider­stands gegen die notwendige polizei­liche Räumung des besetzten Ortes ­ heraufbeschworen worden.

Inmitten der Räumungsvorbereitungen am 30. Dezember 2022 forderte der Vor­ standsvorsitzende der RWE Power AG Markus Krebber medienwirksam, ­keine Menschenleben zu gefährden. Krebber richtete seinen Appell einseitig an die Protestierenden.

In der Pressekonferenz der Polizei zum geplanten Räumungseinsatz am 9. ­Januar 2023 wurde eine Warnung an die Zivilgesellschaft ausgegeben: Sie dürfe sich nicht mit dem radikalen Widerstand gemein machen. Landes­regierung und Polizeiführung schufen mit der angekündigten Gewaltbereit­schaft der Demonstrant*innen eine Atmosphäre der Unsicherheit und ver­schafften dem gewaltvollen Polizei­einsatz von Lützerath damit bereits im Vorfeld Legitimität.

Wir beobachteten Polizeigewalt nicht allein auf der Großdemo, sondern auch während der gesamten Räumung und Zerstörung Lützeraths, die fahrlässig eilig durchgeführt wurde. Es ist allein dem Glück zu verdanken, dass es nicht zu schweren Verletzungen oder Schlim­meren kam.

Nach der Räumung wurde der gewalt­alttätige Polizeieinsatz im Innenaus­schuss des Landtags NRW relativiert und damit das Thema geschlossen. Und während es die Aufgabe eines Parla­mentes wäre, die zuständigen Minis­terien und die Polizei in Verantwortung zu halten, nahmen alle Parteien die Darstellungen hin und hinterfragten weder den Ablauf der Räumung noch den Umgang mit Versammlungen.

In der Medienberichterstattung fand die übermäßige Polizeigewalt bei der Großdemo am 14. Januar ihren Platz als empörende Ausnahme, wurde aber nicht grundsätzlicher ­problematisiert. Innenminister Reul und ­ Leitmedien führten eine Scheindebatte über Schwer­verletzte und stellten Demo-Sanitäter*innen als unglaubwürdig dar.

Das eigentlich Relevante – ­nämlich die derartige Verletzungen verur­sachenden Gewaltmittel Schlagstock, Schmerzgriffe und Schläge auf Kopf und Gesicht, Bauch, Schlüsselbeine und Rücken – wurde kaum in Frage gestellt.

Völlig ausgespart wurden Fragen nach einer Bewertung der Polizeigewalt während der gesamten Räumungs­ tage, erst recht eine grundsätzlichere Aus­einandersetzung mit dem Thema Polizeigewalt als inhärentem Teil des ­ polizeilichen Gewaltmonopols.

Der politische Diskurs um den ­Protest gegen die Räumung Lützeraths ist Teil einer größeren ­gesellschaftlichen ­De­batte über die Frage, welche Aktions­ formen gegen die fortschreitende ­menschengemachte Klimakatastrophe und der unzureichenden Gegenmaß­ nahmen legitim und notwendig sind. Die Debatte nimmt zu Anlässen wie der Räumung des Hambacher Waldes 2018 oder aktuell durch die vielen A ­ ktionen der Gruppe „Letzte Generation“ stets an Fahrt auf und wird zunehmend ­polarisiert geführt.

Im Innenausschuss des Landtags NRW hieß es nach der Räumung Lütze­raths, auf der Großdemonstration am 14. ­ Januar hätten Extremist*innen zivilgesellschaftliche Bündnisse ver­einnahmt: Während ­zivildemokratische Organisationen den Klimaschutz als Ziel hätten, sei die Position, der Kapita­lismus müsse abgeschafft werden, linksextremistisch.

Schon die Aussa­ge, „die Demo in Richtung Lützerath zu verlassen, sei nicht legal, aber legi­tim“ wurde als extremistisch gewertet, ebenso die Kritik an Polizeigewalt und die Einschätzung, die „Polizei schütze Konzerne und Kapitalismus“.

Diese plumpe staatliche Einteilung in eine legitime Protestbewegung und ei­nen „extremistischen“ Teil ist der bewusste Versuch einer gesellschaftli­chen Spaltung mit dem Ziel der Ent­solidarisierung mit dem Protest.

Die Benennung von Aktionen des Zivilen Ungehorsams als „extremistisch“ soll ganze soziale Bewegungen delegiti­mieren. Die Bewertung von Kritik an Polizeigewalt als „radikal“ spricht ­Betroffenen von Polizeigewalt ihre Erfahrungen in autoritärer Weise ab.

­Der Schritt hin zur Kriminalisierung von Aktivist*innen der Klimagerechtig­keitsbewegung ist da nicht weit. Diese ist indes Realität: die ­Wohnungen von Aktivist*innen der „Letzten Gene­ration“ wurden im Dezember 2022 mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung durchsucht.

In ­ Bayern wurden mehrere Akti­vist­*innen für bis zu 30 Tage in Präven­tivgewahrsam genommen. Zuletzt wurden zwei Personen für Straßen­ blockaden zu Freiheitsstrafen ohne  Bewährung ­ verurteilt, eine weitere Person ­wegen einer Gleisblockade am Braun­kohlekraftwerk Neurath. ­Kurze Haft­strafen ohne Bewährung sind mehr als ­un­üblich und müssen als politische Urteile verstanden werden.

Die überschäumende Aggressivität von Politik und Teilen der Gesellschaft ­gegen die „Letzte Generation“, die mit zeitlich begrenzten Blockaden des städtischen Autoverkehrs die Bundesregierung lediglich daran ­ erinnert, das von ihr selbst unterzeichnete Pariser Klimaab­kommen einzuhalten, ist erschütternd.

Aufgrund der staatlichen Verunglimp­fung als „Klimaterrorist*innen“ sehen sich Autofahrer*innen zu Selbstjustiz ermuntert und gehen Aktivist*innen mit körperlicher Gewalt an. In Deutschland wie auch weltweit wird die ­Klimagerechtigkeits­be­we­gung ­angegriffen, anstatt sich deren ­An­liegen und der eigentlichen Heraus­forderung zu stellen – der notwendi­gen sofor­tigen Kehrtwende in der Klimapolitik:

In Frankreich will der Staat aktuell die ­ Bewegung „Soulè­vements de la terre“ (dt: Aufständi­sche der Erde) illegalisieren. Sie hatte im März mit zu einer Demonstration gegen das umweltgefährdende Was­ser­rückhalteprojekt in Sainte-Soline im Westen Frankreichs aufgerufen. Die künstlichen Wasserbecken sollen landwirtschaftlichen Großbetrieben dazu dienen, im Sommer bei ausblei­benden Niederschlägen ihre Felder zu be­wässern.

3.000 bewaffnete Polizei­ kräften standen Ende März in Saint-­Soline 30.000 Demonstrant*innen gegenüber und schossen rund 5.000 Granaten auf die Demonstrierenden ab. Das Ergebnis: rund 200 ­Verletzte, darunter 40 Schwerverletzte; eine ­Person befindet sich seitdem im Koma. Die meisten Verletzungen stammen von Gummigeschossen und Tränengas-Granaten der Polizei.

In einem Wald­gebiet bei Atlanta im US-Staat Georgia wurde im Januar ein*e Klima-Akti­vist­*in beim Protest gegen die dortige Waldzerstörung für den Bau eines Poli­zeiausbildungskomplexes (­„Cop City“) von Polizeikräften erschossen.

Weltweit steigen die Morde an Umweltschützer*innen und Klima­aktivist­ *innen an. Allein im Jahr 2019 wurden 227 Menschen ermordet, die Hälfte von ihnen in Kolumbien und auf den Philippinen. Die NGO „Global Witness“ bezeichnete in ihrem letzten Report das Jahr 2019 als tödlichstes Jahr für Aktivist*innen seit Beginn ihrer Auswertungen.

Sie analysierte zudem, dass die Herrschenden zunehmend Gesetze, Verhaftungen, Einschüchte­rungen und Verleumdungskampagnen einsetzten, um Klimaaktivist*innen zum Schweigen zu bringen. Die subtilere Art von Bedrohungen brächten weniger Schlagzeilen als Morde und seien deshalb besonders wirksam, um Dissens zu schwächen.

Dem weltweiten Trend zunehmender Kriminalisierung und brutale Gewalt gegen diejenigen, die aufbegehren, um die Klimakatastrophe ­ abzuwenden, sollten wir alle solidarisch und ­ be­stimmt entgegentreten. Denn es geht ums Überleben.