22. Feb. 2022
Corona / Gesundheit / Menschenrechte / Soziale Menschenrechte

Mit dem Neoliberalismus in die Endemie. Ungleichheit bleibt tödlich

Eins ums andere brechen die Corona-Inzidenzen in diesem Jahr neue Rekorde. Statt aber Schutzmaßnahmen entsprechend anzupassen, beispielsweise die Testkapazitäten zu erhöhen, werden PCR-Tests reglementiert und die Isolationszeit verkürzt. Mit der Rationierung von PCR-Tests wird es nicht nur schwieriger, Gewissheit über den eigenen Gesundheitsstatus zu erhalten und diesen gegenüber Kontaktpersonen im Privaten wie auch in der Lohnarbeit kommunizieren zu können, sondern es können auch Spätfolgen, wie Long Covid schwerer dokumentiert werden.

Obwohl das Gesundheitssystem mancherorts bereits kollabiert, werden wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckung zurückgefahren. Von vielen Seiten wird derweil prognostiziert, dass wir uns einem neuen Stadium der Pandemie nähern: einer endemischen Phase, in der das Virus zwar weiterhin präsent, aber ein Umgang damit in der Gesellschaft möglich geworden ist. Diesen neuen Zustand herbeizusehnen ist zwar verlockend, aber aus zweierlei Hinsicht gefährlich:

 

EINE ENDEMIE BEDEUTET NICHT, DASS DAS VIRUS WENIGER GEFÄHRLICH IST

Bei der Betrachtung historischer Verläufe von Pandemien wird deutlich, dass das Ende einer Pandemie hauptsächlich durch gesellschaftliche Aushandlungsprozessebestimmt ist. Der endemische Zustand von Covid19 ist also nicht primär medizinisch zu definieren, sondern richtet sich nach den politischen Machtverhältnissen. Endemische Viruserkrankungen wie die Influenza fordern jedes Jahr unzählige schwer Erkrankte und Tote in Deutschland, auf die sich das Gesundheitssystem und die Gesellschaft eingestellt haben.

Ein möglicher endemischer Zustand von Covid19 würde bedeuten, dass es zwar keine extremen Anstiege von schweren Verläufen und Toten mehr gäbe, doch die tödlichen Verläufe oder Folgen wie Long Covid bleiben und würden sich über einen längeren Zeitraum verteilen.

Welches Level oder welche Rate dabei für wen und aus welchen Gründen erträglich ist, welchen „Preis“ wir bereit sind zu zahlen, scheint jedoch weniger eine Frage demokratischer Debatte als Resultat eben jener Machtverhältnisse zu sein. Wie sinnvoll oder gerecht ist es überhaupt, eine bestimmte Todesrate zu akzeptieren, wenn sie mit mehr Investitionen in den Gesundheitsschutz vermeidbar wäre?

Derzeit wird die Pandemiebekämpfungsstrategie vielmehr durch vermeintlich begrenzende Faktoren wie die Intensivbettenbelegung bestimmt, die Alternativlosigkeit in der Pandemiepolitik suggerieren. Während behauptet wird, es ginge bei diesen Abwägungen allein um die Gesundheit der Bevölkerung und den Schutz kritischer Infrastruktur, statt vordergründig um die kurzfristige Erhaltung der wirtschaftlichen Produktivität, wird der Gesundheitsschutz faktisch weiter abgebaut und ins Private verlagert.

Die Infizierung mit Corona und Krankheitsfolgen wie Long Covid werden gerade in dieser Phase der Pandemie stärker als jemals zuvor als privates Problem behandelt und die Verantwortung an die Individuen abgegeben. Dass jedoch seit Beginn der Pandemie nur klägliche Versuche gemacht wurden, dem Pflegenotstand entgegenzuwirken und zusätzlich im Jahr 2020 ungefähr 20 Kliniken von Teilschließung betroffen waren, ist die direkte Auswirkung des politischen Willens der jeweiligen Bundesregierungen. Die Gründe für die geringen Kapazitäten und den Pflegenotstand in den Kliniken liegen in dem auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Gesundheitssystem.

Die vermeintliche Alternativlosigkeit in der derzeitigen Coronapolitik der Bundesregierung ist tödlich. Überarbeitetes und unterbezahltes Pflegepersonal, die Schließung oder Teilschließung von Kliniken, völlige Überlastung in den Kinder- und Jugendpsychatrien und die Verschiebung von lebenswichtigen Operationen fordern ständig Opfer. Derzeit scheint vor allem zu zählen, dass diese auf ein Maß begrenzt werden, welches die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft und Wirtschaft sicherstellt.

Eine solidarische Bekämpfung der Pandemie muss jedoch die Gesundheit aller Menschen in den Mittelpunkt stellen. Auch und gerade während einer Pandemie darf die Gefährdung der Gesundheit aller Menschen nicht von Kapitalinteressen geleitet sein. Stattdessen braucht es eine Debatte, die die Ausgangsbedingungen der Pandemiebekämpfung repolitisiert.

 

AUF KOSTEN DER LÄNDER DES GLOBALEN SÜDENS

Das stets verbreitete Mantra, die Pandemie sei eine „globale Herausforderung“, erscheint immer zynischer, je länger sie andauert. Denn die derzeitige politische Strategie ist weit davon entfernt, das Naheliegende zu tun: Die sofortige Aufhebung der Patente für die Covid19-Impfstoffe, wie es unter anderem Südafrika und Indien schon seit Anbeginn der Pandemie fordern. Während der Großteil der WHO-Länder dieser Forderung zustimmt und mittlerweile sogar die USA signalisiert haben, zumindest einer temporären Lockerung der Patentrechte zuzustimmen, verweigert sich die EU dem noch immer, insbesondere die deutsche Bundesregierung.

Stattdessen beruft sie sich in großzügigem Habitus auf die COVAX-Initiative, welche seit April 2020 die globale Verteilung von Impfstoffen regeln sollte. Tatsächlich besteht sie aber auf Spenden von zumeist Überschüssen wohlhabender Länder im Impfstoff-Nationalismus. Statt der Forderung nachzukommen, allen Menschen den gleichen Zugang zu universellem Wissen und damit den lebensnotwendigen Impfstoffen zu ermöglichen, setzt auch die neue Bundesregierung auf Wohltätigkeit durch milde Gaben.

Damit führt sie eine politische Dominanzstrategie fort, die genauso seit der Kolonialisierung zu globalen Abhängigkeiten führt, auf denen die Vormachtstellung und der Wohlstand des Westens fußt. Dabei wird nicht einmal das erklärte Ziel der COVAX-Spenden erreicht. Immer wieder wird beklagt, dass Impfdosen nicht nur unregelmäßig, sondern häufig erst knapp vor dem Verfallsdatum geliefert werden.

Mitte Januar wurde gar öffentlich, dass Ruanda kürzlich 250.000 Johnson & Johnson Impfdosen von der dänischen Regierung abgelehnt hatte. Die Spende war daran geknüpft, dass Dänemark auf Ruandischem Boden Lager errichten dürfe, in die Menschen aus Dänemark deportiert würden – mindestens für die Dauer des Asylverfahrens. Die Auslagerung von Asylverfahren und der Versuch von EU-Staaten, diese menschenverachtenden Interessen inmitten eines Kampfs um Leben und Tod endlich durchsetzen zu wollen, zeigen erneut, wie der Globale Norden seine ausbeuterische Vormachtstellung durch barmherzige Erpressung aufrecht erhält.

Während sich das Vermögen der Super-Reichen so rasant vermehrt wie nie zuvor, leben zusätzlich zu den 3,8 Milliarden Menschen weitere 160 Millionen seit Beginn der Pandemie in Armut. Und auch in Deutschland vergrößert sich die Kluft der Vermögensverteilung zwischen arm und reich massiv. Während der Pandemie zeigt sich, dass gerade die Einkommens- und Vermögensverteilung jene benachteiligt, die sich tagtäglich im Gesundheits- und Dienstleistungssektor dem Virus aussetzen müssen.

Die neue Bundesregierung zeigt hier bisher keinen Willen, dem entgegenzuwirken. Denn solange keine tatsächliche Umverteilung – etwa durch eine längst überfällige Vermögenssteuer – angestrebt wird, sind kaum spürbare Erhöhungen von Mindestlohn und „Bürgergeld“ nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Diese ökonomische Kluft ist tödlich. Der endemische Zustand ist ein weiterer Schritt, den Status Quo zu normalisieren: Menschen mit weniger Einkommen haben nicht nur geringere Bildungschancen, sondern auch eine einen schlechteren Gesundheitsschutz. Und dieser wirkt sich auf die Infektionsund Sterberatedurch das Virus aus.

Klassistische, rassistische und globale Ungleichheitsverhältnisse entscheiden darüber, wer leben darf und wer zu sterben hat. Bewusst werden so Menschen dem Tod ausgesetzt, um Kapitalinteressen durchzusetzen – im globalen, aber auch im bundespolitischen Kontext.

■ Die Redaktion