Mit Sicherheit verfassungswidrig

Rudolph Moshammers Tod diente jüngst als willkommener Anlass, die Debatte über die Entnahme von Körperzellen zur Speicherung genetischer Daten neu zu beleben. Bereits früher wurde die Empörung über den Mord an zwei Mädchen genutzt, um die gesetzlose Einrichtung der DNA-Datei beim Bundeskriminalamt (BKA) im April 1998 und die Verabschiedung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes am 7. September 1998 zu legitimieren. Seitdem reißt der Streit um eine mögliche Ausweitung der gesetzlichen Möglichkeiten oder um eine Einhaltung der nicht zuletzt vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gezogenen Grenzen nicht ab. Die grundlegende Kritik an den damit geschaffenen Kontrollmöglichkeiten, an der Außerkraftsetzung der generellen Unschuldsvermutung und an fehlenden Fristen für die Löschung der sensiblen Daten hat im Kontext der Sicherheitshysterie immer weniger Chancen, sich politisch Gehör zu verschaffen.

Verfassungsrechtliche Grenzen der Datenspeicherung

Wiederholt wurde seit 1998 das BVerfG angerufen, weil Gerichte Anträgen auf DNA-Identifizierung bedenkenlos zugestimmt hatten. In mehreren Fällen hob es deren Urteile auf und verwies die Sache zurück. Gestritten wird dabei vorrangig um die Ausweitung der Speicherung des „genetischen Fingerabdrucks“ bereits überführter Straftäter in einer Datenbank des BKA zur Verwendung in künftigen Strafverfahren.

Es geht also weder um die Gefahrenabwehr, noch – zumindest nicht vorrangig – um die Auswertung von Tatortspuren, sondern um eine mögliche zukünftige Strafverfolgung.1 Hierzu werden identitätsfeststellende Daten von Bürgern und Bürgerinnen prophylaktisch erhoben. Für sie gilt vorauseilend nicht die Unschuldvermutung, sondern im Gegenteil die Annahme, dass sie zukünftig wahrscheinlich straffällig werden. Nach dem DNA-Identitätsfeststellungsgesetz können Körperzellen von Straftätern molekulargenetisch ausgewertet und gespeichert werden, wenn diese eine Tat begangen haben, die auf einer speziell erstellten Liste von 41 (schweren) Straftaten steht.

Zugleich müssen konkrete Anhaltspunkte die Erwartung nahe legen, dass die Person eine weitere Straftat begehen wird. Die Entnahme von Körperzellen zum Zweck der Speicherung in einer DNA-Datei bedarf der richterlichen Zustimmung. Ausgewertet und gespeichert werden darf nur der nicht-codierende Teil der DNA, der keine Rückschlüsse auf persönlichkeitsrelevante Merkmale zulässt. Allerdings bleiben Zweifel, was zukünftig aus diesen nicht-codierenden Zellen ablesbar sein wird. Das Geschlecht ist daraus bestimmbar; möglicherweise sind auch Hinweise auf die ethnische Zugehörigkeit daraus abzuleiten.

In mehreren Verfahren aus den Jahren 1999, 2000 und 2001 hat das BVerfG bekräftigt, dass die gesetzlichen Bedingungen tatsächlich in jedem einzelnen Fall alle erfüllt sein müssen. Die Speicherung der DNA-Identifizierungsmuster für zukünftige Ermittlungsverfahren ist ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.2 Zur Rechtfertigung führt das BVerfG an, dass dieses Verfahren noch nicht in den absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit eingreife. Es hält jedoch eine strikte Prüfung der Verhältnismäßigkeit für unerlässlich. Insbesondere hat es in mehreren Entscheidungen betont, dass ein solcher Eingriff dem Gesetz zufolge nur bei Straftaten von erheblicher Bedeutung möglich ist.

Das BVerfG betont, dass auch „das Vorliegen eines Regelbeispiels im Sinn von § 81 g Abs. 1 StPO nicht in jedem Fall von einer einzelfallbezogenen Prüfung der Erheblichkeit der Straftat entbindet“.3 Um die Ausweitung der „Anlassstraftaten“ wird immer wieder gestritten. Zum 1. April 2004 wurde die Anforderung bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung herabgesetzt. Hier kommt es nicht mehr darauf an, dass die Anlasstat bereits eine Straftat von erheblicher Bedeutung ist. Auf der Grundlage einer Studie der Göttinger Universität wurde argumentiert, dass bei exhibitionistischen Straftätern mit einer Wahrscheinlichkeit von ein bis zwei Prozent mit der späteren Begehung eines sexuellen oder eines anderen Gewaltdelikts zu rechnen sei.4 Hieraus folgt allerdings zugleich, dass 98 bis 99 Prozent keine Gewaltdelikte begehen werden – und folglich zu Unrecht unter diesen Verdacht geraten. Hinzukommen muss in jedem Fall eine individuell zurechenbare Prognose der erneuten Straffälligkeit.

Diese richterlich überprüfte Prognose darf auch nicht durch Freiwilligkeit unterlaufen werden. Auch wenn die grundsätzliche Kritik am Richtervorbehalt – dass Richter meist kaum Zeit und Möglichkeiten haben, die vorgebrachten Argumente selbst ausreichend zu prüfen – zutrifft, zeigt sich hier, dass dieses Verfahren immerhin die Daten erhebenden Stellen zwingt, detailliert zu argumentieren und zu belegen, inwiefern ausnahmsweise eine Datenspeicherung notwendig sein soll. So hat das BVerfG Richtern, die einer Datenspeicherung ohne individuelle Prüfung und nur unter Zitierung des Gesetzestextes zugestimmt haben, ihre Urteile mit gehöriger Kritik zurückgegeben. Dass auch Richterinnen und Richter schnell unter den Druck des Sicherheitsdiskurses geraten – und sich angesichts der Schelte des BVerfG lediglich mehr Mühe beim Formulieren geben könnten –, offenbart die Argumentation des stellvertretenden Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Wolfgang Bauch.

Er möchte – zumindest bei den Tatortspuren – den Richtervorbehalt für Anträge auf DNA-Identifizierung am liebsten ganz abschaffen: „Wenn ein Richter einen solchen Antrag ablehnt, dann grenzt das doch fast an Strafvereitelung.“5 Das BVerfG argumentiert mit dem Grundgesetz, um der Unersättlichkeit der Strafverfolgungsbehörden Schranken zu setzen. Sicher: Je mehr ein Staat und seine Organe wissen, was die Bürgerinnen und Bürger tun und lassen (oder zumindest je besser sie dies jederzeit wissen könnten), umso besser kann jede Tat verfolgt werden. Diese staatliche Macht ist aber durch das Grundgesetz begrenzt. Nicht alles, was der Strafverfolgung am besten dient, ist auch erlaubt. Verhindert werden kann durch die Datenspeicherung keine Tat; möglicherweise kann nur leichter ein Täter identifiziert werden. Suggeriert wird jedoch häufig, potenzielle Täter könnten präventiv von Straftaten abgeschreckt werden.

Unersättlichkeit der Datensammler

Die Reaktion auf die grundrechtliche Begrenzung der Datenspeicherung und deren Sicherung durch das BVerfG ist die immer wieder erneuerte Forderung nach Gesetzesänderungen. Gefordert wird, den genetischen „Fingerabdruck“ dem normalen gleichzusetzen. Die qualitativen Unterschiede in Bezug auf den Eingriff in das Persönlichkeitsrecht werden dabei vom Tisch gefegt. Ein neues Gesetz räumt jedoch die grundrechtlichen Bedenken nicht aus dem Weg. Mit großer Selbstverständlichkeit wird inzwischen berichtet, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg den richterlichen Vorbehalt umgehen, indem sie Straftäter „freiwillig“ der Entnahme von Körperzellen zustimmen lassen.6

Angesichts des beginnenden Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen kündigte auch die dortige Landesregierung im Februar an, per Erlass DNA-Analysen auf Basis von Freiwilligkeit einzuführen.7 Grundrechtsschützende Verfahrensvorschriften können jedoch nicht über den Umweg der Einwilligung zur Disposition gestellt werden. Kurz vor ihrer Haftentlassung mögen Gefangene überzeugt sein, dass sie nicht wieder straffällig werden und damit „ein Zeichen guten Willens“ setzen wollen. Grundlage ihrer „freiwilligen“ DNA-Probe ist jedoch die staatliche Einschätzung, dass sie auch zukünftig straffällig werden. Von Freiwilligkeit kann im Übrigen im Knast keine Rede sein – die Gefangenen wollen vielleicht nur ihre vorzeitige Entlassung nicht gefährden. Darüber, was es für sie bedeuten mag, selbst an der Diagnose mitzuwirken, dass sie zukünftig erneut in Strafverfahren involviert sein werden, wird nicht berichtet. Entsprechend fordert die CDU/CSU den Richtervorbehalt als „unnütze Bürokratie“8 aufzugeben.

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat sich noch Ende Januar bereit erklärt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine Ausweitung der Datenspeicherung ermöglichen soll. Möglich werden könnte dann auch die Datenerhebung wegen mehrerer kleiner Delikte, etwa Schwarzfahren und Ladendiebstahl. Das BVerfG argumentiert mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Nur „im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit“ und nur so weit, wie „es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist“9, darf in das Grundrecht eingegriffen werden. Nur scheinbar sind damit klare Richtlinien vorgegeben. Denn in dieser Argumentation steckt bereits die Möglichkeit, dass dieses überwiegende Interesse der Allgemeinheit immer größer, der Schutz des Einzelnen immer kleiner gemacht wird. Schon darin ist eine Schieflage angelegt, die allzu schnell in die Verfassungswidrigkeit führt. Angesichts der weit um sich greifenden Verunsicherung und den daraus erwachsenden Rufen nach Sicherheitsgarantien ist der Kampf um die Geltung des Grundgesetzes um so wichtiger.

Elke Steven veröffentlicht in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/05


1 Allerdings wird auch bei der Verbrechensaufklärung Druck auf verdächtige Personen ausgeübt, ihre Unschuld mittels DNA-Analyse zu beweisen.Werden die auf solchem Wege gewonnenen Daten beim BKA gespeichert, so dienen sie wiederum auch der Strafverfolgung bei zukünftigen Straftaten.

2 Dieses Grundrecht leitet sich ab aus Art. 2 Abs. 1 GG (Freie Entfaltung der Persönlichkeit) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde).

3 BVerfG, 2 BvR 429/01 vom 20.12.2001.

4 BR-Drs. 465/03, S. 13 f.; BT-Drs. 15/350, S. 11.

5 „Frankfurter Rundschau“, 26.1.2005.

6 „Süddeutsche Zeitung“, 22./23.1.2005.

7 „Kölner Stadt Anzeiger“, 2.2.2005; „die tageszeitung“, 3.2.2005.

8 „junge welt“, 29.1.2005. 9 BVerfG, 2BvR 1741/99.