18. Mai 2021 © dpa
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Nicht Privilegien, sondern Rechte braucht es!

Seit mehr als einem Jahr sind im Zuge der Corona-Pandemie Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt. Wie viele weitere Organisationen ist das Grundrechtekomitee seitdem mit der Herausforderung konfrontiert, zwischen den Notwendigkeiten zu vermitteln, die Pandemie effektiv zu bekämpfen und staatliche Maßnahmen zu kritisieren, die einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte darstellen, bestehende Ungleichheiten verstärken und teils – etwa bei Demonstrationsverboten – ins Autoritäre kippen.

Unsere Leitfrage hierbei ist, wie eine radikal-demokratische und wirklich egalitäre Gesellschaft mit einer derartigen Pandemie umgehen würde. Trotz schwieriger Abwägungen: Klar war immer, dass alle Beschränkungen umgehend zurückgenommen werden müssen, sobald die Gesundheitskrise es zulässt. Nun, da absehbar ist, dass bald ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland mit einer ersten Dosis geimpft sein wird, stellt sich die Frage nach einem emanzipatorischen Ausstiegsszenario aus den Grundrechtseinschränkungen konkreter als zuvor.

Die derzeitige Debatte über die „Gewährung von Impfprivilegien durch den Staat“ verläuft äußert problematisch. In solchen Formulierungen, die Grundrechte als Privilegien bezeichnen, drückt sich eine fatale Verschiebung des Verständnisses von Grundrechten aus. Grundrechte kommen den Menschen nicht zu, weil sie ihnen vom Staat zugestanden werden. Grund- und Menschenrechte werden nicht vom Staat gnädig gewährt, sondern sind – als Ergebnis langwieriger und bitterer historischer Kämpfe – als allen Menschen bedingungslos inhärente Rechte zu verstehen: als vom Staat unabhängig existierend und von staatlichen Institutionen nur in begründeten Ausnahmefällen einschränkbar.

Sofern sich also – wonach es derzeit aussieht – herausstellen sollte, dass geimpfte Menschen kein oder nur ein sehr geringes Ansteckungsrisiko für die Gesundheit ihrer Mitmenschen darstellen, werden Gerichte die Grundrechtseinschränkungen ihnen gegenüber, zumindest dieschwerwiegenderen, voraussichtlich aufheben. Insbesondere umfassende Reise- und Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte werden sich juristisch kaum mehr als Gefahrenabwehr rechtfertigen lassen. Entsprechend haben Landesregierungen einige Einschränkungen für Geimpfte bereits zurückgenommen, weitere Schritte sind absehbar.

Die Bundesregierung kündigt einen „digitalen Impfausweis“ an, durch den Geimpfte künftig Beschränkungen vermeiden können sollen. Während die anstehende Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen zu begrüßen ist und natürlich für alle Menschen gelten muss, sobald die Inzidenzwerte entsprechend sinken, wirft die absehbare Entwicklung auch neue Probleme auf, die es aus grundrechtlicher Sicht zu reflektieren gilt.

Zunächst könnte die Öffnung sozialer Orte (z. B. Kneipen, Kinos oder Hotels) ausschließlich für Geimpfte dazu führen, dass die Ausübung von Grundrechten vom Gesundheitsstatus abhängig gemacht wird und die eigenen Rechte nur durch das häufige Vorzeigen von datenschutzrechtlich hochproblematischen „Impfausweisen“, vielleicht auch von „Testzertifikaten“ und „Genesungspässen“, in Anspruch genommen werden können. Die Gefahr besteht, dass Grundrechte mittelfristig tatsächlich zu Privilegien transformiert werden, deren Ausübung vom nachzuweisenden Gesundheitszustand einer Person abhängig gemacht wird.

Ein zweites Problem ist, dass die schnelle Rücknahme aller Einschränkungen für Geimpfte noch stärker als bereits jetzt dazu führen kann, dass Menschen mit hohem ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital versuchen, sich durch ihre privilegierten Kontakte zu Behörden und Ärzt*innen mit aller Macht in der Impfreihenfolge vorzudrängeln.

Ein Festhalten an der Priorisierung kann deshalb Sinn machen, zumal in jedem Fall vordringlich jene Gruppen geimpft werden sollten, die unter besonders schwerwiegenden Einschränkungen leiden und beispielsweise durch ihre Wohnsituation besonders gefährdet sind. Dazu gehören etwa Bewohner*innen von Pflegeheimen, betreuten Wohngemeinschaften, Massenunterkünften oder die Gefangenen in den Knästen. Für sie muss die Impfkampagne so gestaltet werden, dass drastische Maßnahmen wie Isolation und Quarantäne, Besuchsverbote usw. vorrangig und so schnell wie möglich beendet werden.

Ein drittes Problem ist, dass die Möglichkeiten für Ungeimpfte, sich durch negative Testergebnisse von Einschränkungen zu befreien und teils mit Geimpften gleichgestellt zu werden, massiv ungleich und ungerecht verteilt sind. Die Chancen, sich schnell, zuverlässig, einfach und kostenlos testen zu lassen, hängen nicht nur von den eigenen Geldmitteln ab, sondern auch von Wohnort, Meldeadresse, Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnissen, sozialen Kontakten und anderen Faktoren.

Die Corona-Testinfrastruktur ist deshalb so um- und auszubauen, dass der Zugang zu Tests für alle Menschen gleich und, wenn nötig, kostenlos möglich ist. Es ist absehbar, dass die Pandemie durch die Impfung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nicht vorbei sein wird. Auch weil Impflieferungen in ärmere Länder des Globalen Südens viel zu gering sind und Deutschland sowie andere Länder des Globalen Nordens die Aufhebung von Impfpatenten in der Logik eines profitorientierten Gesundheitssystems verhindern, ist es wahrscheinlich, dass weltweit neue Corona- Mutationen entstehen.

Wir müssen uns also nicht nur auf wiederkehrende Impfdurchläufe einstellen, sondern auch darauf, politische Positionen entlang des tatsächlichen Pandemieverlaufs ständig zu überprüfen und zu diskutieren.