Peter Grottian zum 65. Geburtstag

Peter Grottian, vielfältiger sozialer Aktivist und Initiator vieler Proteste sowie zuverlässiger und furchtloser Mitstreiter im Komitee für Grundrechte und Demokratie seit dessen Gründung, feierte am 27. Mai seinen 65. Geburtstag, nur wenige Tage später, am 8. Juni, wird er dann aus seiner Universitätsarbeit an der FU Berlin verabschiedet. Wir gratulieren ihm seitens des Sekretariats ganz herzlich und wünschen ihm, nun von seiner kritischen Hochschularbeit entlastet, viel Schaffens- und Wirkkraft in seinem unentwegten und unermüdlichen Engagement in den sozialen Bewegungen. Wir hoffen und wünschen uns, dass er uns als Außerparlamentarischer ganzen Herzens mit all seiner Spontaneität und seinen praktischen Aktionsideen auch in den kommenden Jahren weiterhin zur Seite stehen wird. Wolf-Dieter Narr, „Kollege und Freund“ Peter Grottians, hat einen halböffentlichen Geburtstagsehrenbrief verfasst, in dem er das persönlich und politisch verschlungene Leben seines Mitstreiters in freundschaftlich zarten Worten würdigt.

Den Geburtstagsbrief fügen wir als Anlage an.

Berlin, den 21. Mai 2007

Lieber Peter, da ich, wie ich Dir wohl spätestens im Januar mitgeteilt habe, nicht bei Deiner inoffiziellen Verabschiedung im OSI und aus dem OSI am 8. Juni dabei sein kann, da außerdem Dein 65. Geburtstag, Anlass des offiziellen Ausscheidens, genauer des Ausgeschiedenwerdens als Hochschullehrer des Instituts für Politikwissenschaft an der FU (OSI) am Ende des Sommersemesters 2007 fast 14 Tage vorher am 27. Mai glockenläutet, schreibe ich Dir meinen ersten Geburtstagsbrief vorweg.

Er stellt eine Mischung aus Persönlichem und Politischem dar, ganz der zweipoligen Einheit gemäß, die die Frauenbewegung Anfang der 70er Jahre auf ihre Fahnen geschrieben hat. Ich schreibe diesen Brief zugleich etwas wie eine ungehaltene Rede. Ab und an gilt es einzuhalten, gerade wenn man wie wir beide viel miteinander zu tun hatten, zu tun haben und bis ans Ende unserer Tage, so hoffe ich, zu tun haben werden, auch wenn manches eher untergründig wirksam war, als an der Oberfläche stattgefunden hätte. Einhalten muss man, um den anderen, den nahen Freund zu würdigen, wie Du es, mich fast überfordernd, zwei Mal mir gegenüber mitgetan hast (nun reicht es bei mir definitiv bis an mein definitives Ende!).

Weil jeder von uns vom Brot der Anerkennung lebt, das gerade in Deinem Fall von allen möglichen etablierten Seiten rar oder einseitig zugeteilt wird (welches Ausmaß an Anerkennung man vom wem für welches Tun bedarf, entscheidet erheblich über das, was Menschen tun und vermögen). Einhalten muss man auch, weil persönliche Leistungen bei so einem politischen Menschen von Kopf bis zur Sohle wie bei Dir ihrerseits ein Politikum darstellen. Wie in einem aufbewahrten und nachladbaren Akkumulator sollten sie weiter strahlen. Aus teilnehmender, freundschaftsverstärkter Beobachtung, seitdem Du ans OSI 1974 nach zuvor dort verbrachten Studententagen zurückgekehrt bist, möchte ich sechs eng verfugte, hin- und zurückwirkende Eigenarten hervorheben. Sie kennzeichnen Deine politische Person.

Sie machen, wenn ich das so sagen darf, Deinen Charakter aus. Ich berühre nicht, wo immer die Motive Deines Tuns und Lassens entspringen mögen. Die sechs Merkmale schließen mehr als dies bei anderen der Fall ist, eine persönliche Politik bis in spezifische Stilelemente ein (auch auf diese Stilelemente stilisiere ich nicht). 1. Die Kümmernis für andere, gerade die geringsten unter den Brüdern und Schwestern. Das ist es, was gilt.

Du tust das bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Wenn jemand aus dem Umkreis Deiner Familie alt und pflegebedürftig wird – Du kümmerst Dich darum. Wenn eine Studentin in Examensnöten, von Dir offiziell betreut oder nicht, bei Dir nach Hilfe sucht – Du sorgst dafür, dass ein Ausweg gefunden werden kann. Diese konkret unmittelbare Sorge gilt bald den Umständen. Da wird das Persönliche in anderer Weise politisch. Du bleibst bei den Personen nicht stehen. Du denkst darüber nach, wie man die Umstände ändern könnte, die daran schuld sind, dass bestimmte Personen erst so in Not geraten.

Die in Erfahrungen gegründete und auf Erfahrungen zurückweisende Politik mitsamt ihren analytisch erforderlichen Versatzstücken ist es, die Dein durchgängiges, erst in den letzten Jahren magerer gewordenes hochschulpolitisches Engagement trägt. Hochschulpolitik meint nicht, dass Du je angestrebt hättest, irgendwo in der Universität Positionen zu gewinnen, gar Karriere zu machen. Man könnte dies mit nicht einmal schlechten Gründen bedauern. Dir ging es jedoch durchgehend um eine „grounded politics" (analog zu einer intelligenteren Anleitung, Theorie zu bilden, von Glaser/Strauss formuliert: Grounded Theory).

Seit den Kämpfen wider das Berufsverbot – von den Jüngeren weiß schon fast niemand mehr, was dieses regierungsamtliche Brandt/Ministerpräsidentenunding seit Januar 1972 war –, war es Dir durchgehend darum zu tun, jüngeren Kolleginnen und Kollegen Mut zu machen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Darum gabst Du seinerzeit all den verfassungsschützerischen Schleichern, Kriechern, Ausspähern und Fragern gegenüber mit gutem Grund die Devise aus, von Dir prall formuliert und notfalls ebenso prall gedeckt: „Im Zweifelsfall ganz unverschämt lügen!" Um den Schutz politisch verstandener politischer Integrität der Studierenden ging es Dir noch bei Deinen letzten Aktionen, vordergründig vergeblich wie sie waren, Aktionen nämlich wider die Klassenteilung des Studiums (Bachelor-Master), dessen „Modularisierung" im Sinne idiotisierender Einteilung in einer Folge pseudowissenschaftlicher Päckchen und schließlich das, was wir in einem gemeinsamen taz-Artikel einen miesen, allen Grundrechten widerstrebenden, substantieller Leistung widerstrebenden Leistungstrimmapparat aus sogenannter Lehre und Campus-Management in Form eines Notenspießrutenlaufs genannt haben.

Die Rache der Kollegen konnte nicht ausbleiben, die just am OSI mit an erster Stelle den sogenannten Bolognaprozess besonders penibel umsetzen wollen – im Sinne des bekannten mit feinen Stiften festgenagelten Puddings (darum müssen sich die „Lehrenden" noch weniger im Fertigprodukt anstrengen): sie wollten Dir, der Du Dich vorgeblich wider die wunderbare G e m e i n s c h a f t der geschwisterlich miteinander umgehenden Lehrenden und Lernenden gerichtet hast, zunächst nicht einmal die Institutsräume für Deinen Abschied am 8. Juni 2007 zur Verfügung stellen.

Ja, sobald eine Person wie Du, ohne Angst vor widerspenstigen negativen Effekten, um anderer Personen willen politisch wird, damit unvermeidlich etablierte Institutionen kritisiert, sobald schlägt eben diese etablierte Politik zurück. Sie hat der vor Jahrzehnten früh verstorbene kanadisch-norwegische Kollege Christian Bay Pseudopolitik und analog Pseudopolitikwissenschaft genannt. Dessen muss man gewärtig sein. Dessen warst Du gewärtig. Und bist doch von der Kritik, just Du benähmest Dich nicht solidarisch, einigermaßen durchgeschüttelt worden.

Hast Du doch allein jahrelang dafür gesorgt, dass das Studienangebot ausreichend, dazu gegen NC-Absichten, ausgebreitet wird. Ansonsten „den Schwaben" durchaus zugetan, hast Du mit den Sieben Schwaben nie genossenschaftlich getrunken. Passt auf: der Hase kommt!

2. Das Peter-Grottianische Recht jedes Menschen auf lebensnotwendige Arbeit und die Pflicht der Gesellschaft und jedes Menschen, der irgend etwas hat, dafür zu sorgen, dass alle existentiell notwendige und zugleich ihre Person achtende Arbeit haben. Das ist wohl der stärkste Grottianfaden, verlässlicher als der allzu fahrlässig behandelte „rote", der sich durch all Dein Tun und Lassen der letzten, schon weitere Ringe angesetzten dreißig Jahre zieht.

Ich müsste wenigstens ein Briefbuch schreiben, um die Fülle der Konzeptionen, eher umfänglicheren und eher punktuellen Aktionen auch nur zu nennen, die Du mit entwickelt und mitunternommen hast, indem Du durchgehend möglichst viel arbeitsgefährdete oder arbeitslose Gruppen und einzelne einbezogen hast. Meist warst Du jedoch der spiritus rector, mehr noch die Flamme, ohne die nichts zustande gekommen wäre, auch wenn Du selbstredend nie die zureichende Bedingung warst. Politik findet im Mehrzahlbereich statt, sagt Hannah Arendt zurecht.

Diese zutreffende Feststellung, die erst den politischen Menschen ausmacht – aufgeregtes Auf- und Abgehen im eigenen Schlafzimmer reicht nicht aus –, enthält auch eine zuweilen bittere Grenze. Was ist, so erfuhren wir beide unter „unseren" Studierenden jüngst, wenn wir zwar das Richtige und Nötige wollen – etwas, das wir jedenfalls aus Erfahrungen und mit sonstigen Argumenten im Hinblick auf den Sinn des Lernen und seinen besten Formen massiv begründen könnten –, aber die Studierenden in diesem Fall haben schon alle Vorstellungskraft ausgetrieben bekommen und sehen keine andere Chancen mehr, als sich prüfungsordnungs- und dem bisschen Karriere gemäß zu verhalten, das ihnen in der Regel bevorsteht?! Weil Du um das fundamentale Politikum weißt, das spätestens das Ende der Weimarer Republik und den Erfolg der NSDAP in einem jahrtausendelang Schrecken verbreitenden Schlaglicht zeigen, das Politikum der wenigstens minimal eigen machenden oder enteignenden Arbeitslosigkeit, widmest Du der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder von mehrfach enteigneten Formen der Arbeit à la Hartz IV, die nichts als Betrugsmanöver der Habend Herrschenden darstellen, den Großteil Deiner mittleren und späten Jahre.

Darüber bist Du selbst zu einer Institution im besten Sinne geworden, freilich auch einer Institution, die wirkt, weil sie außerhalb herrschender Institutionen aktiv ist. Darum prallt sie, fast formulierte ich unvermeidlich, fortlaufend am festen, notfalls aggressiv indolenten Panzer herrschender Institutionen bis hin zu den Gewerkschaften ab. Mit Deinem aufgrund eines veralteten Universitäts- und ohnehin falschen Beamtengesetzes erzwungenen Abgang von der Universität geht auch eine Neuerung zu Ende, die Du untypisch für Dich, obwohl mit sich weitenden Erwartungen nur im akademischen Bereich mit einem kleinen Erfolg versucht hast. Angesichts der längst währenden akademischen Arbeitslosigkeit mit fast durchgehend nur negativen Effekten auf die Habitus derjenigen, die schon akademisch waren oder es noch werden wollen – diese negativen Effekte halten verstärkt an –, mischtest Du einen unvergleichlichen Grottianskat.

Aus Zwei mach Drei.

Zwei etablierte Hochschullehrer oder auch die immer noch wenigen -innen, sollten je ein Drittel ihres Gehalts zusammenlegen und eine dritte Stelle ermöglichen. Für diese dritte Stelle hast Du vor allem im eigenen Fach zusätzlich ausersehen, Frauenprofessuren zu schaffen und damit feministische Politik endlich im etablierten akademischen Feld wirksam zu machen.

Deiner trefflichen Idee sind insgesamt wenige KollegInnen in anderen Fachbereichen und nur, weiß ich es gerade recht, vielleicht vier Handvoll finanziell einigermaßen potenter sogenannter C4 und C3 Professuren gefolgt. Allein die rechtliche und finanzielle Abstimmung Deiner Idee kostete eine solche Menge Lobbyarbeit. Ich hätte gewiss längst das Handtuch geworfen, bevor auch nur eine neue Position zeitweilig geschaffen worden ist. Vor allem aber verhielten sich fast alle der zahlreichen studentenbewegten Positionsgewinnler nur einseitig ‚dolent'. Sie reagierten empfindlich auf finanzielle Einschränkungen. Sie verhielten sich indolent gegenüber den vielen ihrer positionslosen KollegInnen, die vergebens die „Privatdozentenkrankheit" überwinden wollten: nachts bei offenem Fenster zu schlafen, um den möglichen Ruf nicht zu überhören.

Selbst am OSI kam eine Lösung nur zustande, die nun immerhin gute zwanzig Jahre gehalten hat, weil Du mit Deinem eher mageren C2-Gehalt einer der zwei Drittelsabgeber gewesen und geblieben bist. Erfolg, Misserfolg oder nur begrenzter Erfolg: allein für die KollegInnen die dadurch wenigstens zeitweise eine Position erhielten, im OSI durchgehend Frauen für feministische Politikwissenschaft, bedeutete Deine Initiative eine Differenz ums Ganze.

Dass Deine Idee sich als so wenig tragfähig erwiesen hat, belegt, wie schwer sich auch ansonsten kritische Geister dem allgemeinen Wohlstandszug in seinen bürgerlichen Ausmaßen entziehen können. 3. Aktion bis zum Erfolg oder bis zum bitteren Ende des ausgekosteten Misserfolgs zählt. Nein ein „Theoretiker" im üblichen, im akademischen Sinn praktisch lichtloser Gebäude bist Du nicht. Du fahndest, so lange ich Dich kenne, vor allem arbeitsmarktpolitisch, sozialpolitisch, bildungspolitisch nach Chancen, wie man allemal schlimme Mängel, für die Menschen schlimm, die unter den Mängeln leiden, schlimm auch für das, was bundesdeutsche Demokratie bedeutet, wie man, sage ich, diese Mängel hier und heute, spätestens aber morgen beheben könnte. Und dies, ohne zu warten, bis ein „Systemwandel" eintritt, um bis zu diesen fernen Zeiten als kritischer Kritiker die Hände in den fundamentalistischen Schoß zu legen. Insofern, bist Du spaßiger Weise geradezu wunderbar verfassungskonform.

Dass Dir der Verfassungsschutz auf die Pelle rückte – und Du selbst für mich überraschend überrascht warst –, hat nichts mit den politisch konstruktivistisch kreierten „Autonomen" zu tun (oder allenfalls zusätzlich). Das ist innensenatorielle und verfassungsschützerische Rationalisierung. Es hängt vor allem mit dem zusammen, was Du gerade in einem „strassenfeger"-Interview bekannt hast (April 2007): „Ich bin mit ganzem Herzen ein Außerparlamentarischer!" Jede oder doch die meisten, die ich kenne, Deiner nicht nur als Eine-Punkt-Aktion geplanten Handlungen – wie die Protestaktion gegen die Abschaffung des Berliner „Sozialtickets" –, kalkulierst Du geradezu bis zum Pfennigdetail. Die Taschen der Mitmachenden nimmst Du wie vor allem die Deine immer großzügig im Geben, nie im Nehmen mit hinzu.

Deine finanzpolitischen, neuerdings hinzugewonnenen bankenpolitischen Kenntnisse sind ohnehin staunenswert – der einzige Dank, der der Korruption incorporated, Herrn Landowski, ziemt (mit diesen Kenntnissen, wärest Du je zum abrundenden Schreiben gekommen, einer radikaldemokratischen Steuer- und Finanzpolitik, hätte ich Dich als junger Fast-noch-Ordinarius, wäre es denn vonnöten gewesen, Anfang der 70er Jahre vom Fleck weg habilitiert und auf eine angemessene C4-Position geschoben, genauer: ich hätte dafür gesorgt, dass ...). Dein „Aktionismus", so höre ich Dich ab und an von handlosen Möchtegern-Intellektuellen halb disqualifiziert, ist gerade darin kein „-ismus", dass es Dir nicht auf Bekenntnisse, auf pauschale Behauptungen ankommt. Das Ergebnis ist es, das zählt.

Wie formuliertest Du einmal Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre anlässlich einer Arbeitsbeschaffungsdebatte in der seinerzeit noch einen politischen Ort darstellenden TU Berlin – ich habe Dir diese Formulierung freundesironisch immer wieder vorgehalten: „Da – also bei dieser oder jener Aktion, WDN – kommen echt Arbeitsplätze rüber." Diese Deine Verwirklichungssucht zeichnet Dich vor fast allen aus, die ich kenne, mich selbstredend eingeschlossen. Gegen sie spricht nicht, damit Du mich nicht missverstehst (oder andere, die diesen halboffenen Brief zu Deinen Ehren lesen sollten), dass darin auch Dir bekannte, zuweilen Dich überraschende, sogar selbst gefährdende Gefahren lauern. Prinzipiell gilt hier allemal Wolf Biermanns zu seinen besseren Zeiten formulierter Spruch: „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um." Die eine, vielleicht noch die am wenigsten schreckende Gefahr besteht darin, dass Du Dich sehr, wenn nicht allzu sehr auf herrschende Kontexte einlassen musst. Auf diese Weise könnten auch Erfolge bald trocken schmecken. Die damit verbundene Gefahr resultiert daraus, dass Du konzeptionelle Auseinandersetzungen und ihre möglichen Erfolge eher zu gering taxierst.

Die größte Gefahr, die in der Regel „nur" Dir auflauert, jedoch auch auf andere indirekte Auswirkungen im Sinne einer anhaltenden „Desillusionierung" samt ihren „realpolitischen" Folgen haben mag, besteht in der oben schon benannten physisch-psychischen und politisch intellektuellen Erschöpfung. In dieser Hinsicht gehst Du, der ansonsten auf das essend trinkende Wohlbefinden bis in Deine Büroausstattung glücklicherweise Wert legst – ich finde dort wie ein streunender Hund immer Plätzchen –, schlecht, zuweilen rabenschlecht mit Dir um. Unbeschadet solcher eher dunklen Töne ist aber Dein hervorstechendes Merkmal nicht genugsam zu loben, dass sich der Weg von Kopf und Herz zur Hand nicht schier unendlich verlustreich in die Länge zieht, und zieht, und zieht ... . Das gilt besonders gegenüber den neudeutschen Intellektuellen, die sich ebenso gedanken- wie tatenarm brüsten, um entsprechend feinbetucht Centers of Excellenz beizuwohnen. 4. Dass jemand in seinen Zielen (Inhalten) von den herrschenden Wegen abweicht, hat lange Tradition. Gegenüber intellektuell vorherrschendem Quietismus wollte man darauf nicht verzichten. Die meisten „Radikalen" sind jedoch in den Formen, die sie wählen, eher konservativ – das gilt für nahezu alle Angehörigen der vier, sonst so diversen Internationalen (man denke nur an die Rolle, die der Staatsgewalt zugeordnet wurde und wird). Dich zeichnet es aus, dass Deine Ziele, wie ich gerade darlegte, zwar zuweilen nicht allzu weit, von der etablierten Muster Wegen abweichen.

Du bist jedoch in den selbstredend strikt gewaltfreien Formen ganze Klassen den Formkonservativen voraus. Du präsentierst, Dich Deines Verstandes und der ihm nötigen Umsetzungsformen zu bedienen. Aufklärung wird praktisch. Nicht die alte Frage ist gestellt, ob man zur „Revolution", die ohnehin nicht in Drehbühnenform stattfindet, mit Krawatte antreten soll oder offenen Hemds. Das sind beiläufige Ästhetika. Die Frage gilt: ob man als „Beamter" bei einem Streikaufruf unterschreibt und mitmacht (Du hast einen solchen einst inszeniert); ob man gegen Lernprozesse mit tödlichem Ausgang wie sie im Zuge des Bologna-Prozesses eingeführt worden sind und noch praktiziert werden, einige edelkritische Worte formuliert, ansonsten aber am „Prozess" teilnimmt oder sich als angeblicher Hochschullehrer weigert; ob man vielfältige, lustige und unlustige Formen wählt, um der herrschenden Sklerose in ernstem Lachen zu widerstehen oder nicht (hier ist Deine politische Schauspielerkunst zu rühmen); ob man schließlich, wenn beispielsweise der HartzIV-Skandal die Toleranzgrenze der Verhartzten unterschreitet – und das ist auch von Nichthartzern, aber menschenrechtlich Engagierten wahrzunehmen –, die Form des Hungerstreiks propagiert und mitübt, auch wenn diese Form äußerste Penibilität im Umgang der möglichen Teilnehmenden untereinander voraussetzt.

Das ist es, denke ich, über Persönliches, allzu Persönliches hinaus, das ich im Moment nicht formulieren kann und mag, was unsere größte Nähe stiftet. Darum kannst Du zurecht sagen, Du seiest „von Herzen" ein „Außerparlamentarischer". Das tust Du wohl begründet, obgleich Du just im „straßenfeger"-Bekenntnis-Interview Folgen der eigenen Aktionen, was mir, versteht sich, nicht ganz passt, just an den Effekten auf die Berliner Koalition, die Linkspartei und ähnliche repräsentativ-demokratische Kollektivemphatiker ablesen willst. Wer herrschende Formen verletzt, wie Du dies auch in Deinen Inszenierungen politischen Theaters à la Bankenskandal phantasievoll getan hast – ich hätte Dir längst einen anderen „Goldenen Bären" ausgehändigt –, der tut es nicht aus „Spaß an der Freud´", wie man so sagt, aus „Daffke", der tut dies, weil nur der Hinausgang aus herrschenden Formen und nur die gewaltfreie Verletzung herrschender Formen, wenn es nicht mehr anders geht, neue auch materielle politische Chancen schafft. Du also. Und Deine Gewaltfreiheit hängt nicht nur mit der eingangs genannten Phantasie für die konkrete einzelne Person zusammen. Erneut ist es eine Formfrage, die den Ausschlag gibt. Kollektiv geübte Gewalt, Gewalt – deren Rationalisierer ungleich mehr als deren unvermittelte, genetisch oft verständliche Täter –, die andere, dann verletzte oder getötete Personen nicht kümmern, stärkt nicht nur herrschende Gewalt- und Politikformen. Sie setzt Herrschaft an sich selber fort und vernichtet substantiell andere Inhalte.

Die herrschende Gewalt aber bleibt der erste Skandal. 5. Pferdestehlen unter der Voraussetzung hundertprozentiger Verlässlichkeit. Bei nicht einmal einer Handvoll mir bekannter und in der einen oder anderen Weise naher Personen wäre ich mir dreier Merkmale sicher. Dir vertraue ich jedoch in menschlichem Maße unbegrenzt. Ich wüsste, Du bist bei irgendeiner vereinbarten Aktion verlässlich zugegen. Ich wüsste, Du machtest an derselben mit, auch wenn sie gegen herrschende Formen verstieße, in allen kapitalistischen Gesellschaften heiliges Eigentum missachtete und dieses auch noch wie ein Pferd aus der Koppel mit zugehaltenen Nüstern stähle. Ich wäre mir schließlich sicherer als mir selbst gegenüber, dass Du hinterher durchhieltest, mich sogar versorgest, so nötig und möglich, wenn uns die „Stahlgewitter der Eigentums-, sprich Pferdeverteidigung" über uns entlüden.

Bei diesem meinem Peter'schen Vertrauen gibt es „nur" den einen Haken, dass es mit dem Pferdestehlen ziemlich vorbei ist. Immerhin: die Metapher mag Dir zeigen, dass und warum wir derselben „kriminellen Vereinigung" angehören. Bestand hat nichts, was nicht in seiner humanen Qualität nötig und akzeptabel ist. Und um eine solche, keine herrschenden Voraussetzungen, auch wenn sie „wissenschaftlich" geadelt werden, unbefragt hinnehmende Vereinigung muss sich der Verfassungs-, als in fast allen demokratischen Hinsichten versagender Staatsschutz nun wahrhaftig, und sei es mit allemal berufsdummen „Verdeckten Ermittlern" kümmern.

Sonst wäre ja plötzlich nicht mehr so viel faul im „Staate der Bundesrepublik Deutschland". Und Staaten anderwärts. Könnten wir nur diese schier unendlichen herrschenden Dummheiten weglachen. 6. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Uneitelste im ganzen Land? Ich formuliere so vorsichtig, weil es mutmaßlich Menschen ohne die geringste Nuance von Eitelkeit nicht gibt; wahrscheinlich nicht einmal geben sollte. Ästhetischer Sinn gewiss sehr verschiedener Grade und Arten, Formen des Stolzes, auch manche Selbstbespiegelungen, die man mit Freud narzistisch nennt – sie gehören sogar zur Chance, metaphorisch und jugendlich möglichst reell die Bloch'sche Ekstase des aufrechten Gangs zu erleben. Sie sind außerdem Teil reflexiver menschlicher Fähigkeiten. Der Jahrmarkt der Eitelkeiten wird jedoch nicht nur kapitalistisch bis zur Eitelkeit der Leere betrieben. Die vanitas vanitarum, wo's um keine Sache, um keine anderen Personen mehr geht, die pfauenhafte Eitelkeit, selbstbezogen, positionsgeil, ämter- und titelgierig, geld- und machthungrig, dass selbst Midas erblasste, dem alles zu Gold wurde, sind geradezu universelle, medienverstärkte Politiker- und Intellektuellen-‚Krankheiten'.

Von all diesen Eigenarten ist von meinen Freunden niemand so frei wie Du, Peter. Selbst mögliche professoral Dich fettende Rufe hast Du ausgeschlagen, weil Du an dem von Dir gewählten Ort des Geschehens sein und bleiben wolltest: (West-) Berlin. Dass Du Dich nicht wie ein kostbares Gut behandelst, ist, denke ich, eine Voraussetzung Deines Formenbewusstseins. Vor allem aber ermöglicht Dir diese Nahezueigenschaftslosigkeit in Sachen Eitelkeit, wie man sie üblicherweise versteht, das weitarmige Hilfe- und radikale Reformengagement, von dem ich schon gesprochen habe. Nein, ein Schlusswort, das ich ansonsten liebe, eine Zusammenfassung soll dieser Lob des Lebens- als Handlungslaufs des fünfundsechzigjährigen Peter Grottian, von Dir also, nicht erhalten. Dann müsste ich ein Porträt malen. Dann wäre ich in Gefahr, ein Denkmal zu errichten, das Gegenteil dessen, was ich mit diesem Brieflobesdank erreichen will.

Du würdest umtriebig ohnehin sogleich herunterspringen oder, Deinem Körperformat gemäß, wie Du einst Fußball spieltest, herunterrollen. Du sollst weiteragieren, peterisch; Du und die Art Deines Tuns, das war mein Ziel, sollten Deine nicht wiederholbaren Eigenarten vorführen, einige derselben jedoch sollte es anderen und Jüngeren vielleicht ermöglichen, von Deinem handelnden Lebenslauf einige Bissen abzunagen. Charakter im Griechischen heißt unter anderem Zerklüftet- und Zerrüttetsein. Ohne dass ich begriffsgeschichtlich ausholen wollte, nutze ich diese Bedeutung für meine briefabschließenden Zwecke. Du bist kein ausgeklügelt' Buch, Du bist ein Mensch mit seinem Widerspruch (ich bestehle gerade C.F. Meyer, den großen Schweizer). Glücklicherweise. Deine ungewöhnlichen Fähigkeiten drohen Dich in dauernder Hetze zu halten. Das Telephon einst, nun das handy gehören zu Deinen Lieblingsinstrumenten. Allzeit erreichbar. Du wirbelst und wirbelst, sodass auch kleine Institutionen, die Dir lieb und wert sind, sich entweder nur Dir anhängen können oder Du sogleich, anders wirbelnd „exit" betreibst, nicht voice, also Mitdiskussion und Mitbestimmung mit unvermeidlichen Verlusten. Das alles ist Dein Spiel. Es geht mich, einen Deiner Freunde, letztlich nichts an.

Das gilt auch dann, wenn ich mir Sorgen mache. Und dieses Dein Spiel ist politisch und persönlich so wertvoll, so ungewöhnlich, dass die meisten Einwände an ihm witzlos abprallen. Verkörperst Du doch fast einmalig in Deiner Person einen akademisch wissenden, wissenschaftlich analysekräftigen, treffliche Lehre und Beratung einer riesigen Menge von Studierenden betreibenden Prof., dessen Typus nicht nur die deutsche Universität ungleich mehr bedurft hätte und mehr denn je bedürfte. Gerade darum aber bin ich als der Ältere gehalten, als Dein ‚Kollege und Freund', wie wir ab und an bei passender Gelegenheit den anderen bezeichnen, Gelbzeichen dort blinken zu lassen, wo Du etwas mehr einhalten solltest. Übrigens auch altersbedingt. Albern wäre es, die durch Alter bewirkten Einschränkungen achtlos zu überspielen. Als bewusstes Risiko müsste sich das Überspielen – das wir allemal verlieren – in humaner Politik ungewöhnlich lohnen. Also Du Typ. Bleib wie Du bist, bleib mir und anderen erhalten. Was täten wir ohne den Pjotr. Ändere Dich ein wenig. Auch die Bewegt Bewegenden müssen bewegt werden. Aber sacht.

Herzlich Dein WD