20. Aug. 2021
Abolitionismus / Demokratie / Neoliberalismus/Kapitalismus / Polizei

Polizeiproblem und Problempolizei – Mit dem Abschaffen anfangen

Kritik an der Polizei existiert so lange wie die Polizei selbst. Dennoch, in den letzten Jahre haben sich kritische Betrachtungen der Polizei und Polizeiarbeit im deutschsprachigen Raum vervielfältigt. Dies liegt am Betrachtungsobjekt selbst: die Polizei, aber auch andere Teile der Sicherheitsbehörden, haben in den letzten Jahren derart viele Skandale produziert, dass das „Polizeiproblem“ inzwischen unübersehbar ist. Dazu gehört die Beteiligung von Polizist* innen an extrem rechten oder gar rechtsterroristischen Netzwerken, wie „Nordkreuz“, der „Gruppe S“ oder dem Verein Uniter, die auf einen politischen Umsturz hinarbeiten.

Dazu gehören die in verschiedensten Dienststellen verschwundenen Waffen oder abgezweigte Munition, die bei Schießübungen von rechten Gruppierungen oder in geheimen Verstecken von Polizist*innen wieder auftauchen. Dazu gehören Berichte über von der Polizei getötete Menschen, deren Todesumstände – wenn überhaupt – oft nur durch jahrelange Nachforschungen von Angehörigen oder Gedenkinitiativen aufgeklärt werden können. Dazu gehört der unwürdige polizeiliche Umgang mit den Angehörigen und Überlebenden rassistischer Attentate – sei es bei der Mordserie des NSU, bei den Attentaten in München, Halle, Hanau und weiteren.

Dazu gehören auch die Drohschreiben unter dem Tarnnamen „NSU 2.0“ an eine Vielzahlvon in der Öffentlichkeit stehenden Personen, insbesondere Frauen, deren Daten zuvor nachweislich in Polizeidienststellen in Hessen abgefragt worden waren. Dazu gehören die unzähligen Chatgruppen, in denen Polizist*innen rassistische, antisemitische und NSverherrlichenden Inhalte teilten, sowie (neo-)nazistische Symbole in Polizeiwagen oder an der Dienstkleidung. Dazu gehört systematisches Racial Profiling, das zu Rügen des deutschen Staates durch die EU und die Vereinten Nationen geführt hat. Dazu gehören Berichte von heftiger Polizeigewalt bei Abschiebungen, gegen Wehrlose im öffentlichen Raum und von brutalem Vorgehen gegen Demonstrierende. Nicht zuletzt gehört dazu die Leugnung all dieser Probleme in den Polizeidienststellen, durch Polizeifunktionäre und -gewerkschafter*innen und in den Innenministerien mit zum Teil absurden Ausflüchten und grassierender Konsequenzlosigkeit.

Parallel dazu wird unbeirrt an der weiteren technischen wie juristischen Aufrüstung der Sicherheitsbehörden gearbeitet. Hier geht es mit Sieben- Meilen-Stiefeln voran: Nahezu alle Bundesländer und der Bund haben die Eingriffsbefugnisse im Gefahrenabwehrrecht und in der Strafprozessordnung in den letzten Jahren massiv ausgeweitet. Die Polizei ist technisch hochgerüstet worden: einerseits mit Waffen und Ausrüstung wie Taser, Handgranaten und Panzerfahrzeugen; andererseits mit Technologien zur Überwachung und Datensammlung: Kameras, Drohnen, Staatstrojaner, Big Data Software. Gleichzeitig werden Datenschutzhürden abgebaut. Kurz: Wir sehen eine massive Aufrüstung der Exekutive, gepaart mit dem Abbau von Kontrollmechanismen und rechtsstaatlichen Garantien.

Zugleich wird immer deutlicher, wie Teile der Polizei ihre Macht nutzen, um antidemokratisch und menschenfeindlich zu agieren und insbesondere Minderheiten zu verletzen und zu unterdrücken, aber dabei kaum mit spürbaren Konsequenzen rechnen müssen. Diese Gleichzeitigkeit ist möglich, weil der gesellschaftliche und mediale Druck schlicht nicht hoch genug ist, um hier nicht nur rhetorische, sondern reale Veränderungen durchzusetzen. Zwar gibt es in den letzten Jahren mehr polizeikritische Proteste und kluge Analysen vieler Akteur* innen, darunter antirassistische Black Lives Matter- und Migrantifa-Bewegungen, Unterstützungs- und Aufklärungsinitiativen für Opfer rassistischer Gewalt, Cop-Watch-Gruppen, Protestbündnisse gegen die Verschärfung der Polizeigesetze oder gegen die fortschreitende Überwachung, sowie engagierte Wissenschaftler*innen, Journalist* innen und Jurist*innen.

Doch laufen all diese wichtigen Initiativen zu oft nebeneinander her, ohne Berührungspunkte und Synergien. Es gibt zu wenig geteilte Analysen, kaum gemeinsames Alltags- und Bewegungswissen. Die einen reiben sich auf im Kampf gegen eine Gesetzesverschärfung, während die anderen versuchen, die Schäden zu lindern, die Menschen durch Polizeieinsätze erlitten haben. Es braucht deshalb deutlich mehr Austausch und Zusammenarbeit zwischen polizeikritischen Akteur*innen, um gemeinsame, emanzipatorische Forderungen zu stellen.

Es braucht gemeinsame Proteste, um den Druck soweit zu erhöhen, dass so etwas wie Staatstrojaner oder Taser in Polizeihänden nicht mehr durchsetzbar ist und wir stattdessen über Abrüstung und Abschaffung sprechen. Um aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln gemeinsame Forderungen´artikulieren zu können und zu wollen, braucht es eine gemeinsame Vision. Diese Vision findet sich für uns im Abolitionismus, also der Idee einer Gesellschaft, in der auf soziale Probleme und Gewalt nicht mit Kriminalisierung, Repression und Einsperrung – also mit staatlicher Gewalt – reagiert wird.

Stattdessen sollen emanzipatorische, soziale und unterstützende Alternativen geschaffen werden, die zu neuen und besseren Praktiken der Herstellung von Gerechtigkeit führen. Diese Vision steht auch für eine Gesellschaft, in der bestimmende Faktoren der Ungleichheit aufgelöst werden. Die Abschaffung staatlicher Gewalt, oder auch nur eine weitgehende Überwindung von „Polizeiproblemen“, braucht daher andere ökonomische, politische und gesellschaftliche Verhältnisse.

Nichts davon ist schnell oder einfach zu erreichen. Aber wir sehen an ähnlichen Bestrebungen in Orten weltweit, dass die gemeinsame Vision einer gerechten Welt den Raum öffnet, um sich im produktiven Streiten gemeinsam auf die Wege hin zu dieser Gesellschaft zu begeben.