Rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht die Einkesselung von unliebsamen Demonstrierenden?

Das BVerfG entschied am 2. November 2016, veröffentlicht am 14. Dezember 2016,  dass es die Klage eines Betroffenen, der am 1. Juni 2013 in Frankfurt mit fast 1.000 weiteren Personen eingekesselt wurde, nicht zur Entscheidung annimmt.

 

Kurz nach Beginn der Großdemonstration gegen das europäische Krisenregime stürmte die Polizei damals in den vorderen Teil der Demonstration und separierte eine Gruppe von fast 1.000 Demonstrierenden. Die Personalien wurden festgestellt. Erst nach neun Stunden war der Kessel aufgelöst, und die restliche Demonstration konnte zumindest noch den kurzen Weg zurück zum Bahnhof gemeinsam zurücklegen. Die Demonstration durch die Stadt hatte die Polizei mit ihrer Aktion verhindert. Allerdings – in völliger Ignoranz gegenüber dem Zusammenhalt in einer Demonstration, der von vielen Gruppen in langen Gesprächen und in schwierigen Absprachen vereinbart worden war – bot sie von vorneherein an, die „restlichen“ mehrere tausenden Demonstrierenden könnten ihre Demonstration fortsetzen.

 

Das Entsetzen über das jetzt veröffentlichte Urteil ist groß. Mit seiner Entscheidung der Nicht-Annahme scheint das BVerfG mit der eigenen Tradition seiner Beschlüsse zum Versammlungsrecht zu brechen. Ein Kessel wird gerechtfertigt, friedliche Demonstrierende müssen damit rechnen, eingekesselt zu werden und ihre Personalien feststellen zu lassen. Es soll möglich werden, dass die Polizei einen Teil einer Demonstration als gewalttätig definiert. Für diese Gruppe soll dann die Versammlungsfreiheit nicht mehr gelten. Das BVerfG zitiert auch in dieser Entscheidung die für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit so zentrale Brokdorf-Entscheidung : „Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen (BVerfGE 69,315 <361>)“.

 

Für den „schwarzen Block“, „die Autonomen“, den „antikapitalistischen Block“ oder wie auch immer die Polizei die Gefährder definiert, soll dieser Schutz also zukünftig nicht mehr gelten. Seit 1986 ist überdies wiederholt gerichtlich festgestellt worden, dass Polizeikessel rechtswidrig sind. Trotzdem wird dieses rechtswidrige Mittel wieder und wieder von der Polizei angewendet. Daran ändern auch die Schmerzensgelder, die erfolgreich eingeklagt werden konnten – zuletzt wieder für Kessel in Frankfurt – nichts. Und nun scheint die Legitimität verfassungsgerichtlich bestätigt worden zu sein. Cara Röhner und Max Pichl haben sich mit den grundlegenden juristischen Fragen befasst.

 

Wird auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht mehr stattfinden müssen? Das Gericht übernimmt ungeprüft die Beschreibung des eingekesselten Blocks wie die unteren Gerichte sie ungeprüft von der Polizei übernommen haben. Erschreckend ist also auch, dass damit erneut die polizeiliche Konstruktion von Realität zur Wahrheit gemacht worden ist. Das Gericht geht von einer „Vielzahl von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten“ aus. Tatsächlich flogen 2013 zwei Minuten vor der Einkesselung zwei Feuerwerkskörper auf eine Wiese. Erst während der Einkesselung flogen „zwei oder drei Farbbeutel“. Das Grundrechtekomitee beobachtete die Proteste und berichtete ausführlich.

 

Auch die Medien berichteten damals durchgängig, dass die Polizei „unangebracht und unverhältnismäßig“ (Süddeutsche Zeitung) agiert habe. Die FAZ meint, es habe im Vorfeld zwar „Störungen“ gegeben, es seien „aber keine Straftaten verübt worden“. Diese einhellige Einschätzung, die auch zu einer von Frankfurter Bürger*innen getragenen Demonstration gegen das polizeiliche Vorgehen eine Woche später führte, ist nun erfolgreich von der Polizei nichtig gemacht worden. Wie breit die Empörung auch in den politischen Parteien war, wird in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 6. Juni 2013 anschaulich.

 

In Vergessenheit geraten sind die genauen Umstände:

 

  • Die Ordnungsbehörde hatte den angemeldeten Demonstrationsweg zunächst nicht genehmigt. Die Demonstration sollte aus Gründen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht an der EZB entlang führen dürfen. Die Klage des Demoanmelders war erfolgreich, die Gefahr war – wie so häufig - nicht konkret belegt. Gestoppt wurde der Demonstrationszug an der Stelle, an der Versammlungsbehörde und Polizei einen anderen Weg durchsetzen wollten.
  • Die wenigen Feuerwerkskörper und Farbbeutel standen so unmittelbar im Zusammenhang mit dem Kessel, dass sie nicht Auslöser dafür sein können.
  • Die Vorwürfe der Polizei belaufen sich folglich nur darauf, dass in dieser Gruppe einige vermummt waren. Allerdings zählt die Polizei auch die bunten Schirme, die den Euro-Rettungsschirm symbolisierten, zur Vermummung. Das Verbot der Vermummung und der passiven Bewaffnung gibt der Polizei sowieso schon unverhältnismäßige Eingriffsbefugnisse, da letztlich sie je nach Situation definiert, was darunter zu verstehen ist. Rechtssicherheit gibt es in diesem Bereich nicht. Auch die wenigen „Styroporschilde“ waren keine Waffen, sondern mit Protestsprüchen bemalte Plakate. Allenfalls hätten sie ein wenig vor dem Schlagstockeinsatz geschützt. Die Plastikvisiere sind durchsichtige Plastikfolien, die Demonstrierende immer häufiger vor den Augen tragen, um sich ein wenig vor Pfefferspray zu schützen. Vom Pfefferspray betroffen waren beim damaligen Einsatz vor allem die ausgeschlossenen, nach polizeilicher Definition „friedlichen“ Demonstrierenden.
  • Nach dem Kessel am 1. Juni 2013 in Frankfurt war in dieser Stadt die Empörung über die Gewalt der Polizei noch so groß und selbstverständlich, dass die Klagen gegen Personen, die „Schutzwaffen“ bei sich führten, eingestellt wurden oder mit Freispruch endeten. Eine Richterin meinte in der mündlichen Begründung damals, es gäbe ja vielleicht auch gute Gründe, sich ein wenig gegen die polizeilichen Gewaltmittel zu schützen.
  • Dass Menschen „schwarze Oberbekleidung“ tragen, ist kein Zeichen von Gewaltbereitschaft und die von der Polizei angeführten Seile wurden zur Absicherung des Lautsprecherwagens mitgeführt, was durchaus den üblichen Sicherheitsmaßnahmen entspricht.
  • Die Polizei erweckt den Eindruck, als wäre nur ein zeitlich kurz befristeter Eingriff in die Versammlung erfolgt. Tatsächlich war der Kessel erst nach neun Stunden aufgelöst.

 

Ein enttäuschendes Urteil! Zu hoffen bleibt auf den EGMR und darauf, dass die Richter*innen der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts bei der nächsten Klage gegen unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei gegen Versammlungen nicht nur die alte verfassungsgerichtliche Perspektive zitieren, sondern auch die notwendige Prüfung vornehmen, wenn die unteren Gerichte ihren Aufgaben nicht nachgekommen sind.

 

Elke Steven