06. Juni 2023
Abschiebung / Europa / Flucht / Recht auf Asyl

Rede auf der NRW-weiten Demo „Keine Kompromisse mit der Festung Europa“ am 3. Juni 2023 in Köln

Die EU-Innenminister*innen wollen am 8. Juni 2023 über die seit Jahren verhandelte Reform des Gemeinsamen Europäische Asylsystem (GEAS) abstimmen. Anlässlich dessen fand am 3. Juni eine NRW-weite Demostration in Köln statt, auf der Michèle Winkler einen Redebeitrag hielt, der unten auch zum Nachhören bereit steht.

30 Jahre Abschaffung des Grundrechts auf Asyl

Vor nur wenigen Tagen, am 26. Mai, jährte sich die Demontage des Asyl-Grundrechts zum 30. Mal: Im Jahr 1993 wurde dieses Grundrecht mit überragender parlamentarischer Mehrheit beerdigt. Ein ergänzter Artikel 16a schließt seitdem alle Menschen vom Recht auf Asyl aus, die über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ einreisen oder aus einem vermeintlich „sicheren Herkunftsland“ kommen. Die Änderung markierte eine Zäsur: man entledigte sich eines Grundrechts, das in zeitlich naher Erinnerung an die Millionen Verfolgten während der nationalsozialistischen Herrschaft und an die Shoah in die Verfassung aufgenommen worden war. Der Bundestag und der Bundesrat gaben damit ein zentrales Lernergebnis der grauenhaften deutschen Vertreibungs- und Vernichtungsgeschichte preis: dass politisch Verfolgte einen rettenden Platz und ein Leben in Würde finden sollten.

Der Grundgesetzänderung vorausgegangen, war eine rassistische Mobilmachung durch Politik und Medien mit ihrer „das Boot ist voll“-Rhetorik. Die traumatischen und oftmals tödlichen Folgen waren unter anderem die rassistischen Anschläge in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, und vielen weiteren Orten – auch Köln! Die Grundgesetzänderung im Mai 1993 befeuerte rechte Morde und Anschläge weiter. Erst letzte Woche haben wir in Solingen auf die Lücke zwischen den Nachbarhäusern der Familie Genç geblickt und den Getöteten des Solinger Brandanschlags gedacht. Am 29. Mai 1993, nur drei Tage nach der Asylrechtsabschaffung, töteten Neonazis in Solingen die 27-jährige Gürsün İnce, die 18-jährige Hatice Genç, den 12-jährigen Gülüstan Öztürk, die 9-jährige Hülya Genç und die vierjährige Saime Genç. Siebzehn weitere Menschen erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen.

Die rassistischen Morde von Solingen blieben längst nicht die letzten. 

Die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl markierte einen Kipppunkt in der Entrechtung Schutzsuchender. Im Anschluss hat sich die deutsche Asyl- und Migrationspolitik zusehends brutalisiert: Noch im Jahr 1993 wurde mit dem sog. Asylbewerberleistungsgesetz ein Sonderrecht bezüglich Sozialleistungen erschaffen: Asylsuchende erhalten seitdem Leistungen unter dem Existenzminimum und ihnen wird der Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung verwehrt. Dieses Gesetz verrechtlichte die Ungleichheit zwischen Schutzsuchenden und der Mehrheitsbevölkerung. Mit vielen anderen Organisationen fordern wir daher derzeit die Einbeziehung aller Menschen in das reguläre Sozialleistungssystem. 30 Jahre Entwürdigung durch das Asylbewerberleistungsgesetz sind 30 Jahre zuviel!

Deutschland hat sich rechtlich gegen Schutzsuchende abgeschirmt. Den Schutzstatus des Asyls gemäß dem ergänzten Artikel 16a des Grundgesetzes erhält heute kaum noch jemand. Mit dem Konzept der sogenannten „Drittstaatenregelung“ umgibt sich die Bundesrepublik quasi mit einer Art Mauer von Staaten, die sie vor Asylantragstellungen „bewahrt“. Die aktuell geltende Dublin-III-Verordnung zwingt Menschen dazu, Asyl dort zu beantragen, wo sie als erstes in die EU einreisen. In der aktuell auf Europäischer Ebene diskutierten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) soll das Konstrukt „sichere Drittstaaten“ weiter verschärft werden.

Auch die Liste der vermeintlichen „sicheren Herkunftsländer“ wächst stetig. Der Name trügt und hat nichts mit den reellen Sicherheits- oder Menschenrechtslagen zu tun. Die Festlegung, welches Land als sicher gelten soll, folgt politischen Interessen, dient der Abschreckung und vereinfachten Abschiebung. Notsituationen wie Armut, Bürgerkrieg, Hunger, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit sind als Gründe für eine Asylgewährung grundsätzlich ausgeschlossen, da diese nicht als individuelle Verfolgung gelten. Diese Einschränkung zwingt Menschen bei Antragstellung dazu, ihre Fluchtgründe an die wenigen anerkannten Optionen anzupassen – eine entwürdigende Prozedur, die oft genug trotzdem zur Ablehnung führt.

Viele Menschen kommen indes gar nicht bis zur Antragstellung in einem EU-Mitgliedsstaat. Sie scheitern weit vorher an den Außenposten des vorverlagerten EU-Grenzregimes: Verdurstet in der Sahara oder ertrunken im Mittelmeer, jahrelang inhaftiert in Gefängnissen oder zum Warten verdammt in Lagern, die immer mehr Gefängnissen gleichen, schafft nur ein Bruchteil von Menschen es überhaupt zum gewünschten Ziel.

Für das Leiden und Sterben an Europas Grenzen sind weder Naturgewalten verantwortlich, noch die gern zitierten Schlepper oder gar die zivile Seenotrettung, sondern eine Politik, die Menschen zwingt, ihr Leben zu riskieren, auf der Suche nach Schutz und einem würdigen Leben. Auch das harsche Europäische Visa-Regime trägt Anteil am Fehlen legaler Einreisewege für Menschen auf der Suche nach Schutz und Perspektiven: Ein Visum erhält nur, wer umfassende finanzielle Mittel vorweisen und glaubhaft machen kann, Deutschland wieder zu verlassen – vorausgesetzt, es gibt überhaupt eine Chance auf einen raren Botschaftstermin.

In Anbetracht des täglichen, vielfachen Unrechts des EU-Grenzregimes, das die koloniale Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen aus dem Globalen Süden fortführt, um den Wohlstand des Globalen Nordens zu sichern, treten wir ein für legale Einreisewege und das Recht zu Bleiben! Der Dystopie der Abschottung und Brutalisierung setzen wir eine Vision einer Welt ohne Grenzen und Grenzregime entgegen; eine Welt globaler Bewegungsfreiheit, in der das Kommen und Bleiben als Menschenrecht gelten; einer Welt, die für alle gerecht und lebenswert ist!

  • Wir fordern die Abschaffung von Frontex und weitere Grenztruppen!
  • Wir fordern die Abschaffung des Visaregimes!
  • Wir fordern einen Stopp der Kriminalisierung von Flucht!
  • Wir fordern die Auflösung aller Lager!
  • Wir fordern die Abschaffung des Abschiebungsregimes!
  • Wir fordern die Verwirklichung gleicher Rechte für alle!
  • Wir machen keine Kompromisse mit der Festung Europa!