28. Apr. 2022 © pxhere
Abolitionismus / Armut / Corona / Gefangenenunterstützung / Soziale Menschenrechte / Strafrecht

Sammelgnadenerlass Ersatzfreiheitsstrafe: Offener Brief an Berliner Justizsenatorin Kreck

Initiiert vom Justice Collective (Kollektiv für Gerechtigkeit) und zusammen mit vielen weiteren Gruppen haben wir der Berliner Justizsenatorin einen Offenen Brief übergeben, mit der Aufforderung, sich für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe einzusetzen. Zudem soll sie die in der Coronapandemie ausgesetzten Haftantritte von Ersatzfreiheitsstrafen dauerhaft mithilfe einer Amnestie („Sammelgnadenerlass“) erlassen.

Der offene Brief im Worlaut:

Sehr geehrte Senatorin Prof. Dr. Kreck,

wir, die unterzeichnenden Gruppen und Einzelpersonen (u.a. aus den Bereichen Sozialarbeit, Strafrecht und -politik und Wissenschaft, und Aktivist*innen), fordern eine unbefristete Verlängerung der COVID-19-Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe und einen vollständigen Gnadenerlass für alle, denen eine Ersatzfreiheitsstrafe droht.

Zudem fordern wir Sie dazu auf, ihre Position zu nutzen, um sich auf der Justizminister*innen-Konferenz im Juni 2022 für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe einzusetzen.

Wir richten uns an Sie in Ihrem Amt als Senatorin für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung des Landes Berlin, da es Ihnen obliegt, einen solchen Erlass auszustellen. Zudem sind Sie beauftragt, ein gerechtes und demokratisches Justizsystem auf- und auszubauen. Das heißt, Sie tragen die Verantwortung dafür, gegen die akuten Ungerechtigkeiten der Ersatzfreiheitsstrafe vorzugehen.

Die Pandemie hat gezeigt: Die Ersatzfreiheitsstrafe kann ausgesetzt werden und das Justizsystem funktioniert – sogar gerechter. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist eine ungerechte Strafe, die gegen mittellose Menschen verhängt wird. Eine solche Politik  kann in Deutschland keinen Bestand haben. Aufgrund der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Unsicherheiten, die sowohl die aktuell dramatisch steigenden Lebenshaltungskosten als auch die andauernde Pandemie mit sich bringen, ist dies ein Anliegen, das mit höchster Dringlichkeit behandelt werden sollte.

2020 wurde die Ersatzfreiheitsstrafe in Berlin pandemiebedingt ausgesetzt – anderen Bundesländern folgend, soll die Praxis nun wieder aufgenommen werden. An erster Stelle geben wir zu bedenken, dass die COVID-19-Pandemie nach wie vor andauert. Dies zieht eine Reihe von Besorgnissen mit sich – insbesondere für Personen, denen jetzt die Vollstreckung ihrer Ersatzfreiheitsstrafe droht, doch auch für die öffentliche Gesundheit.

Die Ersatzfreiheitsstrafe verordnet Menschen dazu, Haftstrafen abzusitzen, nachdem sie bereits Leid durch das Warten auf ihre Haftstrafe erfahren haben, wie Studien belegen. Außerdem zeigen diese Studien, dass viele Betroffene etwa bei der Arbeits- oder Wohnungssuche nicht in der Lage gewesen sind, für die Zukunft zu planen.

Erfahrungsberichte aus anderen Bundesländern, die die Ersatzfreiheitsstrafe wieder jüngst eingesetzt haben, zeigen, dass Personen, die die Covid-19-Pandemie besonders stark getroffen hat, und Personen, die gerade wieder Fuß fassen und Jobs finden, aus wiedergewonnen Strukturen gerissen werden.

Wir können auch beobachten, dass zuvor abgelehnte Gnadengesuche oder Stundungsanträge nicht erneuert werden können, obwohl sich die Lebensumstände bisweilen gewandelt haben (bspw. neue Jobs, Schwangerschaften, o.ä.). Auch wenn sich die Finanzmärkte womöglich mittlerweile von der Pandemie erholt haben: vielen Menschen geht es nicht so.

Personen aus ihrem Leben zu reißen, damit sie Gefängnisstrafen verbüßen, wird sowohl für diese Menschen als auch für die Gefängnisse eine Herausforderung darstellen. Die Unterstützung, die diese Menschen benötigen, ist nicht in Gefangenschaft zu finden. Pandemiebedingte Risiken bestehen auch weiterhin für derzeit inhaftierte Menschen, sowie für die Allgemeinheit, wenn Menschen ins öffentliche Leben zurückkehren, nachdem sie sich womöglich unter Inhaftierungsbedingungen angesteckt haben.

Der Bundesgesundheitsminister hält nach wie vor an der Quarantänepflicht infizierter Personen fest und warnt vor neuen Varianten. Eine derzeitige Wiedereinführung der Ersatzfreiheitsstrafe würde die Zahl der inhaftierten Personen deutlich erhöhen und damit die allgemeine gesundheitliche Situation verschlimmern. Der Krieg in der Ukraine droht zudem, die Energie- und Lebensmittelpreise nachhaltig in die Höhe zu treiben.

Dies wird besonders bei armutsbetroffenen und -gefährdeten Menschen zu einer gefährlichen Verschärfung prekärer Lebensverhältnisse führen und dürfte sich als logische Konsequenz auch auf die Zahlen der Ersatzfreiheitsstrafen auswirken. Kurzum: Es ist nach wie vor schlecht für die Gesundheit und die gesellschaftliche Stabilität der Stadt Berlin, wenn Menschen wegen Geldschulden ins Gefängnis gehen. In Anbetracht der Situation ist die Wiederaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe daher nicht zu rechtfertigen. 

Dies ist insbesondere der Fall, da die Ersatzfreiheitsstrafe schon vor Pandemiezeiten ungerecht und unmenschlich gewesen ist. Aus diesem Grund ist die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe eine seit langer Zeit vertretene Position der Partei Die Linke. Nun zu den Gründen: Erstens treffen die schwerwiegenden Folgen der Ersatzfreiheitsstrafe vor allem mittellose Menschen.

Der dramatischste Fall von Armutsbestrafung durch Inhaftierung ist in Berlin das Fahren ohne Fahrschein. Mehr als die Hälfte aller Ersatzfreiheitsstrafen in der Stadt entfallen auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein. Mit dem 9-Euro-Ticket entsteht hier eine noch härtere Ungerechtigkeit: Die Bundesregierung erkennt nun die hohen Lebenshaltungskosten in Deutschland an und die damit verbundene zunehmende Schwierigkeit für viele, sich öffentliche Verkehrsmittel zu leisten.

Doch ohne Amnestie werden viele Menschen dafür ins Gefängnis gehen, dass sie Fahrscheine nicht bezahlt haben – und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem vielen Personen mit deutlich größeren Mitteln ein fast kostenloser Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglicht wird. Für viele kommt das 9-Euro-Ticket zu spät, mit lebensverändernden Folgen.

Sogenannte „Beförderungserschleichung“ sorgt für etwa 40.000 der 550.000 Bußgeldfälle pro Jahr. Sie ist jedoch bei weitem nicht die einzige Straftat, die mit Armut zusammenhängt: Bagatelldiebstähle stellen etwa 60.000 weitere dieser Fälle, und niedrigschwelliger Betrug (wie z. B. Sozialleistungsbetrug) Zehntausende weitere. Angesichts der Wirtschaftslage und der nachweislich zu niedrigen Hartz IV-Beträge, können sich viele Menschen das Lebensnotwendige nicht leisten. Dementsprechend können sie auch ihre Geldstrafen erschwert zahlen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Untersuchungen belegen, dass Straftaten, die aus Armut resultieren, eher in einer Ersatzfreiheitsstrafe enden. Zweitens ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass alle Personen, die mit einer Ersatzfreiheitsstrafe bestraft werden, unabhängig von der Straftat zunächst von einem Gericht nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden.

Sie wurden nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Gericht hielt also eine Geldstrafe für ausreichend, um die Person zur Verantwortung zu ziehen. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist daher eine zusätzliche – und bei der Urteilssprechung nicht gesprochene – Strafe für Menschen, die das Pech haben, diese Geldstrafe nicht bezahlen zu können.

Bei der überwiegenden Mehrheit der Fälle, in denen Geldstrafen verhängt werden, handelt es sich um sehr geringfügige Delikte, die deutlich unter der Höchstzahl der Tagessätze liegen, für die eine Geldstrafe empfohlen wird. Fast die Hälfte der Fälle betrifft Urteile von 30 Tagen oder weniger, weitere knapp 50% 90 Tage oder weniger.

Die Straftaten, für die Menschen inhaftiert werden, sind meist von sehr geringer Schwere, unabhängig von der Art der Straftat. Umso schockierender ist es, wenn Menschen im Gefängnis landen, weil sie ihre Geldstrafen nicht bezahlt haben. Daher sollte das Gefängnis nicht die Ultima Ratio für solche Straftaten sein.  Schließlich ist die Ersatzfreiheitsstrafe in der Praxis wenig sinnvoll.

Während der Pandemie hat die Stadt die Vollstreckung aufgeschoben, und erkannte damit an, dass dies nur ein geringes Risiko für die öffentliche Sicherheit darstellte. Die Stadt lag mit dieser Einschätzung richtig. In den vergangenen zwei Jahren hat sich erwiesen, dass das Justizsystem ohne die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe funktioniert.

Es überrascht nicht, dass Deutschland ohne die Ersatzfreiheitsstrafe gute Erfahrungen gemacht hat: So wird beispielsweise im schwedischen Tagessatzsystem fast keine Inhaftierung zur Durchsetzung von nicht gezahlten Geldbußen eingesetzt. In Schweden werden Menschen nur dann inhaftiert, wenn sie nicht bereit sind zu zahlen. Im Jahr 2019 traf dies auf 13 Personen zu.

Wenn Menschen nicht zahlen können, werden die Geldstrafen nach fünf Jahren erlassen.

Studien zeigen eindeutig, dass die Androhung von Haft selten dazu führt, dass Menschen ausbleibende Strafen zahlen (können). Bestenfalls bringt es sie dazu, Geld von ebenfalls mittellosen Bekannten aufzutreiben und die eigene Schuldenfalle auszuweiten – eine Realität, die nicht im Sinne der „Gerechtigkeit“ ist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Argumente für die Ersatzfreiheitsstrafe sich zwar oft darauf beziehen, dass das Verhängen einer Strafe den Gerichten obliegt. Allerdings verhält es sich im Falle der Ersatzfreiheitsstrafe so, dass ein Gericht bereits entschieden hat, dass eine Geldstrafe ausreicht.

Zudem zeigen Studien, dass die Inhaftierung einer mittellosen Person wenig dazu beiträgt, diese Person zur Verantwortung zu ziehen: Sie wird nur noch mehr bestraft. Für uns heißt das: Ersatzfreiheitsstrafen sollten abgeschafft werden.

Wir bekräftigen unsere Forderung nach einem anhaltenden Vollstreckungsstopp und einem Sammelgnadenerlass für alle Personen mit ausstehenden Geldstrafen. Die Verlängerung macht Sinn angesichts der anhaltenden Pandemie und der Art und Weise, wie die Vollstreckung bestehende und wachsende Ungerechtigkeiten verschärft – und sie liegt im Zuständigkeitsbereich der städtischen Regierung.

Wir zählen auf Ihre Unterstützung und stehen jederzeit für ein Gespräch bereit.

Sie erreichen uns unter mitali@justice-collective.org.

Mit freundlichen Grüßen, Mitali Nagrecha, Justice Collective
 

Unterzeichnet von
AG Straße Linke Neukölln
Berlin Obdachlosenhilfe e.V.
#BVGWeilWirUnsFürchten
CrimScapes Forschungsgruppe
Entknastung - Naturfreundejugend Berlin
EXIT-EnterLife e.V.
freiheitsfonds
Gefangenen Gewerkschaft / Bundesweite Organisation (GG/BO)
Ihr Seid Keine Sicherheit
Justice Collective
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Netzwerk Abolitionismus
Tatort Zukunft e. V.
Dr. Vanessa Eileen Thompson, Assistant Professor in Black Studies, Queen’s University, Kingston,
Canada
trans* Ratgeber Kollektiv