23. Feb. 2022
Corona / Gesundheit / Soziale Menschenrechte

"So erwerbsfähig wie möglich, so gesund wie nötig". Interview mit der Poliklinik in Leipzig

Lieber Jonas, was ist die Idee hinter dem Poliklinik-Netzwerk?

Die Idee ist, ein Gesundheitszentrum zu schaffen, wo verschiedene Berufsgruppen zusammenkommen – etwa aus der Medizin, der Psychologie, der sozialen Arbeit und der Pflege. Die kurzen Wege ermöglichen eine interdisziplinäre Arbeit, die einen ganzheitlichen Gesund- Heitsanspruch verfolgt. Dazu wollen wir auch in die Stadtteile hineinwirken. Man bearbeitet so die individuellen Probleme, aber will gleichzeitig Kollektiv auch ein Umfeld schaffen, das gesundheitsfördernd wirkt. Wenn jemand beispielsweise Schimmel in der Wohnung hat, hat das natürlich auch Auswirkungen auf seine Gesundheit. Wir wollen die Erkrankung durch den Schimmel heilen, aber auch dafür kämpfen, dass es überhaupt keine schlechten Wohnungen mit Schimmel gibt.

Inwiefern kann das Konzept in einer Pandemie helfen?

Konkret standen wir vor der Herausforderung, dass wir im März 2020 in Leipzig-Schönefeld die Arbeit aufgenommen haben und gleichzeitig die Pandemie einschlug. Wir haben dann beispielsweise die Corona-Verordnung übersetzt und ein lokales Solidaritätsnetzwerk mit aufgebaut. Ansonsten sind wir überzeugt: Wenn solche Zentren wie das unsere gut im Stadtteil ver-ankert sind, besteht auch ein niedrig- schwelligerer Zugang für Menschen zum Gesundheitssystem, die aktuell durch das Raster fallen. Das ist wichtig in der Pandemie, aber auch darüber hinaus. Es gilt schließlich, das Gesundheitssystemlangfristig zu verändern.

Wohin soll sich das Gesundheitssystem verändern?

Das Gesundheitssystem muss sich in seiner Grundausrichtung ändern: Es muss demokratischer, bedürfnisorientierter und gemeinnützig werden. Der Fokus muss sich von Behandlung und Therapie auf Prävention und Gesundheitsförderung verschieben. Gerade werden Risiken wie Krankheit und Armut individualisiert, dabei ist Gesundheit eine gesamtgesellschaftliche und politische Aufgabe.

Welche Logik siehst du hinter der staatlichen Coronapolitik?

Grundsätzlich scheint sich die Logik an der Aufrechterhaltung der Wirtschaft auszurichten. Aber das ist im Gesundheitssystem im Prinzip nichts Neues. Hier geht es stets darum, die Menschen so erwerbsfähig wie möglich und so gesund wie nötig zu halten. Eine eindimensionale körperliche Gesundheit wird so derzeit zwar von der Regierung mitgedacht; anderes, wie die psychische Gesundheit, fällt jedoch herunter.

Welche psychischen Auswirkungen der Pandemie nehmt ihr wahr?

Der Bedarf an psychosozialer Beratung ist stark angestiegen. Er übersteigt bei Weitem unsere Kapazitäten. Themen sind beispielsweise die Einsamkeit alter Menschen oder eine Doppelbe- lastung durch Lohnarbeit und Kinderbetreuung. Das sind aber auch nur die Fälle, von denen wir wissen.

Derzeit wird viel über eine Impfpflicht diskutiert. Was denkst du darüber?

Wir haben als Träger dazu keine gemeinsame Position. Persönlich bin ich zwiegespalten. Ich weiß nicht, ob sie mittlerweile notwendig ist oder noch Zeit für andere Maßnahmen besteht. Mit einer rechtzeitigen umfassenden und niedrigschwelligen Impfkampagne wäre sie jedenfalls vermeidbar gewesen. Bremen ist hier als ein positives lokales Beispiel zu nennen. Ich glaube aber generell, dass nur ein kleiner Teil der ungeimpften Menschen ideologisch bewusste Impfverweiger*innen sind. Die wird man nicht mehr überzeugen, da nützt auch eine Pflicht wenig.

Was ist mit den anderen?

Wir merken bei den Gesprächen immer wieder, dass viele Menschen schon seit einer langen Zeit nicht mehr vom Gesundheitssystem erreicht werden. Sie haben keine Hausärzt*innen, kein Vertrauen und auch keinen Zugang zu den Strukturen. Dazu kommen möglicherweise noch schlechte Erfahrungen und sprachliche Barrieren. Es gibt gleichzeitig sehr wenig Angebote, sich in Ruhe verständlich über die Impfung zu informieren.

Welche Rolle spielt Klassenzugehörigkeit bei diesen Menschen?

Bei Menschen, die sich bewusst den Impfungen verweigern, spielt die KlasSenzugehörigkeit wohl keine Rolle, das zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig kann man aber sicher sagen, dass Menschen mit einem schlechten sozioökonomischen Status auch einen schlechteren Zugang zu Impfungen haben. Je prekärer die Arbeits- und Lebensbedingungen von Menschen sind, desto prekärer ist auch ihr Gesundheitsschutz und desto starker sind sie in der Pandemie gefährdet.

Das Interview führte Sebastian Bähr mit dem Sozialarbeiter Jonas Löwenberg. Löwenberg arbeitet in der Poliklinik in Leipzig. Die Gruppe gehört zum bundesweiten Poliklinik-Syndikat mit dem Gesundheitskollektiv Berlin und dem Gesundheitskollektiv Dresden