18. Aug. 2011
Repression / Strafrecht

Stellungnahme zum Vollzug der Untersuchungshaft in Schleswig-Holstein

Deutschland steht noch immer in dem Ruf, Beschuldigte zu oft und zu lange in Untersuchungshaft zu halten, auch wenn die Zahlen der U-Gefangenen seit einigen Jahren rückläufig sind. Es gibt immer wieder Berichte über sog. „apokryphe“ Haftgründe, über den Missbrauch der U-Haft als Beugehaft, zur Krisenintervention oder als Sanktionsvorwegnahme. Dies kann der Landesgesetzgeber im Vollzugsrecht zwar nicht ändern, vor diesem Hintergrund muss aber der vollzugsrechtlichen Umsetzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) um so größere Bedeutung zukommen. Das ist in dem vorliegenden Entwurf nicht durchweg gelungen.

Das Grundrechte-Komitee steht seit vielen Jahren in Kontakt mit zahlreichen Gefangenen, es gibt einen regen Briefverkehr, auch mit U-Gefangenen. Dabei ist wiederholt deutlich geworden, dass die Haftbedingungen gerade in der U-Haft oft als deutlich härter empfunden werden, als diejenigen im sog. ‚Normalvollzug‘. Das hat auch etwas mit der akuten Inaftierungssituation zu tun (s. u. 2. k), ist aber wohl oft auch auf die realen Vollzugsbedingungen (Unterbringung, Arbeits- und Freizeitbedingungen, Gesundheitsversorgung etc.) zurückzuführen. Es entsteht das Bild eines Vollzuges, der im Hinblick auf die Standards hinter den allgemeinen Strafvollzug zurückfällt, obwohl er im Hinblick auf das Prinzip der Unschuldsvermutung gerade privilegiert sein müsste. Es liegt in der Verantwortung der Landespolitik, im vorliegenden Zusammenhang gerade auch des Landesgesetzgebers, hier für Abhilfe zu sorgen. Auch das leistet der vorliegende Entwurf nicht hinreichend.

Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft in Schleswig-Holstein (LT-Drs 17/1255) vom 02. 02. 2011

1. zu Einzelregelungen

a) zur Aufgabe des U-Haft-Vollzuges (§ 2)

Der Vollzug hat – anders als § 2 dies zum Ausdruck bringt – in der Regel nicht die Aufgabe, der „Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen“. Wenn überhaupt, könnte dies allenfalls für Haftbefehle gemäß § 112a StPO wegen Wiederholungsgefahr gelten. Das Abstellen auf „weitere“ Straftaten ist im Übrigen nicht mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung (vgl. § 4 Abs. 1, s.u.) zu vereinbaren.

b) zur Unschuldsvermutung (§ 4)

Die Geltung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) darf nicht relativiert werden. Deshalb ist nicht nur – selbstverständlich – „der Anschein“ zu vermeiden, Untersuchungsgefangene würden zur Verbüßung einer Strafe festgehalten, sondern es muss überhaupt vermieden werden,  dass die U-Haft zur Strafe wird.

c) zur sozialen Hilfe (§ 6)

Der „Ausgleich mit dem Tatopfer“ mag in geeigneten Fällen ein erstrebenswertes Ziel sein, muss aber strikt von der Freiwilligkeit des U-Gefangenen abhängig gemacht werden und bedarf der Einschaltung der Verteidigung. Es ist daran zu erinnern, dass als Kehrseite der Unschuldsvermutung „das Tatopfer“ noch gar nicht zweifelsfrei feststeht.

d) zur Aufnahme (§ 7)

Dass mit den Gefangenen „unverzüglich“ ein Aufnahmegespräch geführt wird, dass sie aber erst „alsbald“ ärztlich untersucht werden sollen, irritiert. Der Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (LT-Drs 17/1322), hier „umgehend“ o.ä. an die Stelle zu setzen, ist zu begrüßen. Es ist nicht akzeptabel, dass U-Gefangene keine Gelegenheit erhalten, Angehörige oder Vertrauenspersonen von der Aufnahme in die Anstalt zu benachrichtigen, weil eine verfahrenssichernde Anordnung entgegensteht.

e) zu den Trennungsgrundsätzen (§ 11)

Das Prinzip der Trennung zwischen U- und Straf-Gefangenen folgt zwingend aus dem Prinzip der Unschuldsvermutung. Die in § 11 vorgesehenen Ausnahmen (vier an der Zahl) lassen von diesem Prinzip nicht mehr viel übrig.

f) zur Gemeinschaftsunterbringung (§§ 12, 13)

Dass U-Gefangene sich in der Freizeit in Gemeinschaft mit anderen Gefangenen aufhalten dürfen, sollte die Regel sein; warum dies nur „gestattet“ werden „kann“ und unter welchen Voraussetzungen dies sollte verweigert werden dürfen, ist nicht nachvollziehbar. Der diesbezügliche Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (LT-Drs 17/1322) ist vorzugswürdig. Wenn U-Gefangene „gefährdet oder hilfsbedürftig“ sind, benötigen sie professionelle Hilfe: Die gemeinschaftliche Unterbringung mit Mitgefangenen gegen (bzw. ohne) ihre Zustimmung ist keine angemessene Lösung. Das jene Mitgefangenen dem zustimmen müssen (so der Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in LT-Drs 17/1322), sollte selbstverständlich sein, löst das Problem aber nicht.

g) zur Kleidung (§ 17)

Es mag dahinstehen, ob die sog. „Anstaltskleidung“ für Strafgefangene akzeptabel ist; für U-Gefangene sollte sie – gerade auch in Ansehung der Unschuldsvermutung – indiskutabel sein. Die Ausnahme vom Recht, eigene Kleidung zu tragen, ist deshalb abzulehnen.

h) zur ärztlichen Versorgung (§§ 20-23, 82)

Hier (oder – wie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen [LT-Drs 17/1322)] vorgeschlagen – in § 5) sollte deutlich werden, dass der Verhütung von Selbsttötungen oder -verletzungen gerade in der U-Haft eine besondere Bedeutung zukommt. Eine eben solche Bedeutung kommt der Gesundheitsvorbeugung zu, gerade auch im Hinblick auf Drogenprobleme und Infektionsprophylaxe. Dies sollte im Gesetz verankert werden. Dass U-Gefangene mindestens das Recht haben müssen, „externen ärztlichen Rat einzuholen“ (die Inanspruchnahme externer ärztlicher Behandlung ist ebenso berechtigt), sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Dies davon abhängig zu machen, die externen Ärzte von der Schweigepflicht dem ärztlichen Dienst gegenüber zu entbinden (§ 22 Abs. 6), ist – zumal in Anbetracht der Offenbarungspflicht gemäß § 92 Abs. 2 S. 2 – nicht hinnehmbar.

i) zu Arbeitsentgelt und Taschengeld (§ 25)

Die Bemessung der Eckvergütung (5%) ist weiterhin skandalös gering. Der Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (LT-Drs 17/1322) ist ein – wenn auch kleiner – Schritt in die richtige Richtung. Das Taschengeld nur „darlehensweise“ auszuzahlen (Abs. 7), ist abzulehnen, ganz abgesehen davon, dass es ein Widerspruch in sich ist, denn ein „Taschengeld“ wird niemals darlehensweise gewährt. „Bedürftige“ Gefangenen mit (wenn auch geringen) Schulden zu belasten, ist kontraproduktiv.

j) zum Rundfunkempfang (§ 28)

Das Recht zum Hörfunk- und Fernsehempfang ist verfassungsrechtlich essentiell. Diesen Rundempfang auszusetzen (wenn auch nur „vorübergehend“), ist nicht akzeptabel; dass dies zur Umsetzung einer verfahrenssichernden Anordnung (in § 119 StPO nicht vorgesehen!) oder gar zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt „unerlässlich“ sein soll, ist nicht vorstellbar.

k) zum Besuchs- und Telefonrecht (§§ 33-35, 40)

Die Inhaftierung nach vorläufiger Festnahme aufgrund eines Haftbefehls reißt die Betroffenen in den allermeisten Fällen völlig unvorbereitet aus allen sozialen Bezügen. Insbesondere in den ersten Tagen und Wochen der U-Haft haben die Betroffenen gerade auch unter der Trennung von Angehörigen und engen Vertrauten besonders zu leiden. Vor diesem Hintergrund ist ein Besuchsrecht von zwei Stunden im Monat völlig unzureichend. Auch wenn es sich dabei ‚nur‘ um ein Mindestrecht handelt, wäre ein weitergehender Besuchsanspruch auf das Wohlwollen der Anstalt angewiesen und juristisch nicht durchsetzbar. Dass Angehörigenbesuche „besonders gefördert“ werden sollen, ändert daran nichts. Warum nur bei jungen U-Gefangenen die Besuche ihrer Kindern nicht auf die Besuchszeit angerechnet werden (§ 72 Abs. 2) ist nicht nachvollziehbar. In Anbetracht der umfangreichen Überwachungsmöglichkeiten (Absuchung, Durchsuchung, optische und akustische Überwachung, Abbruchmöglichkeit) ist es nicht vertretbar, darüber hinaus Besuche grundsätzlich zu untersagen (§ 33 Abs. 4; für Telefonate gilt gemäß § 40 Entsprechendes). Die Überwachungsmaßnahmen gehen aber auch unabhängig davon zu weit, gerade auch in puncto optische Überwachung mit technischen Hilfsmitteln. Wie durch eine akustische Überwachung  eine „schwerwiegende Störung“ der Anstaltsordnung abgewendet werden soll, ist ohnehin unerfindlich. Wenn schon der Haftrichter keine solche Anordnung trifft, sollte sich die Anstalt zurückhalten.

l) zum Recht auf Schriftwechsel (§§ 36-39, 41)

Zum Recht auf Schriftwechsel gilt Ähnliches wie zu den Besuchen: In Anbetracht der zahlreichen Befugnisse zur Überwachung (§ 37) und zum Anhalten (§ 39) von Schreiben ist nicht einsehbar, warum darüber hinaus der Schriftwechsel mit bestimmten Personen ganz untersagt werden soll (§ 36 Abs. 2). Für Gefangene hatten Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln in der Vergangenheit eine große Bedeutung. Dass das Recht zum Empfang solcher Pakete in immer mehr Bundesländer beseitigt wird, ist zu kritisieren, denn hier wird einseitig das vollzugliche Kontrollinteresse (genauer: das Interesse, den Kontrollaufwand zu reduzieren) über die Interessen der Gefangenen gestellt.

m) zu Ab-/Durchsuchung (§ 44)

Die Vorschrift lässt nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen von den Durchsuchungsbefugnissen Gebrauch gemacht werden darf. Besonders bedenklich erscheint dies im Hinblick auf körperliche Durchsuchungen, die mit Entkleidung verbunden sind (Abs. 2). Das Mindeste wäre, dem Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (LT-Drs 17/1322) zu folgen.

n) zur Videoüberwachung (§§ 46, 49)

Das zunehmende Umsteigen auf technische (optische, z.T. auch akustische) Überwachung ist grundsätzlich problematisch und belastet das Verhältnis zwischen Gefangenen und Personal zusätzlich, zumal es häufig auf Personaleinsparungen zurückzuführen ist. Außerdem begründen technische Überwachungsmaßnahmen immer den Verdacht der Aufzeichnung und anderweitigen Verwendung, weshalb damit – ungeachtet einschlägiger Datenschutzbestimmungen – Ängste geschürt werden. Die technische Überwachung von Hafträumen muss ungeachtet dessen ausgeschlossen sein; die Regelungen in §49 Abs. 2 sind insoweit bedenklich, insb. erscheint die Nr. 2 (technische Beobachtung) missverständlich.

o) Schusswaffengebrauch (§ 59)

Der Schusswaffengebrauch in Gefängnissen ist grundsätzlich abzulehnen, im Jugendvollzug hat er auch nach internationalen Vorgaben grundsätzlich auszuscheiden, eine entsprechende Klarstellung fehlt in den §§ 66 ff.

p) zu den Disziplinarmaßnahmen (§§ 60 ff., 75)

Es ist zu begrüßen, dass (anders als etwa in § 102 StVollzG) abschließend aufgelistet wird, aus welchem Anlass eine Disziplinarmaßnahme verhängt werden darf. Der dabei entstandene Katalog geht allerdings sehr weit, wenn etwa auf „verbale Angriffe“ und im Rahmen einer Generalklausel (§ 60 Abs. 1  Nr. 8) darauf abgestellt wird, dass Gefangene „in sonstiger Weise wiederholt und schwerwiegend gegen die Hausordnung verstoßen oder das Zusammenkleben in der Anstalt stören“; damit wird auch der Wert eines abschließenden Katalogs gemindert. Aus guten Gründen steht die Flucht oder ein Fluchtversuch nicht unter Strafe; dass sie der Anstaltsstrafgewalt unterliegen, ist deshalb nicht in Ordnung. In Fällen erhöhter Fluchtgefahr hat der Gefangene ohnehin besondere Sicherungsmaßnahmen zu erdulden.

Gegen junge U-Gefangene sollten Disziplinarmaßnahmen grundsätzlich ausgeschlossen sein, gerade auch dann, wenn gegen sie erzieherische Maßnahmen eingesetzt werden. Der Arrest (wenn auch gemäß § 75 Abs. 5 S. 2 verkürzt) ist mit internationalen Standards nicht vereinbar.

q) zur U-Haft für junge Gefangene (§§ 66 ff.)

Bei der Vollzugsgestaltung darf gerade auch in puncto ‚erzieherische Ausgestaltung‘ nicht vergessen werden, dass auch für junge U-Gefangene die Unschuldsvermutung gilt! Die Jugend-U-Haft ist weder einer geschlossene Unterbringung im Sinne des SGB VIII noch eine vorweggenommene Jugendstrafe. Die Ausgestaltung als  Zwangserziehung verbietet sich. Bedenklich sind deshalb auch über die §§ 33 ff. und 37 ff. hinausgehende Einschränkungen der Kommunikationsrechte zur Abwendung vermeintlich „schädlicher Einflüsse“.

r) zur Belegung (§ 77)

Eine auch nur vorübergehende Überbelegung von Hafträumen (Abs. 3) ist abzulehnen.

3. weitere Fragen

Das Gesetz soll gemäß § 1 Abs. 2 auch für andere, der U-Haft vergleichbare Vollzugsarten gelten. Dazu zwei Anmerkungen:

- der pauschale Verweis auf § 453c StPO erscheint problematisch, wenn es sich um einen Sicherungsunterbringungsbefehl gemäß § 463 Abs. 1 StPO handelt, der im Maßregelvollzug vollzogen wird - dann wäre die entsprechende Anwendung des Maßregelvollzugsrechts sachgerechter;

- der Vollzug der einstweiligen Unterbringung gemäß § 126a StPO findet hier – sachlich angemessen – keine Erwähnung, was sich im Hinblick auf § 126a Abs. 2 StPO aber keineswegs von selbst versteht, da dort auch auf § 119 StPO verwiesen wird. Nach der Neufassung des § 119 StPO ist der Vollzug gemäß § 126a StPO weit gehend ungeregelt. Die bisherigen Regelungen im Schleswig-Holsteinischen Maßregelvollzugsgesetz (MVollzG) lösen die offenen vollzugsrechtlichen Fragen (wenn auch ausführlicher und problembewusster als in anderen Landesgesetzen) letztlich auch nicht angemessen, zumal das MVollzG der neuen Rechtslage angepasst werden müsste (ausf. dazu der Beitrag des Unterzeichners in >Recht & Psychiatrie< 2011 Heft 3 S. 140-151, in Druck).

für das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

Dr. iur. habil. Helmut Pollähne, Bremen (Mitglied des Vorstands)