06. Okt. 2004
Rechtsstaatlichkeit / Repression

Strafe ohne Urteil

Am 29. November beginnt vor der Audiencia Nacional, dem zentralen spanischen Strafgericht, der Prozess gegen Gabriele Kanze. Bis dahin wird die 48jährige Berliner Lehrerin zwei Jahre und acht Monate Auslieferungs- und Untersuchungshaft hinter sich haben. „Ich bin froh, dass endlich etwas passiert“, schrieb Gabriele Kanze im Juni aus der Untersuchungshaft in Brieva in der spanischen Provinz Avila. Im März 2002 war sie beim Grenzübertritt in die Schweiz verhaftet worden. Im Januar 2003 wurde sie nach Spanien ausgeliefert und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Nach spanischem Prozessrecht kann diese bei Delikten mit hohem Strafrahmen zwei Jahre, also bis Januar 2005, dauern, ohne dass eine weitere Haftprüfung vonnöten wäre. Die spanischen Justizbehörden konnten sich also Zeit lassen und haben dies auch getan. Vom Dezember 2003 datiert die dünne Anklageschrift, die Gabrieles Anwältinnen erst im April vorgelegt wurde. Nach einigen Verzögerungen ist der Prozesstermin nun auf Ende November angesetzt.

Vermischte Meldungen über Wohnungen und Waffen

Die Trödelei auf dem Rücken der Beschuldigten ist umso skandalöser, als die spanischen Behörden seit 1994 dieselben Vorwürfe erheben und sich dabei auch nicht durch zwischenzeitliche Ermittlungsergebnisse beeindrucken lassen. Diese hätten längst die Aufhebung des Haftbefehls und die Einstellung des Verfahrens erfordert. In ihrer Anklageschrift wirft die Staatsanwaltschaft Gabriele Kanze den Besitz von Waffen und den von Sprengstoff sowie die Unterstützung einer bewaffneten Bande, nämlich des ETA-Kommandos Barcelona, vor.

Für die beiden ersten Delikte beantragt sie je acht, für das dritte sechs Jahre Haft. Die Anklage lebt vom Zurechnungsmechanismus der „bewaffneten Bande“ bzw. terroristischen Vereinigung, den wir auch in Deutschland zur Genüge kennen. Gerade zehn Zeilen der insgesamt neunseitigen Anklageschrift beziehen sich auf Gabriele Kanze, ansonsten lässt sich die Staatsanwaltschaft über das ETA-Kommando, dessen Mitglieder und seine Aktionen aus, für die Gabriele Kanze definitiv keine Verantwortung trägt. Vielmehr soll sie gemeinsam mit ihrem damaligen Freund und heutigen Ehemann Benjamin Ramos zwei Wohnungen in Barcelona angemietet haben, die dem Kommando als Unterschlupf und als Versteck für Waffen und Sprengstoff gedient hätten. Auch was diesen angeblich eigenen Tatbeitrag betrifft, muss die Staatsanwaltschaft die Tatsachen vermischen und verwischen.

Auf diese beiden Wohnungen stiess die Polizei nach der Verhaftung von Felipe San Epifanio, eines der Mitglieder des Kommandos, am 28. April 1994. Während der nach spanischem Prozessrecht – in Terrorismusfällen – möglichen fünftägigen Inkommunikationshaft wurde der Mann gefoltert. Das Verfahren wegen der Foltervorwürfe wurde wie in vielen anderen Fällen auch sang- und klanglos eingestellt. Jedoch nur in einer der von San Epifanio bezeichneten Wohnungen entdeckte die Polizei Waffen.

Diese Wohnung wurde jedoch nicht von Gabriele Kanze, sondern von Benjamin Ramos gemietet, der 1995 in Berlin festgenommen, ein Jahr später ausgeliefert und 1997 von der Audiencia Nacional wegen Unterstützung des ETA-Kommandos verurteilt wurde. Bezeichnenderweise stellte das Gericht damals fest, dass er nicht für das Waffenlager in der Wohnung verantwortlich zu machen sei. Nach der Überlassung der Wohnung habe er keine Verfügungsgewalt mehr darüber gehabt.

Das Gericht sprach ihn an diesem Punkt ausdrücklich frei. Verurteilt wurde er vielmehr, weil er nach der Verhaftung San Epifanios gemeinsam mit dem Rest der Gruppe geflohen war und ein falsches Kennzeichen an dem Wagen montiert hatte. (Strafmass: 11 Jahre Haft!) Der Vertrag für die tatsächlich von Gabriele Kanze angemietete andere Wohnung stammt vom Sommer 1993. Zu diesem Zeitpunkt war sie als Austauschlehrerin in Barcelona tätig und rechnete damit, dass ihr Arbeitsaufenthalt erheblich länger dauern würde. Die Pläne zerschlugen sich aber, weswegen sie im September desselben Jahres bereits wieder nach Berlin zurückkehrte. Die Mitglieder des Kommandos bestätigten 1997 vor der Audiencia Nacional, Gabriele Kanze nicht zu kennen. Im April 1994 war sie nämlich nachweislich schon über ein halbes Jahr in Deutschland, das sie bis zu ihrer Festnahme an der Schweizer Grenze im März 2002 auch nicht mehr verliess. Sie konnte deshalb erst recht keine Verfügungsgewalt mehr über ihre Wohnung haben.

Da sie (damals) als Deutsche aus Deutschland nicht ausgeliefert werden konnte, richteten die spanischen Behörden bereits 1994 ein Strafübernahmeersuchen an die hiesige Justiz. Eine Strafverfolgung wegen Unterstützung der ETA war in Deutschland zwar nicht möglich, da der Straftatbestand der „terroristischen Vereinigung“ – § 129a StGB – (damals) nur auf inländische Vereinigungen anwendbar war und die erforderliche beiderseitige Strafbarkeit insofern an diesem Punkt nicht bestand. Die Berliner Staatsanwaltschaft konnte daher nur in der Frage des Waffen- und Sprengstoffbesitzes ermitteln.

Sie hielt zunächst fest, dass Gabriele Kanze keine Verbindung zu der von Benjamin Ramos gemieteten Wohnung und dem dort sichergestellten Waffenlager hatte. In der von ihr selbst gemieteten Wohnung seien dagegen weder Waffen noch Sprengstoffe gefunden worden, sondern nur ein „Glasbehälter von einem Zentimeter Durchmesser und einer Höhe von vier Zentimetern, der ein schwarzes Pulver unbekannter Zusammensetzung enthält“.

Im September 1995 forderte die Berliner Staatsanwaltschaft in Spanien nähere Auskünfte über den mysteriösen Fund. Die Antwort erging erst drei Monate später: Es handele sich um Bleisulfid. Übersetzungsfehler seien ausgeschlossen, bestätigte Ende 1995 das Bundeskriminalamt. Die Substanz werde definitiv nicht zur Herstellung von Sprengstoff gebraucht. Bleisulfid ist u.a. in Glasuren für Töpferwaren enthalten. Im April 1998 stellte die Berliner Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren daher ein – mangelnder Tatverdacht (§ 170 Abs. 2 StPO). Schon zu diesem Zeitpunkt waren die heute immer noch erhobenen Vorwürfe nicht mehr haltbar. Von Waffen- und Sprengstoffbesitz konnte keine Rede mehr sein und auch der letztlich darauf aufbauende Anklagepunkt der Unterstützung hatte sich bei genauerem Hinsehen in Luft aufgelöst. Spätestens 1998 hätten die spanischen Strafverfolgungsbehörden die Aktendeckel zuklappen und das Verfahren einstellen können.

Stattdessen erhielten sie den Haftbefehl aufrecht. Weder im Auslieferungsersuchen an die Schweiz noch in der Anklageschrift findet sich irgendein Versuch, die offenkundigen Widersprüche der Argumentation zu lösen oder auf die Ergebnisse der Verfahren in Madrid oder in Berlin einzugehen.

Rechtliche Harmonisierung nach unten

Die Verteidigung und die UnterstützerInnen von Gabriele Kanze haben die Öffentlichkeit und insbesondere die kritischen Juristenorganisationen aufgerufen, das Verfahren genau zu beobachten. Zum einen, um zu verhindern, dass Gabriele Kanze zu Unrecht verurteilt wird. Zum andern, weil dieses Verfahren ein Schlaglicht auf die derzeit heftig betriebene „Harmonisierung“ des Strafprozessrechts in Europa wirft. Deren erstes Ergebnis, den Rahmenbeschluss des Rates der EU-Innen- und Justizminister zum Europäischen Haftbefehl, hat der Bundestag im Juni in deutsches Recht überführt. Der zentrale Glaubenssatz dieser Harmonisierungspolitik, der auch in den EU-Verfassungsentwurf Eingang gefunden hat, lautet: Justizielle Entscheidungen sind gegenseitig anzuerkennen.

Faktisch werden damit auch sämtliche straf- und strafprozessrechtlichen Exzesse achselzuckend bejaht, die in dem Verfahren gegen Gabriele Kanze in aller Deutlichkeit zu besichtigen sind: von irrwitzigen Strafmaßen über extrem lange U-Haftzeiten bis hin zur Inkommunikationshaft in politischen Verfahren mit der damit verbundenen Gefahr der Folter. Was als harmlose Vereinheitlichung unter europäischen Rechtsstaaten daher kommt, beinhaltet damit erhebliche Gefahren für die Rechte der Beschuldigten und der Verteidigung.

Der Europäische Haftbefehl bedeutet das Ende des Auslieferungsrechts in der EU. An die Stelle des Auslieferungsverfahrens tritt eine Übergabeprozedur. Die bisher geltende Auslieferungskonvention des Europarats ermöglichte zwar keine umfängliche materielle Prüfung des Strafvorwurfs, wohl aber konnten die Gerichte vom ersuchenden Staat Erklärungen nachfordern, wenn sich im Ersuchen offensichtliche Widersprüche zeigten. Und sie konnten die Auslieferung verweigern, wenn Beweise durch unerlaubte Methoden zustande gekommen waren.

Die Schweiz ist zwar nicht Mitglied der EU und wird daher vorerst den EU-Haftbefehl nicht umsetzen. Das schweizerische Bundesgericht hat jedoch mit seinem Entscheid über die Auslieferung von Gabriele Kanze wesentliche Aspekte dieser Regelung in vorauseilendem Gehorsam vorweggenommen.(1) Es nahm die von der Verteidigung aufgedeckten Widersprüche im Auslieferungsersuchen nicht im Ansatz zur Kenntnis, sondern verwies schlicht und einfach darauf, dass diese vom zuständigen Richter in Spanien zu prüfen seien.

Das Gericht ist darüber hinaus auch nicht darauf eingetreten, dass die Aussagen Felipe San Epifanios, die das Verfahren ins Laufen brachten, unter Folter erpresst wurden und sich aus der Folter von Drittpersonen im selben Verfahren ein Auslieferungshindernis ergibt: Spanien sei ein Rechtsstaat, habe die Europäische Menschenrechtskonvention und auch die Anti-Folter-Konvention der UNO unterzeichnet. „Die ernst zu nehmende Kritik von Menschenrechtsgremien … an einzelnen Fällen von Übergriffen und Missständen … belegt die Effizienz und das Funktionieren völkerrechtlicher Kontrollmechanismen.“

Das Gericht verzichtete letztlich auf sämtliche Möglichkeiten, die die Europaratskonvention bietet. Es tat letztlich das, was die EU in ihrem Rahmenbeschluss zum Haftbefehl fordert: Es erkannte den Haftbefehl der spanischen Untersuchungsbehörden vollumfänglich an. Aus dem Auslieferungsverfahren wurde faktisch ein zeitlich verzögertes Übergabeverfahren. Bei all der wohlwollenden gegenseitigen Anerkennung zwischen Rechtsstaaten fällt allerdings auf, dass sie recht einseitig funktioniert. Nicht anerkennen wollte das schweizerische Bundesgericht, dass Gabriele Kanze durch die Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Berlin weitestgehend entlastet war. Der Verfahrenseinstellung wegen mangelnden Tatverdachts komme „nicht die Bedeutung eines materiellen Freispruches“ zu. Nachdem Gabriele Kanze ohne Prozess schon mit über zweieinhalb Jahren Haft bestraft ist, hat die Audiencia Nacional die Pflicht, diese Einseitigkeit endlich zu korrigieren.

Heiner Busch

(1) Das Urteil vom 21. Oktober 2002 ist nachzulesen unter www.bger.ch, Urteile ab 2000, 1A. 174/2002