Strafvollzug darf nicht Ländersache werden – Grundrechte-Komitee fordert Korrektur bei Föderalismusreform

Offener Brief an alle Bundestagsabgeordneten: Der Strafvollzug darf nicht zur Länderangelegenheit werden, sondern muss weiterhin bundeseinheitlich geregelt bleiben.

In einem Offenen Brief an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages fordert das Komitee für Grundrechte und Demokratie eine gewichtige Korrektur bei der vorgesehenen Föderalismusreform. Der Strafvollzug dürfe nach Ansicht des Komitees nicht zur Länderangelegenheit werden, sondern müsse weiterhin bundeseinheitlich geregelt bleiben.

Eine pdf-Datei mit dem Offenen Brief hängt an.

Andernfalls befürchtet das Komitee, dass es zu einer negativen Konkurrenz der Länder auf dem Rücken straffällig gewordener Menschen komme. Das Hauptziel des Strafvollzuges, wie es im Strafvollzugsgesetz von 1976/77 festgelegt worden ist, drohe in den Hintergrund zu geraten, wenn einzelne Länder vermeintliche Sicherheitskriterien höher bewerten als das umfassendere Ziel der Resozialisierung.

Das Komitee weiß sich in seinen Forderungen einig mit nahezu allen mit dem Strafvollzug befassten Fachverbänden und mit juristischen Vereinigungen von Strafrechtslehrern bis zum Deutschen Richterbund. Die Mühseligkeit, das einmal geschnürte Paket „Föderalismusreform" noch einmal aufzupacken, dürfe nicht als ernsthaftes Argument dienen.

 

gez. Martin Singe - Köln/Berlin, den 4. Mai 2006

 

OFFENER BRIEF

AN DIE ABGEORDNETEN

DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES

 

Für einen demokratisch grund- und menschenrechtlich lebendigen Föderalismus! Gegen verkehrte, auf die Dauer kostenreiche Reformen! Der Strafvollzug darf nicht zur Ländersache werden!

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Föderalismusreform steht wieder einmal auf der Tagesordnung. Die große Koalition hat sie zu ihrer aktuellen Aufgabe erhoben. Viele Beweggründe brodeln schäumend gegeneinander. Die erhebliche, nicht zuletzt ökonomisch-fiskalische Ungleichheit unter den 16 Ländern. Die neuen Probleme, die die Europäische Union für die Länder und ihre Beteiligung stellt. Die Vielheit der Länder und der grundrechtlich verbürgte Anspruch aller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, überall prinzipiell gleiche Lebenschancen vorzufinden.

Das, was aktuell an Reformvorschlägen herausgekommen und nach entsprechender Verfassungsänderung verrechtlicht werden soll, atmet keinen grundgesetz- und problemangemessenen Geist. Es entspricht nicht dem großen Vorzug föderaler Gliederung: in kleineren Räumen mehr Besonderheiten und vor allem mehr soziale Nähe und mehr Demokratie möglich zu machen. Die aktuell geplanten und schon weitgehend vereinbarten „Reformen" demonstrieren vielmehr, dass sich die führenden PolitikerInnen in Bund und Ländern nur auf das kleinste gemeinsame Interessenvielfache zu einigen vermochten: Verdichtung der bürokratischen Unübersichtlichkeit; statt ländergegebene bürgerliche Beteiligungschancen in edler Länderkonkurrenz zu fördern, werden die fiskalischen Interessen der demokratisch gekürten „Länderfürsten" ungleich gefördert; nicht Gleichheit der Lebenschancen unter vielfältigen Bedingungen, repressive populistische Konkurrenz ist Trumpf.

 

Das schlimmste Exempel für die Fehlrichtung dieser Reform stellt die Absicht dar, den Strafvollzug länderfrei zu geben. Auf dass jedes Land vollzugsstrenger oder resozialisierungsmilder verfahre, strafvollzugsknausriger oder den Menschen im Strafvollzug als BürgerInnen – soweit irgend möglich – mit ihren Grund- und Menschenrechten entspreche. Gegen diese negative Konkurrenz auf dem Rücken straffällig gewordener Menschen haben sich viele kompetente Stimmen erhoben: von der Vereinigung der Strafrechtslehrer bis zum Deutschen Richterbund. Aus jahrezehntelanger Erfahrung im Umgang mit Menschen im Strafvollzug schließen wir uns diesen begründeten Appellen an die Regierungskoalition, ihre Parteien an. Wir verfeinern und vervielfachen diesen Appell demokratisch an jede Abgeordnete und jeden Abgeordneten aller Fraktionen des Bundestags. Indem wir umgehend alle uns erreichbare Expertise anbieten, belassen wir es in diesem Aufruf an Sie dabei, wenige grundsätzliche Einwände besonders gegen diesen Rückwärtsreformteil der sog. Förderalismusreform vorzutragen:

 

1. In Strafe und Strafvollzug tritt der Staat Menschen, die in seinen rechtlichen Grenzen wohnen, am meisten hoheitsvoll mit dem am meisten grund- und menschenrechtlich eindringenden und kappenden Zwangsmitteln gegenüber. Menschen, deren Straffälligkeit in einem grundrechtlich normierten Verfahren erkannt worden ist (Art. 19 Abs. 2 GG als Sollnorm), werden – in schwereren Fällen der Rechtsverletzung zumeist schon in der U-Haft vorweggenommen – ihrer freien Selbstbestimmung beraubt. Sie werden je nach Strafurteil auf längere, lange, auf Lebenszeit in der totalen Institution einer Strafanstalt festgesetzt.

2. Dieser tiefe Eingriff in menschliche Freiheit, Integrität und Würde ist in einem grund- und menschenrechtlich fundierten demokratischen Verfassungsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland nur unter drei Voraussetzungen zulässig:

- wenn er zum einen der Strafhandlung entspricht;

- wenn er zum anderen mit der Absicht erfolgt, den straffällig gewordenen Menschen wieder als Freien in eine freie Gesellschaft zu entlassen;

- wenn zum dritten die Art des Lebens im Strafvollzug in seinen materiellen und Verhalten bestimmenden Bedingungen so gestaltet ist, dass ein Leben in Freiheit wieder möglich wird. Diese Voraussetzungen und Absichten sind im Strafvollzugsgesetz von 1977 prinzipiell Recht in der Bundesrepublik geworden. Der Gesetzgeber hat seinerzeit die überfälligen Konsequenzen daraus gezogen, dass die Bundesrepublik ein Land geworden ist, in dem die Grund- und Menschenrechte unmittelbar und für alle Menschen gelten. Alle Einschränkungen stehen also unter dem dauernden Begründungszwang, sich vor der uneingeschränkt unmittelbaren Geltung der Grund- und Menschenrechte rechtfertigen zu müssen.

3. Die Vielfalt der 16 Länder der Bundesrepublik kann und soll als grundrechtlich-demokratische Chance genutzt werden. Sie darf nicht dazu missbraucht werden, allgemein, das heißt in allen Bundesländern stricto sensu gleich geltende Grund- und Menschenrechte diskriminierend abzuwandeln, und handele es sich bei den von solchen Diskriminierungen getroffenen Menschen „nur" um solche, die in Strafvollzugsanstalten zwangsleben. Schon gegenwärtig gibt es in Sachen Strafvollzug erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern und in ihnen zwischen Strafvollzugsanstalten. Solche Unterschiede zu Lasten der Menschen im Strafvollzug sind auch gegenwärtig grund- und menschenrechtlich skandalös. Solche Unterschiede jedoch zum Gesetz zu erheben, das den bundesstaatlichen Föderalismus im Sinne von Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG ausdrücken soll, ist Buchstaben und Geist der Verfassung des Grundgesetzes zuwider. Sie als demokratisch gewählte und dem Grundgesetz verpflichtete Abgeordnete dürfen einem solchen Gesetz nicht zustimmen!

4. Auch (schein-)wissenschaftlich begründete Moden wechseln. Seit Jahren ist es auch im Zeichen des allzu weit ausgedehnten Anti-Terrorismus wieder üblich geworden, in Strafen und Bestrafung gesetzgeberisch-exekutive Verhaltensformen zu sehen, mit denen gesellschaftliche Probleme eingedämmt werden könnten. Mit vielen anderen kenntnisreichen Vertreterinnen und Vertretern im Umkreis von Strafe und Bestrafung halten wir diese Ansicht für nachweislich falsch. Es lässt sich im Gegensatz zur weit verbreiteten An- und Kurzsicht zeigen, dass durch gesteigerte Repressionen, vor allem durch härtere Betrafungen und längere, dazuhin noch belastender gestaltete Inhaftierungen nicht einmal an monetären Kosten gespart wird. Im Gegenteil. Diese steigen wenigstens mittel- und längerfristig. Vor allem aber: repressiveres Verfahren und gegenüber anderen, auch und gerade straffällig gewordene BürgerInnen missachtete Grund- und Menschenrechte schlagen auf die Normalität einer Gesellschaft und ihre politische Demokratie zurück. Sie wirken wie ein Bumerang.

So versteht sich also unser dringender Appell, dieser so genannten Föderalismusreform – auch wenn weitere mühselige Verhandlungen nötig werden – nicht zuzustimmen. Ihr schwächster und ihr grund- und menschenrechtlich am meisten fragwürdiger Teil, den zerstückelten und nach unten konkurrierenden Strafvollzug betreffend, darf auf keinen Fall Recht werden. Solches Recht trüge von Anfang an das Kainsmail des Unrechts an der Stirn.

 

gez. Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr, Komitee für Grundrechte und Demokratie

gez. Martin Singe, Komitee-Projektgruppe Haftbedingungen