Thesen zur Informationstechnologie im Gesundheitswesen

Wolfgang Linder nahm am Freitag, 28. Oktober 2011, für das Komitee für Grundrechte und Demokratie an dem Fachgespräch "Der virtuelle Patient - Nutzen und Risiken der Informationstechnologie im Gesundheitswesen", veranstaltet von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, teil.

 Hierfür verfasste er ein Thesenpapier:

 

Thesen für das Fachgespräch der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Grüne am 28.10.2011 mit dem Titel „Der virtuelle Patient – Grenzen und Risiken der Informationstechnologie im Gesundheitswesen“

 

These 1

Der Titel des Fachgesprächs verspricht eine Diskussion über Grenzen und Risiken der Informationstechnologie im Gesundheitswesen. Die Besetzung der beiden Podien wird diesem Vorhaben nicht gerecht.

 

Ich befürchte, dass die Veranstaltung eher der Werbung für die Chancen und Vorteile dienen wird, die der Aufbau einer zentralen IT-Struktur für das Gesundheitswesen bietet. Denn die Mehrzahl der eingeladenen TeilnehmerInnen vertritt Institutionen, die qua Finanzierung oder gesetzlichem Auftrag oder aus anderen Gründen genau dieses Ziel verfolgen. Wohl bemerkt: Dies will nicht als Kritik an Personen verstanden werden. Deren Funktionen müssen nur transparent sein. Ebensowenig will ich hier Kritik an den von ihnen voraussichtlich vertretenen Positionen üben. Eine solche Kritik ist inhaltlich zu begründen, worum ich mich bemühen werde. Vielmehr soll an dieser Stelle Kritik daran geübt werden, wie die Veranstalterin die TeilnehmerInnen an den Podien ausgewählt hat. Diese Kritik kann gern detaillierter formuliert werden. Ich sehe  mich als Außenseiter in dieser Veranstaltung. Dies veranlasst mich, dies als Vorbemerkung vorauszuschicken.

 

These 2

Die Themen dieses Fachgesprächs sind so weit gestreut, dass eine der Komplexität der aufgeworfenen Fragen gerecht werdende Erörterung in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit kaum möglich sein wird.

 

Es sollen technische, medizinische und rechtliche Aspekte der vielfältigen IT-Anwendungen im Gesundheitswesen zur Sprache kommen, darunter auch der elektronischen Gesundheitskarte. Allein die Problematik dieses derzeit betriebenen Projekts, basierend auf einer zentralistischen IT-Struktur, aber würde den Zeitrahmen mehr als ausfüllen.

 

These 3

Die Entwicklung der IT für das Gesundheitswesen verlangt nicht nur einen immensen finanziellen Aufwand, sondern führt  – und bezweckt dies geradezu – zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens.

 

Beginnend 1997 mit der Roland-Berger-Studie zur Telematik im Gesundheitswesen, fortgeführt 2000 mit der Strategie der Bundesregierung zum eGovernement und beharrlich bis heute fortgesetzt, wird das Ziel angestrebt, zum einen den Absatz der deutschen IT-Industrie und deren Export zu fördern und zum anderen das Gesundheitswesen den Regeln der Betriebswirtschaft zu unterwerfen. Dabei geht man von zwei Prämissen aus:

1. Die Ausgaben für Gesundheit wachsen überproportional, sie müssen daher – u.a. durch Einsatz von IT - begrenzt/gesenkt werden. Die Strategie, die Finanzierungsgrundlage durch die Bürgerversicherung zu verbreitern, wird dabei trotz der Kosten gerade durch die IT-Entwicklung, wohl angesichts mächtiger Gegeninteressen, ausgeblendet.

2. Was technisch und ökonomisch sinnvoll oder möglich ist, dient auch der Gesundheit der Bevölkerung. Gleichfalls wird ausgeblendet, dass gerade die Technisierung der Gesundheitsversorgung und ihre Strukturierung nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien zu immensen Kosten und zu Nachteilen in der Qualität der Leistungen führen könnten.

 

These 4

Der klinische Nutzen von IT-Funktionen, die der Diagnostik und Therapie dienen, ist bislang durch unabhängige prospektive Studien nur unzureichend belegt.

 

Ich beziehe mich hier auf den „Arzneimittelbrief“  (2011,45,49). Dort heißt es, eine systematische Übersicht aller Reviews zur Telemedizin habe für die meisten Systeme keine, maximal eine moderate Evidenz für eine günstige Kosten-Nutzen-Relation ergeben. Genauer wird dies im folgenden belegt für Systeme zur Arzneimitteltherapie. Im Editorial in der Beilage zum AMB 10/11 wird überdies der begrenzte Nutzen von Untersuchungen zu unerwünschten Wechselwirkungen von Arzneimitteln per Software dargelegt. Gerade solche Wirkungen sollen aber durch Einsatz von IT reduziert werden.

 

These 5

Bestimmte Anwendungen der Telemedizin haben zur Folge, dass die PatienInnen einer permanenten Überwachung unterliegen..

 

Die Überwachung durch Hausärzte des Vertrauens oder durch Pflegepersonal wird ersetzt durch Überwachung durch die Technik oder durch anonyme Instanzen, z.T. sogar durch Call-Center. Die Qualität der Versorgung wird nicht verbessert. Es werden lediglich Kosten für qualifiziertes Personal auf solche für Technik bzw. kommerzielle Dienstleister verlagert.

 

These 6

Die digitale Vernetzung zwecks Punkt-zu-Punkt-Kommunikation von Ärzten und Kliniken wird bereits in vielen Netzwerken praktiziert bzw. aufgebaut. Hier bedarf es der Koordinierung,  Unterstützung und Förderung. Dies aber ist eklatant vernachlässigt worden. Stattdessen wird eine gigantische, technisch anfällige und kostspielige zentralistische Telematik-Infrastruktur durchgedrückt, die sich nicht an den durch die Anwender artikulierten Bedarfen, sondern an den oben in der These 3 aufgeführten ökonomischen Interessen orientiert.

 

Am Beispiel des Projekts „elektronische Gesundheitskarte“ wird die Dominanz der Industriepolitik über die Gesundheitspolitik am deutlichsten. Es dient realiter als Deckmantel zum Aufbau einer zentralistischen IT-Struktur. Nicht die durch die Anwender, geschweige denn die Betroffenen/angeblich Begünstigten, artikulierten Bedarfe sind Richtschnur, sondern per legislativer Mehrheit, per Lobbyarbeit, per admininstrativem Zwang und per Androhung finanzieller Sanktionen wird das Projekt  „top-down“ vorangetrieben. Der Britische Gesundheitsdienst hat gerade ein inhaltlich und vom Verfahren her vergleichbares Projekt zum Aufbau elektronischer Patientenakten gestoppt (heise online vom 23.09.11).

 

These 7

Das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ soll seinen krönenden Abschluss dadurch erhalten, dass sämtliche medizinischen Behandlungsdokumentationen möglichst vieler Bürger auf zentralen Servern gespeichert werden.

 

Laut dem unwidersprochen gebliebenen Gutachten von Booz-Allen-Hamilton werden sich die  Aufwendungen für das Projekt (von 14 Mrd. € ist schon die Rede) erst dann amortisieren können, wenn die Funktion der elektronischen Patientenakte realisiert worden ist. Unabhängig von der Umsetzung der derzeit gesetzlich geforderten technischen Vorkehrungen und Verbote zum Persönlichkeitsschutz aber würde dadurch ein auf die Dauer nur schwer beherrschbares Gefährdungspotenzial geschaffen.

 

These 8

 

Das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ wird nicht zur Folge haben, dass die Autonomie der PatientInnen gestärkt wird, sondern vielmehr die, dass diese in ihr Bewusstsein aufnehmen und ihr Gesundheitsverhalten daran ausrichten, dass sie durch eine anonyme Instanz überwacht werden (gouvernementalité i.S. von Michel Foucault).

 

 

 

Wolfgang Linder, Bremen, Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheit des Komitee für Grundrechte und Demokratie, Jurist, bis 2004 stellvertretender Bremischer Datenschutzbeauftragter