20. März 2018 © @dpa
Überwachung / Verfassungsschutz

Verfassungsschutz gefährdet die Verfassung

Rolf Gössner, ein für die Grundrechte aktiver, und offenbar unbequemer Jurist und Autor wurde mit windigen Begründungen seit 1970 fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen vom Verfassungsschutz beobachtet und ausgeforscht. Jetzt hat das Oberverwaltungsgericht Münster entschieden, dass diese Beobachtung rechtswidrig und unverhältnismäßig war.

Das Oberverwaltungsgericht NRW in Münster hat mit Urteil vom vergangenen Dienstag entschieden, dass die langjährige Beobachtung des Rechtsanwalts und Publizisten Rolf Gössner durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war. Es hat damit eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln bestätigt, gegen die der Geheimdienst geklagt hatte. Ich habe Rolf Gössner zufällig im Orwell-Jahr 1984 kennen gelernt. Er war damals bereits als Autor kritischer Artikel zur Polizeigewalt bekannt, hatte sich mit den Demonstrationen und polizeilichen Aktionen in Brokdorf und Wackersdorf auseinandergesetzt, arbeitete an der Universität Bremen und beriet die Bremische Grüne Landtagsfraktion – oder war es die Niedersächsische? Er kam zur Sitzung der neu gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratie und Recht der Grünen und unterschied sich in meiner Wahrnehmung, der ich als Jungdemokrat und linksliberaler zu den Grünen gekommen war, erfrischend von manchem Sponti-Heißsporn der Ökos durch seine sachliche, rechtstaatliche und liberale Argumentation. Wenn damals ein Spitzel des Verfassungsschutzes anwesend war, hat er wohl in seinen Bericht geschrieben, dass Gössner sich dadurch ganz besonders verstellt habe.

Wie ich darauf komme? Das ergibt sich aus  einem in der Geschichte der Bundesrepubik Deutschland und ihres Grundgesetzes wohl einzigartigen Verfassungsskandal, der gestern durch ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts NRW nach sage und schreibe achtunddreißig Jahren Überwachung und Bespitzelung, Diffamierung und Berufsschädigung vorläufig beendet wurde. Vorläufig, weil das OVG wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles auch für viele ähnlich gelagerte Fälle die Revision beim Bundesgerichtshof zugelassen hat.

Was wird Gössner, der sich in unzähligen Artikeln und Büchern, als parlamentarischer Berater der Grünen vor allem in Niedersachsen, als freiberuflicher Anwalt, Gründer der Initiative “Bürger beobachten die Polizei e.V.” und Vorsitzender der Internationalen Liga für  Menschenrechte vorgeworfen? Lediglich sein konsequenter Einsatz für Bürgerrechte, für die Verfassung, gegen die Verletzung von Bürgerrechten unter dem Deckmantel der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung. Viele seiner Schriften und Argumentationen spielten eine wichtige Rolle in den Schriftsätzen der erfolgreichen Klagen gegen den “Großen Lauschangriff”, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung und anderer Beschränkungen des Rechtstaats, die vom Bundesverfassungsgericht als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz aufgehoben wurden.

Rolf Gössner ist einer der Mitherausgeber des jährlich erscheinenden  „Grundrechte-Reports”, der sich als “alternativer Verfassungsschutzbericht” versteht, und wurde u.a. mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet – verliehen von der ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Jutta Limbach, für “vorbildliches demokratisches Verhalten und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl” – und ausdrücklich geehrt für die Warnung vor einem weiteren Ausbau des Überwachungsstaates und einer schleichenden Erosion der Grundrechte.

Verfassungsschützer in der Parallelwelt

Dagegen scheint sich das Bundesamt für Verfassungschutz jahrzehntelang in einer Parallelwelt bewegt zu haben, denn es behauptete in der Klageschrift gegen das in der Vorinstanz ergangene Urteil zugunsten Gössners, der Kläger Gössner habe (Zitat), „mit einer Vielzahl publizistischer Äußerungen deutlich gemacht, dass er die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik … ablehnte“, und er „sei dafür eingetreten, diese durch eine sozialistisch-kommunistische Staats- und Gesellschaftsordnung zu ersetzen“. Sein Ziel sei die „Abschaffung wesentlicher Kernelemente der Verfassungsordnung“; um dies „leichter verfolgen zu können“, wolle er „als ersten Schritt“ den Verfassungsschutz abschaffen, wolle den Staat insgesamt wehrlos machen gegen seine Feinde.”

Damit nicht genug, nahm das Bundesamt für Verfassungsschutz in der Berufungsbegründung gegen dieses Urteil gar die Richterinnen und Richter der 20. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln ins Visier. Sie hätten sich in den Augen der Beklagten (des VfS) offenbar höchst verdächtig gemacht, weil sie Gössner mit ihrer, „verharmlosenden“ Darstellung und Beweiswürdigung, ja mit geradezu „befremdlichen“ und „abwegigen“ Erwägungen wohlwollend verschont hätten. So sei insgesamt zu konstatieren, „dass das Urteil durchgängig von dem Bemühen geprägt ist, die Äußerungen des Klägers in einem diesem günstigen Sinne zu interpretieren, und, wo das nicht möglich ist, zu verharmlosen, und, wo das nicht möglich ist, als Einzelfälle darzustellen“. Die Richter des Verwaltungsgerichts gerieten damit selbst in den Geruch, „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ des Klägers zu decken, zu rechtfertigen, ja womöglich nachdrücklich zu unterstützen. Diese Berufungsbegründung erinnert an ein Verfassungsschutzdossier.

Argumentiert wie gegen Deniz Yücel

Ein offensichtlich für die Grundrechte aktiver, unbequemer Jurist und Autor wurde mit diesen windigen Begründungen seit 1970 fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen beobachtet und ausgeforscht. Schon als Jurastudent, dann als Gerichtsreferendar, später in allen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechtsanwalt, parlamentarischer Berater, seit 2007 als gewähltes Mitglied der Innendeputation der Bremer Bürgerschaft sowie als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien und Hansestadt Bremen.

Gössner war, so lange ich ihn kenne, ein konsquenter und unbeugsamer Demokrat und Bürgerrechtler, der politisch eher den Grünen nahe stand, aber nie Mitglied der Partei, aber auch keiner anderen wurde. Er referierte seine Themen bei allen, die ihn als Autor einluden, denn er lebte als Freiberufler unter anderem von seiner publizistischen Tätigkeit. Ich saß gemeinsam mit ihm auf dem Podium bei den Jungdemokraten, in Grünen Kreisverbänden, beim Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Humanistischen Union, beim Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein ebenso wie bei der Vereinigung demokratischer Juristen, bei Initiativen gegen die Volkszählung 1987, in parlamentarischen Anhörungen und bei der Gewerkschaft der Polizei oder dem Beamtenbund.

Wie ich als überzeugter Liberaler ging auch er, wenn man ihn einlud, zu Diskussionen mit Kommunisten oder sogenannten “Autonomen” aus der Überzeugung heraus, dass gerade im Meinungsstreit demokratische Haltung zählt und überzeugt. Diese “Kontaktschuld” wurden ihm vom Verfassugsschutz in einer infamen Weise als “Unterstützung” ausgelegt, die exakt dem Vorwurf der Türkischen Regierung gegen Deniz Yücel gleicht: Weil der mit einem PKK-Führer gesprochen, ihn interviewt habe, sei er “Terrorist”. Weil Gössner mit solchen Leuten diskutiert habe, habe er “sie unterstützt”. Dieselbe pervertierte, anmassende und demokratiefeindliche Haltung und Denkweise – nur skandalöserweise vorgebracht von einem Teil der öffentlichen Verwaltung, die auf das Grundgesetz verpflichtet ist, zynischerweise sogar beansprucht, dieses zu schützen. In der Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts, so dachte ich, seien derartig abseitige Verdrehungen der Wirklichkeit durch selbsternannte “Schützer” der Verfassung heute unmöglich.

Es gab sie durchaus in der Geschichte der Bundestagswahlkämpfe der 50er Jahre, als die SPD-Bundestagsabgeordneten Scharley und Roth von Adenauer beschuldigt wurden, für ihren Wahlkampf Geld von Moskau bezogen zu haben. Einen haltlosen und diffamierenden Vorwurf, den er nach der gewonnenen Wahl zurück nahm, weil er sich “geirrt” habe.  Die “Kontaktschuld”, den Ungeist der 50er Jahre und der McCarthy-Ära, als Hollywood-Schauspieler, Politiker, Banker, Wissenschaftler und Journalisten beschuldigt wurden, “Kommunisten” zu sein, wird offensichtlich vom heutigen Bundesamt für Verfassungsschutz weitergeführt und die Demokratie pervertiert.

Keine Konsequenzen aus NSU- und NSA-Skandalen

Würde es da noch jemanden verwundern, wenn im selben Amt belastende Akten über die NSU im Schredder landeten und den Untersuchungen und Verfahren entzogen wurden, Beweise und Fakten vernichtet oder manipuliert wären? Wen verwundert es da noch, wenn dem NSA-Untersuchungsausschuss und den Parlamentariern des Bundestages systematisch Fakten und Informationen, vor allem aber Dokumente vorenthalten wurden? Wie kann eine so von Grund auf verluderte Behörde einfach weitergeführt werden, ohne dass dies ganz grundlegende personelle und strukturelle Konsequenzen hat?

Wer nicht davor zurückschreckt, wie im Falle Gössners die Wahrheit derart zu verfälschen und umzuinterpretieren, sich anmasst, dem “Beobachtungsobjekt” Gössner Meinungen zu unterstellen, die er nie auch nicht in Ansätzen geäußert hat, wer offensichtlich kein Unrechtsbewusstsein hat, derart Tatsachen zu verdrehen, der hat jegliche Glaubwürdigkeit und Berechtigung, sich bei seinem illegalen Tun auf die Verfassung zu berufen, verwirkt. Nach den Abschlussberichten der NSU- und NSA-Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages sind bisher jedoch alle Konsequenzen zu einer Reform und Demokratisierung des Bundesamtes für Verfassungsschutz unterblieben und versandet.

Im Gegenteil: Die Terrorhysterie im Zusammenhang mit den Anschlägen in Frankreich und Berlin hat trotz harscher Kritik zu einer weiteren Aufrüstung des selben Apparats geführt. In Hessen beteiligen sich sogar Grüne daran, das verfassungsrechtliche Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten aufzuheben und den Geheimdienst grundrechtswidrig mit der “Gefahrenabwehr” zu betrauen. In der Koalitionsvereinbarung haben die Sozialdemokraten einem weiteren Ausbau und einer ebensolchen ausufernden Kompetenzerweiterung des Verfassungsschutzes, wie in Hessen zugestimmt.

Eine Schande für die Grundrechte und die liberale Demokratie.

Ein Kommentar von Roland Appel