Die kleine parlamentarische Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom Februar 2025, in der die Union mit 551 Fragen Mutmaßungen zur vermeintlich fehlenden politischen Neutralität zivilgesellschaftlicher Organisationen anstellte, hat viel Kritik ausgelöst. Doch die Anfrage kam nicht aus dem Nichts. Sie reiht sich in eine demokratie- und bildungspolitische Gemengelage ein, in der sich Vorstellungen der AfD von einem „neutralen Staat“ mit Rechtsdeutungen von Behörden, Ministerien und Gerichten zur politischen Neutralität seit einiger Zeit ungut befördern.
Der Grundgedanke, dass die Staatsorgane sich aus dem Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung heraushalten sollen, wird zunehmend auf andere übertragen: Es trifft zivilgesellschaftliche Vereine, Förderempfänger*innen staatlicher Programme, öffentlich Angestellte und Beamt*innen, Lehrkräfte, Mitarbeiter*innen in Gedenkstätten und der kulturellen oder politischen Bildungsarbeit. Ausgerechnet diejenigen, die sich in ihrer Arbeit und ihrem Engagement für Menschenrechte, für mehr Demokratisierung, gegen Diskriminierung und Unterdrückung einsetzen, sollen sich „neutral“ verhalten.
DAS GRUNDGESETZ VERPFLICHTET NICHT ZU NEUTRALITÄT
Das Verständnis von Neutralität von staatlichen Behörden leitet sich aus dem Grundgesetz und der Rechtsprechung dazu ab. Neutralität ist aber selbst kein Verfassungsbegriff. Allerdings sind insbesondere zwei Grundgesetz-Artikel dahingehend relevant.
Laut Artikel 20 geht „alle Staatsgewalt vom Volke“ aus. Die wichtigste Grundlage dafür ist nicht der Wahlgang an die Urne, sondern zunächst die Offenheit und Freiheit des Meinungs- und Willensbildungsprozesses und damit auch der politischen Bildungsarbeit. In einer 1966 gefällten Grundsatzentscheidung zur Parteienfinanzierung hatte das Bundesverfassungsgericht dieses Demokratieprinzip näher ausgeführt:
In einem demokratischen Staatswesen müsse sich „insbesondere die Willensbildung des Volkes frei, offen und unreglementiert vollziehen“. Das Recht auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich „nicht nur bei der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Willensbildung“.
Diese solle sich von unten, d.h. staatsfrei aus der Gesellschaft heraus entwickeln. Der zweite Passus ist Artikel 21 des Grundgesetzes: Um den freien politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu ermöglichen, soll der Staat die Chancengleichheit und Freiheit der Parteien gewährleisten, die an der politischen Meinungs- und Willensbildung mitwirken, allerdings kein Monopol darauf haben.
Beim Verfassen des Grundgesetzes wurde davon ausgegangen, dass sich in der jungen Bundesrepublik die Menschen vorwiegend in Parteien organisieren und diese den Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung – je nach politischer Grundüberzeugung und Programmatik – gestalten. Insofern galt auch hier der Grundgedanke, dass die Staatsorgane sich nicht in diesen Prozess einmischen sollen.
Diese demokratischen Grundprinzipien, die eigentlich zur Absicherung einer unabhängigen, freien Meinungs- und Willensbildung gedacht waren, werden derzeit so umgedeutet, als müssten alle möglichen gesellschaftlichen Akteure ihre Kritik an Parteien, an Regierungen, an Macht- und Herrschaftsverhältnissen begrenzen. Dabei ist das Grundgesetz überhaupt nicht neutral.
Mit Artikel 1 verpflichtet es den Staat auf die Würde der Menschen, mit Artikel 3 auf die Gleichheit der Menschen, Gleichheit der Herkunft, der Geschlechter, der sexuellen Orientierung, auf religiöse und weltanschauliche Toleranz, mit Artikel 20a auf die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, den Schutz der Tiere und den Klimaschutz. Das Grundgesetz enthält ein Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatsgebot und ist überdies – immer wieder wichtig zu erinnern – wirtschaftspolitisch offen.
DEMOKRATIE STIRBT MIT NEUTRALITÄT
In Diktaturen und autokratisch regierten Ländern werden unbequeme zivilgesellschaftliche Organisationen verboten. Hierzulande wird ihnen mit Verweis auf politische Neutralität die Gemeinnützigkeit oder staatliche Förderung aberkannt. Schulen werden angehalten, dass sie die AfD auch um den Preis des Schulfriedens, des Schutzes und der Sicherheit ihrer Schüler*innen sowie ihrer Lehrkräfte einladen und ihnen Räume bieten müssen. Das verletzt den demokratischen Auftrag von Schulen. Die Herangehensweisen in den Ländern mögen sich unterscheiden, die Folgen sind ähnlich: die Begrenzung von Kritik und der Verlust demokratischer Strukturen. Demokratische Gesellschaften sind nicht neutral.
Sich einmischen, sich positionieren, Haltung zeigen, gehört zu ihrem Repertoire. Sich nicht einzumischen und am Ende von allem nichts gewusst zu haben, gehört in die Mottenkiste der Geschichte.
Bettina Lösch ist Mitglied im Grundrechtekomitee. Sie ist Demokratietheoretikerin und Professorin am Lehrbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung der Universität zu Köln.