Nach der federführend vom Auswärtigen Amt bearbeiteten „Nationalen Sicherheitsstrategie“ von Juni 2023 kamen nun Ende 2023 – ausgerechnet am 9. November – neue „Verteidigungspolitische Richtlinien“ (VPR) heraus, die vom Verteidigungsministerium erlassen werden. Unterzeichnet sind die Richtlinien von Minister Pistorius und dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer.
Kernforderung ist eine Rückbesinnung auf den „Zentralauftrag“ der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung. „Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt“ - lautet der erste Satz der neuen VPR im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine, ohne auch nur einen Gedanken an den völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 zu verschwenden.
Der „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) habe nun eine „Gedankenwende“ (Generalinspekteur Breuer, zitiert in den VPR) zu folgen, die auf Kriegstüchtigkeit auszurichten ist. „Die Bundeswehr ist ein Kerninstrument unserer Wehrhaftigkeit gegen militärische Bedrohungen. Hierzu muss sie in allen Bereichen kriegstüchtig sein. (...) Maßstab hierfür ist jederzeit die Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht.“
Die „Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Zeitenwende“ - so der offizielle Titel - umfassen 34 Seiten (inklusive bunter Bebilderung) und gliedern sich in fünf Kapitel. Mit dem Hinweis „für die Zeitenwende“ knüpfen die VPR damit direkt an das von Scholz verkündete 100-Milliarden-Aufrüstungspaket an. Nach einer einführenden Standortbestimmung folgen die Kapitel „Strategische Prioritäten“, „Kernauftrag der Bundeswehr“, „Vorgaben für die militärische und strategisch-konzeptionelle Umsetzung“ und schließlich „V. Grundlagen für eine leistungsfähige Bundeswehr der Zukunft“.
Von Vornepräsenz bis zu internationalen Einsätzen bzw. Ertüchtigung von Partnern
„Vornepräsenz“ an den NATO-Außengrenzen werde zu einer zentralen Aufgabe des Bündnisses, der die Bundeswehr mit der neuen Litauen-Brigade (5.000 Bundeswehsoldat*innen werden dauerhaft in Litauen stationiert - lt. VPR das „Leuchtturmprojekt der Zeitenwende“) gerecht werde. Vornepräsenz meint, dass die weit in Richtung Russland vorgeschobenen NATO-Außengrenzen durch dort stationierte NATO-Kräfte verstärkt abgesichert werden sollen.
Parallel zur Landesverteidigung müsse man aber auch weiterhin zu internationalen Einsätzen bereitstehen: „Auch wenn sich unser Fokus auf die Sicherheit vor der Russischen Föderation richtet, steht Deutschland vor einer Vielzahl gleichzeitig wirkender, sich gegenseitig verstärkender sicherheitspolitischer Herausforderungen. So beeinflussen Krisen, Konflikte und regionale Spannungen unser unmittelbares Sicherheitsumfeld in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten, in der Arktis sowie im Indopazifik. China ist gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Es versucht, die regelbasierte internationale Ordnung nach seinen Vorstellungen umzugestalten.“ Damit sind Russland und China als „unsere“ Hauptgegner festgemacht.
Nachdem das (mindestens) 2%-Ziel der NATO - also dass alle zugehörigen Staaten mindestens 2% ihres BSP für Verteidigungsausgaben bereitstellen müssen - erneut betont wird, werden die üblichen weiteren Gefahren für Sicherheit und Wohlstand benannt: Bedrohung der Seewege, Proliferation (Weiterlieferung von Atomwaffen an Nichtatomwaffenstaaten), Waffenhandel, Klimawandel, Bedrohungen im Cyberraum, im Weltraum, KI-Herausforderungen usw.
Die VPR-Vorgaben werden dann in ein neues Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und in eine Militärstrategie überführt. „Die Verteidigungspolitischen Richtlinien bilden das Fundament für unsere künftigen militärischen Fähigkeiten. Sie sind die Leitplanken für unsere Strukturen, Führungskultur, Personalgewinnung, Ausrüstung und Ausbildung. Auf ihrer Grundlage formen wir ein neues gemeinsames Selbstverständnis von Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit“, so BW-Generalinspekteur Breuer bei der Vorstellung der VPR. Grundlegend für die Gesamtverteidigung sei lt. VPR „die Verzahnung aller relevanten Akteure bereits im Frieden: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.“
Gefordert wird auch eine Stärkung des EU-Pfeilers in der NATO, also eine Fortsetzung der Militarisierung der EU. Die EU hatte bereits 2022 einen neuen „Strategischen Kompass“ erarbeitet, dem gemäß die GSVP der EU (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) weiter forciert werden soll. Ebenfalls im Jahr 2022 hatte auch die NATO ein neues „Strategisches Konzept“ beschlossen. Auch an diese Dokumente knüpfen die VPR an. (Vgl. verschiedene Artikel in FriedensForum 6/2023: www.friedenskooperative.de/friedensforum/ausgaben)
Die nukleare Teilhabe Deutschlands in der NATO (Atombomben in Büchel und Bundeswehrpilot*innen, die diese im Ernstfall über Europa abwerfen) wird bekräftigt, um zur Abschreckung im Bündnis beizutragen. Der UN-Atomwaffenverbotsvertrag, dem Deutschland nicht beigetreten ist, ist keiner Erwähnung wert. Die zivil-militärische Verteidigung müsse intensiviert werden, also auch der sog. Heimatschutz. Dabei hat zivil-miliärische Verteidigung nichts mit „Ziviler Konfliktbearbeitung“ zu tun, sondern das Zivile soll hier das Militärische ergänzen und ihm unter- und zugeordnet zur Wirkung kommen.
Neben fortzuführenden Auslandseinsätzen will man weiterhin verstärkt auf die „Ertüchtigung“ von „strategischen Partnern“ im internationalen Bereich setzen. „Ertüchtigung“ meint, die Kriegsfähigkeit von strategischen Partner-Staaten (vor allem in Afrika und Nah-Mittel-Ost) durch Waffenlieferungen und militärischer Ausbildungshilfe zu stärken. Diese „Ertüchtigungs-Strategie“ wurde schon von Kanzlerin Merkel ersonnen, um die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu entlasten. Es gelte, so die VPR, „mit militärischer Ausbildungshilfe, Ausstattungshilfe sowie dem militärischen Anteil der Ertüchtigungsinitiative der Bundesregierung und mit Rüstungskooperationen zum Fähigkeitsaufbau und -ausbau beizutragen“.
„Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“
In den weiteren Ausführungen werden Umsetzungsschritte der Grundlagenorientierung beschrieben, vor allem in Richtung Beschaffungswesen, Personalgewinnung und Durchhaltefähigkeit. Das nationale Beschaffungswesen müsse ausgebaut und effizienter werden, durch „multinationale Beschaffungskooperationen und Exporte“ werden höhere Produktionskapazitäten erwartet. Martialisch heißt es: „Die Bundeswehr muss personell und materiell jederzeit durchhaltefähig einsatzbereit sein. Die neue Qualität der Bedrohung unserer Sicherheit und die brutale Realität des Krieges in der Ukraine verdeutlichen, dass wir unsere Strukturen und Prozesse am Szenario des Kampfes gegen einen mindestens ebenbürtigen Gegner ausrichten müssen: Wir wollen diese Auseinandersetzung nicht nur gewinnen, sondern wir müssen.“
Die deutsche Gesellschaft insgesamt solle sich – siehe Gedankenwende – an Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit gewöhnen und sich aktiv hinter die kriegsbereite Bundeswehr stellen. „Wehrhaftigkeit beschreibt die innere Haltung zur Verteidigungsbereitschaft der gesamten Bundeswehr mit langfristiger Strahlkraft in alle verteidigungsrelevanten Bereiche und in die deutsche Gesellschaft. Die Bundeswehr einschließlich der Reserve gehört in die Mitte der Gesellschaft. (,,,) Die Bundeswehr wird daher den wechselseitigen und kontinuierlichen Austausch mit der Gesellschaft weiter pflegen und das Verständnis dafür fördern, dass Wehrhaftigkeit zum Schutz Deutschlands eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.“ Dem soll auch eine neue „von der Gesellschaft getragene Veteranen- und Gefallenenkultur“ dienen. Zum Selbstverständnis von Wehrhaftigkeit gehörten „Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“ und „Soldatinnen und Soldaten, die den Willen haben, unter bewusster Inkaufnahme der Gefahr für Leib und Leben das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“.
Ein sicherheitspolitisches Armutszeugnis
Die neuen VPR sind ein sicherheitspolitisches Armutszeugnis des Verteidigungsministeriums und der Ampelkoalition insgesamt. Indem die VPR an die neue Nationale Sicherheitsstrategie von Juni 2023 und an die Zeitenwende-Rede von Kanzler Scholz anknüpfen, fordern sie eine Intensivierung des rasanten Aufrüstungskurses der Bundeswehr. Mit der wiederholten Wendung von der „Kriegstüchtigkeit“ wird ein Krieg mit Russland geradezu herbeigeredet. Verschiedene regierungsnahe „Wissenschaftler*innen“ unterstreichen dementsprechend immer wieder, dass ein Angriffskrieg Russlands – nach Beendigung des Ukraine-Krieges – auf NATO-Staaten durchaus einkalkuliert werden müsse.
Real ist allerdings die Gefahr einer – ggf. unbeabsichtigten – Eskalation des Ukraine-Krieges bis hin zu einem Atomkrieg in Europa. Dem aber müsste anders begegnet werden, als den Ukraine-Krieg mit Waffenlieferungen zu verlängern. Stattdessen müsste auf eine längst mögliche Verhandlungslösung und auf Diplomatie gesetzt werden. Die russischen Vorschläge für neue sicherheitspolitische strategische Vereinbarungen von Dezember 2021 wurden sowohl von NATO als auch von den USA ohne substantielle Auseinandersetzung abgeschmettert. Die im März 2022 in Istanbul nahezu erreichte Verhandlungslösung wurde von der NATO unterlaufen und zunichte gemacht.
Die VPR sind aber auch in ihrer völlig einseitig militärisch und national-interessiert interpretierten Sicherheitswahrnehmung ein Desaster. Dass Europa langfristig wieder eine gemeinsame Friedensperspekrive (auch mit Russland) braucht, kommt überhaupt nicht in den Blick. Überlegungen aus der alternativen sicherheitspolitischen Forschung wie Perspektiven einer „Gemeinsamer Sicherheit in Europa“ oder abrüstungspolitisch orientierte Modelle von Sicherheitsarchitekturen werden nicht angesprochen.
Vorschläge aus der Friedensbewegung, wie z.B. von der Initiative „Sicherheit neu denken“ formuliert, oder Überlegungen zu „menschlicher Sicherheit“ bzw. zu einer „Friedenslogik“ (Hanne-Margret Birckenbach) oder zu „Ziviler Konfliktbearbeitung“ (Andreas Buro) finden sich hier nicht einmal in Spurenelementen. Weiterreichende Modelle aus der Friedensbewegung, wie die gesamte gesellschaftliche Umstellung auf „Soziale Verteidigung“ bleiben sowieso außen vor. Auch die einschlägigen auf gemeinsame Sicherheit setzenden Gremien wie die UN oder die OSZE werden nur quasi nebenbei erwähnt. Ein Jahr vor den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes wird dieses in den VPR zwar am Rande erwähnt, aber der Friedensauftrag des Grundgesetzes wird systematisch und gründlich missverstanden.
Der Text der VPR kann auf der Seite des BMVg (bmvg.de) nachgelesen werden.
Martin Singe arbeitet im Redaktionsteam des FriedensForums und war langjähriger Referent beim Grundrechtekomitee.