Vorboten des Berliner Wahlkampfes

Berliner Verfassungsschutz stellt „Studie“ zu „linker Gewalt“ vor

 

Ende Januar 2016 präsentierte Berlins Innensenator Frank Henkel die als „Studie“ bezeichnete Datenauswertung „Linke Gewalt in Berlin 2009-2013“ des Berliner Verfassungsschutzes – nur wenige Tage nach der umstrittenen Razzia in der Rigaer Straße, an der über 500 Polizist*innen und das SEK beteiligt waren, um ein Hausprojekt ohne Durchsuchungsbeschluss zur „Gefahrenabwehr“ zu durchsuchen.

 

Als Datengrundlage dieser 70-seitigen „Studie“ dienen 1.500 Gewalttaten, die die Polizei als Delikte des Phänomenbereichs „Politisch motivierte Kriminalität – links“ (PMK - links) eingestuft hat. Ausgewertet werden Daten über Taten, Tatverdächtige und Opfer. Sie ist die Fortsetzung einer Untersuchung des Berliner Verfassungsschutzes über die Jahre von 2004 bis 2008.

 

CDU-Innensenator Henkel möchte mit der Untersuchung „einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über linke Gewalt liefern“ und einen „gesellschaftlichen Konsens“ gegen „linksmotivierte Gewalt“ erreichen.

 

Um es vorweg zu sagen: Diese Broschüre ist grottenlangweilig, besitzt keinen Informationsgehalt, und der Erkenntnisgewinn ist gleich Null. Aber was anderes sind wir von Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes ja auch nicht gewohnt.

 

Dennoch hier die Ergebnisse in aller Kürze:

 

  • Knapp 80 Prozent der Tatverdächtigen sind unter 30 Jahre alt. Bei den meisten Tatverdächtigen handelte es sich um Männer (84 Prozent).
  • Dreiviertel aller „linken Gewalttaten“ werden von Gruppen oder einzelnen aus einer Gruppe heraus begangen.
  • Über die Hälfte der Gewalttaten ist in Friedrichshain (24 Prozent), Kreuzberg (21 Prozent) und Mitte (13 Prozent) begangen worden. Gefolgt von Neukölln und Pankow (8 Prozent).
  • Die häufigsten Tatvorwürfe sind Landfriedensbruch (29 Prozent), Körperverletzung (28 Prozent), Brandstiftung (25 Prozent) sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamt*innen (13 Prozent).
  • Knapp über die Hälfte der linken Gewalttaten (52 Prozent) stand im Zusammenhang mit Versammlungen und öffentlichen Veranstaltungen.

 

Datengrundlage der Auswertung ist das Definitionssystem des polizeilichen Staatsschutzes. Danach melden die Landespolizeien die von ihnen als politisch motiviert bewerteten Straftaten im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes Politisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) dem Bundeskriminalamt (BKA). Die Daten basieren auf einem frühen Erkenntnisstand im Ermittlungsverfahren. Es handelt sich um Tatverdächtige einer Straftat, nicht um gerichtlich Verurteilte. Ob der Tatvorwurf sich überhaupt bestätigt hat, Gerichtsverfahren eingeleitet wurden und wie diese jeweils ausgegangen sind, erfährt man nicht. Denn diese Erkenntnisse fließen nicht mehr in die PMK ein. Korrekterweise muss man daher von Tatverdächtigen und nicht von Straftäter*innen und von Tatvorwurf und nicht von Tat sprechen. Denn es ist nicht gesagt, dass das Gericht der Bewertung der Polizei folgt.

 

Doch mit diesem kleinen, aber feinen Unterschied nimmt es der Verfassungsschutz – ebenso wie die darüber berichtende Presse – nicht immer so genau: So schreiben die Verfassungsschützer*innen, dass die Polizei Straftäter*innen mit dem personengebundenen Hinweis (PHW) ‚Straftäter linksorientiert‘ erfasst und speichert, „wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie eine Straftat aus linksorientierten politisch motivierten Beweggründen begangen haben“. Tatsächlich speichert sie bereits Tatverdächtige, gegen die lediglich ein polizeiliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde – unabhängig davon, ob sie rechtskräftig verurteilt wurden.

 

Die Datenbasis der „Studie“ ist äußerst gering, ihre Aussagekraft mehr als dürftig: Bei den 1.500 linken Gewaltdelikten hat die Polizei in rund 900 Fällen keine Tatverdächtigen ermitteln können; lediglich bei gut 600 Taten hat sie überhaupt Personalien feststellen können. Zu Wohnsituation, Bildungsniveau und Einkommen sind die Fallzahlen so gering, dass sie nicht mal ansatzweise repräsentativ sind, wie selbst der Verfassungsschutz vermerkt.

 

Das hat natürlich das Berliner Boulevardblatt „B.Z.“ nicht davon abgehalten, uns den „typischen Berliner Linksradikalen“ zu erklären, der angeblich etwa 21–24 Jahre alt, ohne Job und gewalttätig ist und „noch daheim bei Mutti“ wohnt. Der Vorsitzende des Innenausschusses, Peter Trapp (CDU), wollte die Ergebnisse der Untersuchung als „Alarmzeichen“ verstanden wissen: „Wir haben eine schrumpfende Szene, die aber gewalttätiger geworden ist.“ Er fordert daher sogar Präventionsmaßnahmen, die im Elternhaus ansetzen. Tom Schreiber, der verfassungsschutzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, twitterte, „92 % der politischen Zwerge wohnen noch bei Mutti. 16% sind ohne Schulabschluss. Sie kämpfen also gegen Dinge, wovon sie nichts verstehen.“

 

„Tagessspiegel“-Reporter Tiemo Rink hat dankeswerterweise für die beiden nachgerechnet, was an der „Nesthockerlegende“ dran ist: Die Berliner Polizei hat in den Jahren 2009 bis 2013 jedes Jahr statistisch gesehen knapp zwölf mutmaßlich linksextreme Straftäter*innen aufgegriffen, die angaben, noch zu Hause zu wohnen.

 

Doch in Berlin wird im September gewählt und im Wahlkampf spielen solche Differenzierungen keine Rolle mehr. Bereits 2011 hatte Innenpolitiker Frank Henkel als Spitzenkandidat der CDU den Berliner Wahlkampf mit markigen Sprüchen gegen die vermeintlich zunehmende „linke Gewalt“ bestritten: „Ich werde es nicht hinnehmen, wenn einige Durchgeknallte eine Kiez-Diktatur errichten wollen“. Damals war es die Serie der Autobrandstiftungen, die die Berliner Polizei fälschlicherweise größtenteils als politisch linksmotiviert deklariert hatte. Auch in diesem Wahlkampf scheint das Schreckgespenst der „linken Gewalt“ für den Innensenator wieder herhalten zu müssen.

 

Christian Schröder (Mitglied im Vorstand des Grundrechtekomitees)