08. Mai 2023 © picture alliance/ dpa/dpa-Zentralbild, Monika Skolimowska
Neoliberalismus/Kapitalismus / Soziale Menschenrechte

„Wir brauchen konkrete Brüche des herrschenden Rechts“ Streik: Ein wichtiges Mittel zur Gegenwehr

Der 2020 gegründete Fahrradliefer­dienst „Gorillas“ hat inzwischen viel Konkurrenz. Allen gemeinsam sind die schlechten Arbeitsbedingungen, wie Zeitdruck, Niedriglöhne, Befristungen, mögliche Überwachung durch eine App, sowie das Verbot der Organisierung als Betriebsrat. Bei Gorillas haben Ar­beiter­*innen sich als „Gorillas Workers Collective“ organisiert. Wir haben mit Christoph Wälz ein In­terview zum politischen Streik und die „Kampagne für ein umfassendes Streik­ recht“ geführt. Er ist Mitglied der GEW Berlin und in der Kampagne aktiv.

Warum habt ihr die Kampagne für ein umfassendes Streikrecht gegründet?

Die Kampagne hat ihre Wurzeln in der Solidarität mit den Kämpfen der Gorillas- Beschäftigten. Die Mitarbeitenden des Lieferdienstes hatten gegen ihre schlech­ten Arbeitsbedingungen mehrfach mit „wilden“, also formell nicht über eine große Gewerkschaft geführten, Streiks protestiert. Viele von ihnen wurden dafür gefeuert. Es entstand dann ein ­ Solidaritätskreis um die Entlassenen, ­ der deren juristische Auseinander­set­zung unterstützt.

Außerdem entstand in der GEW Berlin eine AG für ein um­ fassendes Streikrecht. Ausschlagge­bend dafür war die Erkenntnis, dass wir als DGB-Gewerkschafter*innen preka­ri­sierte migrantische Kolleg*innen im Kampf für ihre Rechte nicht alleine ­lassen können, nur weil diese mit ihren Streiks nicht auf einen gewerkschaftli­chen Streikaufruf gewartet haben. Wir verstehen das Streikrecht als umfas­send, weil es als Grund- und Menschen­ recht das wichtigste Mittel zur Gegen­wehr in der Hand der Arbeitenden ist.

Die ehemaligen Gorillas-­Fahrer*­Innen gehen teilweise gerichtlich gegen ihre Kündigungen vor. Was erhofft ihr euch von den Prozessen?

Es geht in diesen Prozessen um die grundsätzliche Klärung zu verbandslosen Streiks. Verstößt ein Aufruf zu ­einem Streik und die Teilnahme daran gegen die arbeitsvertraglichen ­ ­Pflichten, wenn zu diesem Streik keine Gewerkschaft aufruft? Eine gewerk­schaftliche Organisierung bis hin zu festen organisatorischen Strukturen und Forderungen, die auch von den Gerichten als „tariffähig“ anerkannt werden, ist zeitaufwendig. Das ist in Unternehmen wie Gorillas, in denen vorrangig Beschäftigte in der Probezeit und mit unsicheren Aufenthaltsbedin­gungen arbeiten, äußerst schwierig.

Einige Kolleg*innen haben sich ent­schieden, ihre Kündigungsschutzklage mit der Perspektive zu verbinden, die Rechte von Arbeiter*innen in Deutsch­land zu verbessern. Sie sind entschlos­sen, ihren Fall bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, wenn die deutschen Gerichte an der tradierten Auffassung fest­hal­ten sollten.

Immer wieder wurde die Rechtsauf­fassung der deutschen Gerichte von der europäischen Ebene aus kritisiert. Die Europäische Sozialcharta ist auch die GEW hat über viele Jahre hinweg Präzedenzfälle beim Beamt*innenstreik geschaffen und diese juristisch bis zum Europäischen Gerichtshof für Men­schenrechte getrieben.

Am 1. März 2023 wurde dort von 17 Richter*innen aus verschiedenen europäischen Ländern über die Zulässigkeit des Beamt­*in­nenstreiks verhandelt, nachdem das Bundesverfassungsgericht 2018 noch die obrigkeitsstaatliche Sicht auf das „besondere Treueverhältnis“ des „Be­amten zu seinem Dienstherren“ unter­strichen hatte.

Mit einem Urteil ist erst in einigen Monaten zu rechnen. Wir denken, dass beamtete Lehrkräfte und Gorillas-Fahrer*innen ein gemein­sames Interesse haben, sich kollektiv für bessere Arbeitsbedingungen einzu­setzen, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen.

Unsere Kampagne ist ein Zusammenschluss von Initiativen und Ein­zelpersonen, der solche Allianzen wie diese entwickeln und unterstützen will. Die Beispiele dieser Berufsgruppen zeigen auch, wie es beim ­ ­ politischen Streik funktionieren kann: Wir brau­chen konkrete Brüche des herrschen­ den Rechts, dann breite Solidarität und eine übergreifende politische Kampag­ne. Nur wenn es einen konkreten Fall gibt, ­ können Gerichte die juristische Konstellation auch neu bewerten.

Seit Jahrzehnten trauen sich Gewerk­schaften jedoch nicht an eine umfas­sende Legalisierung des politischen Streiks heran, weil sie Angst vor Schadenersatzforderungen der Unter­nehmen haben. Dabei könnte ein Prä­zedenzfall auch in einem kleinen Un­ternehmen mit kalkulierbaren Kon­sequenzen herbeigeführt werden.

Warum ist das Streikrecht in Deutschland vergleichsweise so eingeschränkt?

In Deutschland gibt es einerseits eine unheilvolle Rechtstradition. So wurde das heutige kollektive Arbeitsrecht von dem Juristen Hans Carl Nipperdey geprägt. Er hatte während des Faschismus das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ kommentiert und sich in der „Akademie für Deutsches Recht“ an der Umsetzung der faschistischen Ideologie in Gesetze beteiligt.

Ab 1954 war Nipperdey Präsident des Bundesarbeitsgerichts und interpretierte Streiks dabei nicht als gewollte Grundrechtsausübung, sondern als zu vermeidendes Übel. Bis heute steht das deutsche Streikrecht in dieser Tradition. Politische und verbandslose Streiks wie auch Streiks von Beamt*innen gelten als rechtswidrig. Generalstreiks wie in Frankreich gegen die Rentenreform werden von den deutschen Gewerkschaften meist gar nicht erwogen, weil dies verboten sei.

Anderseits ist die rechtliche Regelung von Streiks auch immer eine Frage der Praxis und der Stärke der Lohnabhängigen. Historisch konnten Gewerkschaften und widerständige Betriebsgruppen rechtliche Spielräume gewinnen, wenn sie das herrschende Recht übertraten.

Wenn aber nur noch selten gestreikt wird oder Gewerkschaften nur noch im Rahmen von sozialpartnerschaftlich geführten Tarifrunden mobilisieren, dann wird auch das Streikrecht im Sinne des Kapitals zunehmend als sehr eingeschränkt interpretiert.

Das Verständnis für Unterbrechungen durch Streik scheint gesellschaftlich in Deutschland nicht sehr anerkannt. Wie ist das zu erklären?

Darin drückt sich aus, wie tiefgehend die herrschende Rechtsauffassung von Streiks als zu vermeidendes Übel verinnerlicht wurde. Außerdem haben bisher viel zu wenige Menschen selber Erfahrungen mit erfolgreichen Streiks gemacht.

Es gibt aber auch wichtige gegenläufige Entwicklungen. So gelingt es insbesondere der Gewerkschaft ver.di in den letzten Jahren verstärkt, ihre Tarifkämpfe – vor allem in Pflege und Nahverkehr, aber auch im Sozial- und Erziehungsdienst – als gesellschaftlich wichtige Anliegen zu führen und entsprechende Bündnisse aufzubauen.

Besonders hervorzuheben ist dabei das Zusammengehen mit der Klimabewegung. Zuletzt gelang ein wiederholter und dieses Mal auch bundesweiter Schulterschluss von Klima-Aktivist*innen und Streikenden im Nahverkehr. Hier deutet sich eine strategische Allianz an, die entscheidend werden kann, um auch das Recht auf politischen Streik durchzusetzen.

Seit 2018 kamen neue Impulse für die Ausweitung des Streikrechts aus der feministischen Bewegung und der Klimabewegung. Es ist sehr wichtig, dass diese jetzt auch praktische Streiksolidarität in Tarifkämpfen üben. Der Aufschrei der bürgerlichen Presse, dass Streiks damit unzulässig politisiert würden, zeigt nur, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Zuletzt hatten verschiedene Politiker*innen in Medien weitere Einschränkungen des Streikrechts gefordert, etwa bei Streiks in Infrastrukturbereichen. Wie schätzt ihr diese Drohungen ein?

Das ist eine reale Gefahr. Hier zeigt sich, dass selbst das stark eingeschränkte deutsche Streikrecht nicht gesichert ist. In Großbritannien erleben wir seit dem Sommer 2022 die größte Streikwelle seit vier Jahrzehnten. Hier weiß sich die Regierung nicht mehr anders zu helfen, als die Streiks durch weitere Rechtsbeschränkungen zu brechen.

Der Kampf für einen echten Inflationsausgleich und für ein Grundrecht wird von den britischen Gewerkschaften als ein gemeinsames Ziel verfochten. Diese Herausforderung kommt auch auf uns in Deutschland zu, wenn wir – wie in den letzten Monaten – verstärkt in den Arbeitskampf treten.

Wie kann in Deutschland das Verbot des politischen und Beamtenstreiks gekippt werden?

Wir denken, dass beamtete Lehrkräfte und Gorillas-Fahrer*innen ein gemeinsames Interesse haben, sich kollektiv für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen. Unsere Kampagne ist ein Zusammenschluss von Initiativen und Einzelpersonen, die solche Allianzen wie diese entwickeln und unterstützen will.

Die Beispiele dieser Berufsgruppen zeigen auch, wie es beim politischen Streik funktionieren kann: Wir brauchen konkrete Brüche des herrschenden Rechts, dann breite Solidarität und eine übergreifende politische Kampagne. Nur wenn es einen konkreten Fall gibt, können Gerichte die juristische Konstellation auch neu bewerten.

Im Grundgesetz heißt es in Artikel 9, dass die Bildung von Vereinigungen zur „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ für alle gewährleistet ist. Das wurde seit Jahrzehnten so verstanden, dass Gewerkschaften das Recht haben, gegenüber einem Arbeitgeber zum Streik für tarifvertragliche Ziele aufzurufen.

Im Zeitalter des Klimakollapses zeigt sich aber immer mehr, dass Probleme unserer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in diesem Rahmen nicht zu lösen sind. Eine ökologische Transformation der Wirtschaft im Sinne der Arbeitnehmer*innen braucht auch ein politisches Streikrecht.

Seit Jahrzehnten trauen sich Gewerkschaften nicht an eine Legalisierung des politischen Streiks heran, weil sie Angst vor Schadenersatzforderungen der Unternehmen haben. Dabei könnte ein Präzedenzfall auch in einem kleinen Unternehmen mit kalkulierbaren Konsequenzen herbeigeführt werden.

Was plant ihr für die nächsten Monate?

Die Arbeit der Kampagne hat nach unserer gut besuchten Saal-Kundgebung am Tag der Menschenrechte im Dezember 2022, nach einer Kundgebung vor der britischen Botschaft, einer Kundgebung Ende April zur Solidarität mit den Gorillas-Beschäftigten und mehreren Interviews und Artikeln bundesweit Beachtung gefunden. Es sind Treffen und Diskussionen mit verschiedenen Initiativen geplant. Interessierte sind herzlich willkommen.

In der GEW wollen wir die Diskussion um das Beamtenstreikrecht neu beleben. In Berlin bekommen gerade tausende angestellte Lehrkräfte ein Angebot zur Verbeamtung und machen sich Gedanken über einen möglichen Statuswechsel, sie wägen die Vor- und Nachteile ab. Da ist die Möglichkeit einer grundsätzlichen Revision des deutschen Streikrechts natürlich interessant.

 

Infos zur Kampagne: rechtaufstreik.noblogs.org
Das Interview führte Sebastian Bähr