Zwischen Staatskritik und Staatsillusion

Joachim Hirsch Vortrag Berlin 17.3.2007 Vorbemerkung „Die Welt verändern“ steht im Titel dieser Veranstaltung. Das erinnert an das Buch von John Holloway: „Die Welt verändern ohne die Macht zu ergreifen“. Damit ist vor allem der Staat gemeint. Aber wie sollen Veränderungen geschehen ohne Staat und ohne Macht? Will man dies beantworten, so muss man sich zunächst einmal darüber klar werden, um was es sich bei „Staat“ eigentlich handelt. Und da es zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen sehr unterschiedliche Staaten gegeben hat und gibt, ist zu fragen, was ihre konkrete Gestalt und vor allem was deren Veränderungen bestimmt.

Wenn hier vom Staat und seinen aktuellen Transformationen die Rede ist, so verdankt sich die Argumentation in großem Maße auch den Arbeiten von Wolf-Dieter Narr, der sich schon sehr frühzeitig mit diesem Thema befasst und wichtige Beiträge zur Debatte erarbeitet hat.Vielleicht ist es auch notwendig, zu begründen, weshalb die Staatsfrage auf einer Veranstaltung auf der Tagesordnung steht, die sich mit den Menschenrechten befasst. Dies hängt damit zusammen, dass Menschenrechte, sollen sie nicht nur auf dem Papier stehen, eben durchgesetzt werden müssen. Fragt sich nur wie? Etwa durch Staaten, die selbst sehr oft grundlegende Menschenrechte verletzen? Wir haben es hier also offensichtlich mit einem recht widersprüchlichen Verhältnis zu tun. Die Staatsfrage ist nicht zuletzt angesichts dessen wichtig, dass die in den letzten Jahrzehnten durchgesetzte Transformation der Staaten und des Staatensystems das Problem der Menschenrechte und der Demokratie in vielfacher Weise neu aufgeworfen und erheblich verschärft hat.

Einleitung

Vor allem die neoliberale Globalisierungsoffensive mit ihren desaströsen sozialen und politischen Folgen hat die Staatsfrage insgesamt wider in die Diskussion gebracht. Sie ist bekanntlich ein permanenter Streitpunkt in der linken theoretischen und politischen Debatte. In der etablierten Wissenschaft ist man immer noch geneigt, das Ende des Staates oder zumindest seine stark abnehmende Bedeutung zu verkünden. Bei der wie immer höchst buntscheckigen Linken ist das Bild eher diffus. Auf der einen Seite findet man eine bemerkenswerte Affinität zum Nationalstaat in der Form, wie er sich in der Phase des Fordismus herausgebildet hatte, also als ökonomisch und gesellschaftlich intervenierender Sozialstaat. Dem gegenüber steht die - im Übrigen mit neoliberalen Einschätzungen eigentümlich korrespondierende - Auffassung, der Staat spiele eigentlich keine Rolle mehr oder habe zumindest als Ansatzpunkt emanzipativer Politik ausgedient. So der Tenor linker Beststeller wie etwa Hardt und Negris „Empire“ oder das schon genannte Buch von John Holloway. Geht es also um eine Stärkung des Staates oder um Politik ohne oder gegen den Staat? Offensichtlich gibt es viele offene Fragen sowohl theoretischer Natur als auch in Hinblick auf politische Handlungsoptionen.

Was ist der Staat?

Erinnern wir uns zunächst einmal an die materialistische Staatskritik und halten fest, dass der Staat der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft keinesfalls eine neutrale, für pluralistische Einflussnahme oder demokratische Willensbildung offene Instanz oder gar als eine Form der Selbstorganisation des Volkes begriffen werden kann. Viel mehr beruht die Herausbildung eines zentralisierten und von der Gesellschaft getrennten Gewaltapparats auf den Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise. Diese ist durch Privateigentum, Privatproduktion, Konkurrenz und die über den Markt vermittelte Erzeugung und Aneignung von Mehrwert und Profit gekennzeichnet. Dies hat zur Folge, dass die ökonomisch herrschende Klasse nicht unmittelbar politisch herrschen kann und die sozialen Antagonismen und Kämpfe durch eine besondere, von den gesellschaftlichen Klassen und Gruppen formell getrennte Zwangsapparatur im Zaum gehalten werden müssen. Der moderne Staat mit seinen spezifischen Charakteristika wie die Trennung von „Staat“ und „Gesellschaft“ und das physische Gewaltmonopol bildet sich demzufolge tatsächlich erst im Zuge der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse heraus. Und er muss als deren integraler Bestandteil betrachtet werden. Er ist in seiner Struktur drauf angelegt, diese Produktionsverhältnisse zu erhalten. Dies geschieht durch eine ganze Reihe eingebauter Selektivitäten, auf die ich jetzt nicht eingehen will. Auf jeden Fall sind der organisatorische Bestand und die Funktionsfähigkeit der Staatsapparatur von einem relativ krisenfreien Verlauf des kapitalistischen Akkumulations- und Verwertungsprozesses abhängig. Der Staat ist demnach keine neutrale, allen Interessen gleichermaßen offen stehende Instanz und auch kein Subjekt mit eigenem Willen, sondern, um mit Poulantzas zu sprechen, die materielle, d.h. in spezifischen Institutionen geronnene Verdichtung eines antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisses. Er ist Klassenstaat, ohne in der Regel das unmittelbare Instrument der herrschenden Klasse sein zu können. Diese besondere Gestalt der kapitalistischen Herrschaftsapparatur ist allerdings auch die Grundlage der „Staatsillusion“, d.h. der Vorstellung, der Staatsapparat könne grundsätzlich für alle gesellschaftlichen Interessen verfügbar gemacht werden. Daraus lässt sich zunächst einmal der Schluss ziehen, dass eine emanzipative, die bestehenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse überwindende Politik mittels des Staates nicht möglich ist. Diese Erkenntnis wird durch das Scheitern sowohl der kommunistischen Revolutionen als auch des ursprünglichen sozialdemokratischen Projekts einer allmählichen, demokratisch vorangetriebenen Überwindung oder zumindest „Zivilisierung“ des Kapitalismus historisch recht nachdrücklich belegt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bis hin zur neoliberalen Restauration weitgehend ungebändigter Profit- und Marktbeziehungen legt davon ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Das ist freilich nur die eine Seite, denn der Staat besitzt – als Ausdruck antagonistischer gesellschaftlicher Verhältnisse – selbst einen durchaus widersprüchlichen Charakter. Er ist kein geschlossener Apparat, sondern bildet selbst ein Terrain sozialer Kämpfe. Nicht zuletzt konnten sich liberaldemokratische Verhältnisse überhaupt erst im modernen, bürgerlich-kapitalistischen Staat herausbilden. Die Trennung von „Staat“ und „Gesellschaft“ und die Herausbildung eines zentralisierten, handlungsfähigen und damit auch kontrollierbaren Gewaltapparats bilden ebenso ihre Voraussetzung wie die Schaffung geografisch abgegrenzter ökonomischer Reproduktionszusammenhänge sowie eines politisch definierten „Volks“. Die Entstehung des modernen kapitalistischen Staates war daher die Voraussetzung für die Erkämpfung bürgerlich-demokratische Rechte, die allerdings nur in wenigen Teilen der Welt erfolgreich waren und deren relative Wirksamkeit prinzipiell auf einzelne Staaten beschränkt blieben. Die Existenz einer zentralisierten Gewaltapparatur ist unter den heute gegebenen Bedingungen nicht zuletzt eine Voraussetzung für im weitesten Sinne sozialstaatliche Sicherungs- und Umverteilungsmaßnahmen. Nun findet allerdings die liberale Demokratie ihre Schranke nicht nur an ihrer Begrenztheit auf einzelne Staaten, sondern vor allem im Privateigentum an Produktionsmitteln, dessen Existenz demokratischen Prozessen klare Grenzen setzt. Liberale Demokratie in der hergebrachten Form bedeutet damit keineswegs umfassende Selbstbestimmung, sondern stellt bestenfalls begrenzte Mitwirkungsrechte für das so genannte Volk bereit. Damit beende ich den kleinen Ausflug in die kritisch-materialistische Staatstheorie und komme zu der Frage, wie es sich mit dem Staat unter den heutigen Bedingungen verhält.

Folgen der neoliberalen Offensive

Die als „Globalisierung“ bezeichnete neoliberale Umstrukturierung des Kapitalismus, die nach der Krise des fordistischen Nachkriegskapitalismus durchgesetzt wurde, muss im Kern als ein Angriff auf die demokratischen Errungenschaften betrachtet werden, die im Laufe des 20. Jahrhunderts erkämpft worden waren. Mit der ökonomischen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik schränkten die Staaten ihre politischen Handlungsspielräume entscheidend ein. Dies hat zur Folge, dass demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse an den ökonomischen „Sachzwängen“ des Weltmarkts, oder genauer gesagt, an den Verwertungs- und Profitinteressen eines sich immer mehr internationalisierenden Kapitals aufzulaufen drohen. Der fordistische Sozialstaat hat sich dadurch in einen „nationalen Wettbewerbsstaat“ verwandelt. In diesem hat die Optimierung kapitalistischer Verwertungsbedingungen in der „Konkurrenz der Standorte“ oberste politische Priorität. Nicht zuletzt verbindet sich mit der ökonomischen Globalisierung eine Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse auf die internationale Ebene, auf der praktisch überhaupt keine demokratischen Institutionen vorhanden sind. Damit ist ein so genannter „neoliberaler Konstitutionalismus“ entstanden, d.h. ein System von internationalen Institutionen und Verfahren – von der WTO bis zur EU -, das die Sicherung kapitalistischer Eigentums- und Verwertungsrechte unabhängig von den einzelstaatlichen demokratischen Prozessen garantiert. Diese bleiben zwar erhalten und sind und auch formell mehr oder weniger funktionsfähig. Praktisch drohen sie aber zunehmend leer zu laufen. In der Politikwissenschaft wird dieser Zustand neuerdings als „Post-Demokratie“ bezeichnet. Folge dieser Entwicklung ist eine strukturelle politische und soziale Krise. Politisch handelt es sich um vor allem eine Krise der Repräsentation, die sich in einem deutlichen Zerfall der traditionellen Parteiensysteme, in Wahlabstinenz und gravierenden Legitimationsverlusten der politischen Klasse äußert. Gleichzeitig haben wachsende materielle Ungleichheiten, Marginalisierungs- und Ausgrenzungsprozesse sowie die Privatisierung und Vermarktlichung der sozialen Beziehungen zu einer Art Entgesellschaftlichung der Gesellschaft geführt. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist prekärer geworden und muss immer stärker gewaltförmig oder durch ideologische Manöver gesichert werden. Davon legt der beschleunigte Ausbau des Sicherheitsstaats ebenso Zeugnis ab wie der sich ausbreitende Nationalismus, Rassismus und Wohlfahrtschauvinismus nicht zuletzt in den kapitalistischen Zentren. So betrachtet, kann von einem Bedeutungsverlust des Staates offensichtlich kaum die Rede sein. Mit dieser Entwicklung stellt sich die demokratische Frage und die Frage der – nicht zuletzt sozialen – Menschenrechte in neuer Form und unter historisch stark veränderten Bedingungen. Weitgehend offen ist allerdings, wie unter diesen Bedingungen eine emanzipative Politik aussehen könnte und welche Rolle der Staat dabei spielt.

Was heißt emanzipative Politik heute?

Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass eine Rückkehr zum Nationalstaat fordistischen Typs angesichts der gründlich veränderten ökonomischen und politischen Konstellationen kaum möglich sein wird. Wenn wir noch einmal auf die materialistische Staatskritik zurückkommen, ist dies allerdings auch gar nicht unbedingt wünschbar. Die einzelstaatlich verfasste Liberaldemokratie herkömmlichen Typs ist und bleibt ein Verhältnis von Herrschaft und Ausgrenzung und sie setzt demokratischer Selbstbestimmung strukturelle Grenzen. Eine emanzipative Politik auf der Höhe der Zeit muss also ihre Grenzen in mehrfacher Hinsicht überschreiten. Was Not tut, ist sowohl eine Ausweitung demokratischer Institutionen und Verfahren auf die internationale Ebene als auch eine entschiedene Erweiterung der politischen zur gesellschaftlichen Demokratie. Die herrschende politische und soziale Krise mit den daraus entstehenden Konflikten könnte durchaus Potentiale in sich bergen, Entwicklungen in dieser Richtung anzutreiben. Sie hat zumindest einiges dazu beigetragen, das Vertrauen in etatistische Projekte der Gesellschaftsveränderung zu untergraben und damit den Raum für einen neuen Begriff demokratischer Politik freizulegen. Dazu, wie dies aussehen könnte, nur ein paar ganz kurze Überlegungen: (1) Wenn wir davon ausgehen, dass die bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse nicht allein auf kapitalistischem Privateigentum und Marktbeziehungen, sondern auf komplexen Lebensverhältnissen, Wertvorstellungen, Konsumstilen, Formen der Arbeitsteilung, Geschlechter- und Naturverhältnissen beruhen, so wird deutlich, dass eine emanzipative Politik grundsätzlich nicht staatszentriert sein kann und vorab auf gesellschaftliche Veränderungen zielen muss. D.h. es käme darauf an, die „Zivilgesellschaft“, von der im politischen und wissenschaftlichen Feuilleton so viel die Rede ist, im Sinne neuer Lebens- und Arbeitsformen umzuwälzen. Dies geht, wie die gescheiterten Revolutionen des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, nicht mittels staatlicher Politik, sondern setzt die Aktivität gesellschaftlicher Bewegungen, Initiativen und Projekte voraus, die auf Selbstorganisation und praktische Veränderung des Lebens zielen. Man sollte vielleicht daran erinnern, dass wichtige gesellschaftliche Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte, um nur etwa das Natur- und Geschlechterverhältnis zu nennen, nicht vom Staat, sondern von sozialen Bewegungen eingeleitet wurden. Ihre spätere staatsförmige Bearbeitung hat insgesamt dazu geführt, sie zu neutralisieren und zurück zu schneiden. Wenn der Staat ein Ausdruck bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse ist, so ist deren Umwälzung die Voraussetzung für eine demokratische Veränderung der politischen Herrschaftsapparatur. Es ginge also sozusagen um eine soziale und kulturelle Revolution, ohne die eine bloß politische scheitern muss. Wir haben dies „radikalen Reformismus“ genannt: radikal, weil auf die Wurzeln der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zielend, reformistisch, weil es sich dabei auf jeden Fall um langwierige, komplizierte und schrittweise Veränderungen handeln würde. Sie setzen eine Veränderung von Wertvorstellungen, Verhaltensweisen und sozialen Beziehungen voraus, die nicht durch staatliche Intervention durchgesetzt werden können. Staatliche Politik kann diese mehr oder weniger behindern oder erleichtern, bildet aber nicht ihr Zentrum und ihr Angelpunkt. (2) Gesellschaftliche Prozesse dieser Art sind grundlegend für jeden wirklichen Demokratisierungsprozess und sind eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung demokratischer Strukturen jenseits des einzelstaatlichen Systems. Dabei käme es darauf an, den herrschenden neoliberalen Konstitutionalismus mit einem demokratischen Konstitutionalismus zu konfrontieren. Das heißt z.B. eine Demokratisierung internationaler Organisationen etwa durch die Durchsetzung formalisierter Partizipations-, Konsultations- und Informationsrechte, die diese zumindest öffentlich und damit überhaupt erst kontrollierbar machen. Dazu gehört die Garantie grundlegender – politischer wie sozialer Menschenrechte unabhängig von der individuellen Staatsbürgerschaft. Notwendig wäre dafür neben einer Stärkung des internationalen Strafgerichtshofs, der bislang ohnehin im wesentlichen den Interessen der starken Staaten gehorcht, die Etablierung eines internationalen Zivilgerichtshofs, der es den Einzelnen möglich machen würde, ökonomische und soziale Rechte gegen Staaten und internationale Unternehmungen unabhängig von individueller Staatsbürgerschaft durchzusetzen. Entwicklungen dieser Art setzen eine Stärkung der „internationalen Zivilgesellschaft“ voraus, d.h. staats- und unternehmensunabhängiger Organisationen, die es schaffen, nicht repräsentierte Interessen zur Geltung zu bringen, Öffentlichkeit herzustellen und wirksame Kontrollmechanismen zu installieren. Die Auseinandersetzungen mit internationalen Organisationen und politischen Entscheidungszentren seit der WTO-Konferenz in Seattle, wo sich eine recht gut funktionierende Zusammenarbeit von Basisorganisationen, Gewerkschaften und professionalisierteren Nichtregierungsorganisationen entwickeln konnte, haben in diese Richtung gezielt. Mit dem G8 – Gipfel in Heiligendamm steht eine weitere und wichtige Auseinandersetzung auf diesem Feld an. (3) Voraussetzung sowohl veränderter Produktions-, Arbeits- und Lebensformen wie auch realer Demokratisierung wäre schließlich eine entschiedene ökonomische und politische Dezentralisierung, in gewissem Sinne also eine „Entglobalisierung“ oder genauer: eine Globalisierung von unten. Dies heißt nicht Abschottung und Autarkie, sondern die Schaffung einer föderalen Ordnung, die eine grundsätzliche Offenheit der Grenzen einschließt. Eine konsequente Realisierung des Subsidiaritätsprinzips ist nicht nur deshalb notwendig, weil demokratische Prozesse auf den Ebenen ansetzen müssen, die die Menschen unmittelbar übersehen können, sondern weil nur auf diesem Wege eine nachhaltige Ökonomie entwickelt werden könnte. Veränderungsprozesse auf diesen verschiedenen Ebenen bedingen sich gegenseitig. Demokratisierung auf lokaler, regionaler und einzelstaatlicher Ebene und eine Entwicklung, die den Prinzipien des radikalen Reformismus folgt, wäre ihre entscheidende Grundlage. Die demokratische Ordnung, die daraus entstehen könnte, würde sich von der herkömmlichen einzelstaatlichen Liberaldemokratie wesentlich unterscheiden und hätte zweifellos nicht deren institutionelle Kohärenz. Die staatliche politische Form würde darin vorerst nicht verschwinden. Denn zumindest solange kapitalistische Verhältnisse bestehen, bleibt eine demokratisch legitimierte zentralisierte Zwangsgewalt notwendig für die Garantie politischer und sozialer Rechte und zur Ermöglichung materieller Umverteilungsmaßnahmen. Nicht zuletzt ist eine Neugestaltung der sozialen Sicherung, die allen Menschen unabhängig von der Lohnarbeit ein würdiges Leben und soziale Teilhabe garantiert, eine entscheidende Vorbedingung jedes Demokratisierungsprozesses (vgl. dazu www.links-netz.de). Wie schon eingangs erwähnt, kann die bestehende staatliche Herrschaftsapparatur nicht beseitigt werden, solange kapitalistische Produktionsverhältnisse die Welt beherrschen. Deren Überwindung ist zweifellos nur in einem langen und konfliktreichen Prozess möglich. Sie kann allerdings demokratischer werden, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse emanzipativ verändern. In einer derartigen Entwicklung könnte das staatliche System einen durchaus anderen Charakter und eine andere institutionelle Konfiguration annehmen. Die bestehende Form der Trennung von „Staat“ und „Gesellschaft“ ebenso wie der Charakter des „Gewaltmonopols“ sind nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Der Ausgang eines solchen Prozesses einschließlich der damit verbundenen Kapitalismusfrage ist offen. Eine demokratische Internationalisierung des Staates nach föderativen Prinzipien ist immerhin denkbar.

In und gegen den Staat

Dies alles klingt natürlich einigermaßen abstrakt und programmatisch. Nun werden allerdings die konkreten Dimensionen einer gesellschaftsverändernden Politik nicht am Schreibtisch erfunden, sondern ergeben sich aus praktischen Auseinandersetzungen und Kämpfen und den damit verbundenen Lernprozessen. Es bleibt also die Frage, welche Kräfte derartige Prozesse vorantreiben können. In dieser Hinsicht sieht es angesichts linker Orientierungsprobleme und der relativen Schwäche emanzipativer sozialer Bewegungen derzeit nicht besonders gut aus. Freilich ist das Bild auch nicht ganz so düster. In den letzten Jahren hat sich eine internationale, sich als globalisierungskritisch bezeichnende Bewegung herausgebildet, die durchaus gewisse Erfolge verbuchen konnte. Sie ist - natürlich - sowohl organisatorisch als auch thematisch höchst vielgestaltig und nur locker verbunden. Und es ist nicht zu verkennen, dass die unter dem Etikett „globalisierungskritisch“ versammelten Interessen unterschiedlich und durchaus auch gegensätzlich sind. Die Entwicklung eines internationalen Bewegungsnetzwerks eröffnet aber immerhin die Chance, Interessengemeinsamkeiten übe staatliche und gesellschaftliche Grenzen hinweg herauszufinden und aus den notwendigen Auseinandersetzungen heraus neue politische Formen und Inhalte zu entwickeln. Wenn es gelänge, diese internationale Bewegung als politische und soziale, d.h. auf konkrete Gesellschaftsveränderung zielende zu entwickeln und zu stärken, bestünde vielleicht die Chance, dem derzeit weltweit herrschenden gesellschaftlichen und politischen Katastrophenprogramm Einhalt zu gebieten. Der Kampf gegen die neoliberale Hegemonie, um den es vor allem geht, findet im Wesentlichen auf dieser Ebene statt. Was dabei die Staatsfrage angeht, so ist es vielleicht an der Zeit, den abstrakten Gegensatz von Staatsillusion und Staatskritik zu überwinden, der sich auch in den verschiedenen Spektren der Bewegung findet. De facto geht es, um noch einmal einen Satz von John Holloway zu zitieren, um Kämpfe sowohl im als auch gegen den Staat. Der Staat bleibt als Kampfterrain wichtig, auch und gerade dann, wenn es darum geht, ihn – als Form kapitalistischer Herrschaft – zu überwinden. Einige Bewegungen in der kapitalistischen Peripherie wie etwa die mexikanischen Zapatistas oder die brasilianischen Landlosen sind da der metropolitanen Traditionslinken sowohl theoretisch als auch praktisch immerhin schon ein ganzes Stück voraus.